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© CDC / unsplash.com

04.06.2020 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Micaela Kassen

„Mama, du bist so vergesslich geworden!“

7 Tipps für den Umgang mit der Diagnose „Demenz“.

Die eigene Mutter wird vergesslich und verlegt ständig ihr Portemonnaie. Die Oma wirkt oft orientierungslos oder kann sich den Namen ihres Enkelkindes nicht merken. Sie scheint nicht mehr in der Lage zu sein, gut überlegte Entscheidungen treffen zu können. Der Großvater kann Geschichten im Detail erzählen, die vor 20 Jahren passiert sind, weiß aber nicht mehr, was er vor fünf Minuten gesagt hat. Und dann stellt der Arzt die Diagnose Demenz. Wie geht man als Angehörige mit dieser niederschmetternden Diagnose um?

Was ist Demenz?

Mit Demenz beschreibt man „eine anhaltende oder fortschreitende Beeinträchtigung des Gedächtnisses, des Denkens oder anderer Hirnleistungen“.1 Betroffene verlieren ihre intellektuellen Fähigkeiten, „in einem solchen Maße, dass die sozialen und beruflichen Fähigkeiten erheblich eingeschränkt sind“.2
 

Hier kommen 7 Tipps für den Umgang als Angehöriger mit der Diagnose „Demenz“.

1. Sich über Demenz informieren

„Ich wünschte, ich hätte es früher gewusst!“ – bei der Krankheit „Demenz“ gibt es unterschiedliche Formen und viele komplexe Zusammenhänge, die für den Laien erst einmal schwer einzuschätzen sind. Außerdem ist jeder Patient einzigartig, Symptome können ganz unterschiedlich ausgeprägt sein.

Wer sich frühzeitig informiert, fühlt sich nicht so hilflos und überfordert wie jemand, der die typischen Symptome demenzkranker Menschen nicht einzuschätzen vermag. Ich kann damit unnötigen Frustrationen vorbeugen. Ich fühle mich vorbereitet und weiß, was eventuell auf mich zukommt. Ich kann damit rechnen, dass die Person Probleme mit der Orientierung, dem Gedächtnis, ihren allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten oder dem Urteilsvermögen hat.3 Dass Gefühle nicht mehr so klar ausgedrückt werden. Ich kann mich darüber informieren, welche Form von Demenz mein Verwandter hat und welche Ausprägungen bei dieser Form typisch sind.

2. Wertschätzung entgegenbringen

„Was du sagst, stimmt nicht!“, „Was du glaubst, ist an den Haaren herbeigezogen!“ oder „Das ist einfach verrückt!“ – wie leicht kommen mir solche Worte über die Lippen, wenn ich mich durch den erkrankten Menschen zu Unrecht angeklagt fühle oder die Aussagen, die ich von meinem betroffenen Angehörigen höre, jeglicher logischen Grundlage entbehren. Plötzlich scheint die Mutter oder Oma sauer geworden zu sein – wegen Dingen, die nicht wahr sind oder sie sich einzubilden scheint.

Wenn ich weiß, dass es zu dem Krankheitsbild eines dementen Menschen gehört, dass die Hirnleistung abnimmt, Betroffene mit Zornausbrüchen zu kämpfen haben oder Wahnvorstellungen bekommen können, kann es mir helfen, geduldiger zu sein.

Es ist nicht selten, dass die Betroffenen selbst frustriert über ihre Krankheit sind, weil sie sich als Last empfinden und sich hilflos fühlen. Der Person hilft es, wenn ich ihr mit Wertschätzung gegenübertrete und ihr vermittle: Es ist okay, dass du Hilfe brauchst. Jeder braucht einmal Hilfe. Ich helfe dir gerne.

Übrigens: Depressionen als Begleiterscheinung von Demenz sind typisch. Umso wichtiger ist es, der Person zugewandt zu sein und Stimmungsschwankungen gelassen zu begegnen.

3. In die emotionale Realität einsteigen

„Die Putzfrau hat mir Geld geklaut!“ – Sätze dieser Art kommen bei Demenzkranken nicht selten vor. Sie fühlen sich schnell verunsichert, weil sie wichtige Dinge wie Geld oder den Personalausweis nicht mehr wiederfinden.

Auch wenn die Anschuldigungen nicht der Realität entsprechen: Für den Betroffenen fühlt sich die Bedrohung in dem Moment sehr real an. Ich sollte der Person also Zeit lassen, ihre Vorstellung zu erklären und sie nicht gleich für verrückt erklären. Daraufhin sollte ich mit ihr über eine naheliegendere Lösung sprechen, aber ihre Wahrnehmung nicht gleich verurteilen, indem ich z.B. sage: „Du bildest dir bloß etwas ein!“

Es ist wichtig dafür zu sorgen, dass der Demenzerkrankte sich nicht beschämt fühlt. Ich muss mir dessen bewusst sein, dass die Person, die vor mir ist, vielleicht nichts anderes hat als ihre emotionale Realität. Diese darf ich ihr nicht noch nehmen.

Diese ist es nämlich, die ihr noch etwas Sicherheit gibt. Ich kann fatalen emotionalen Schaden anrichten, wenn ich der Person einfach nur zeige, dass ihre Vorstellung verrückt ist und nicht auf sie eingehe. Ich könnte dann beispielsweise antworten: „Ja, es kann sein, dass es dir geklaut wurde. Vielleicht hast du es aber auch verlegt. Ich helfe dir suchen…“

4. Nicht jede Arbeit abnehmen

Die Rauchmelder gehen an. Ein Nachbar verhindert Schlimmeres. An einem Tag setzt die Oma fast die Küche in Brand und beschließt: „Ich koche nicht mehr!“ Am nächsten Tag steht sie trotzdem wieder am Herd und merkt nicht, dass schon wieder etwas angebrannt ist und sie vor Rauch eigentlich auch nichts mehr sehen kann. Ein echtes Horrorszenario, das für Angehörige sehr belastend sein kann.

Als Angehöriger neige ich deswegen vielleicht dazu, dem geliebten Menschen zu viel helfen zu wollen und zu viel Arbeit abzunehmen. Das kann jedoch dazu führen, dass die Person sich nutzlos oder wertlos fühlt.

Es gilt also eine gute Balance zu finden – zwischen Verantwortung abzunehmen und trotzdem ein Maß an Selbstständigkeit zu ermöglichen.

Hierbei ist es wichtig, der Person zu helfen, das zu tun, woran sie Spaß hat. Ein Mensch, der an Demenz erkrankt ist, möchte auch etwas „machen“ und nicht nur den ganzen Tag vor dem Fernseher hocken.

Als Angehöriger kann man sich fragen: Gibt es ein Hobby, bei der ich der Person helfen kann? Ist es zum Beispiel die Gartenarbeit oder etwas Kreatives? Was ist der Person wichtig und welche Arbeit findet sie sinnvoll? Anstatt alles zu verbieten, kann ich sie bei bestimmten Tätigkeiten einfach begleiten.

5. Versuchen, nichts persönlich nehmen

Gerade wurde ich noch rüde rausgeschmissen, aber als ich wiederkomme, weiß die Person nichts mehr von ihrem Zornausbruch und ich werde plötzlich als der liebste Mensch der Welt begrüßt. Gefühlsschwankungen sind bei Demenzkranken keine Seltenheit. Aus diesem Grund sollte ich versuchen, nichts persönlich zu nehmen, was die Person mir mal an den Kopf wirft.

Allerdings: Auch ich als Angehöriger bin nur ein Mensch. Manche Worte und Sätze sind einfach verletzend, auch wenn ich rein „logisch“ weiß, dass es die Demenz ist, die aus meinem Gegenüber spricht. Unterdrücke ich diese negativen Gefühle, kann es sein, dass ich immer bitterer werde und in einem stressigen Moment doch meinen Frust an dem Betroffenen auslasse. Besser ist es, die Gefühle an Wut und Traurigkeit immer wieder bewusst zuzulassen und zum Beispiel im Gebet vor Gott zu bringen.

Schließlich bedeutet die Demenz auch: Ich muss mich langsam von meinem Angehörigen verabschieden – das darf auch mal gehörig weh tun und mich Tränen kosten. Wenn ich mir selbst den Raum gebe, bewusst meine Gefühle zu verarbeiten, bleibe ich auf Dauer psychisch stabiler, als wenn ich sie ständig beiseite schiebe. Hier kann übrigens die Unterstützung durch eine Selbsthilfegruppe oder einen Seelsorger ratsam sein.

6. Ich akzeptiere meine eigenen Grenzen

Die harte Wahrheit ist: Einen Menschen zu pflegen ist ein 24/7-Job, der jeden Angehörigen an seine Grenzen führt. Dazu kommt der manchmal undurchschaubare Dschungel an Bürokratie, den eine Demenzerkrankung mit sich bringt: Angefangen von der Betreuung von Bankkonten bis hin zur Pflegestufenbeantragung. Das kann mir schnell über den Kopf wachsen.

Deswegen ist der wichtigste Job, den ich als pflegender Angehöriger habe, für meine eigene Gesundheit zu sorgen: sowohl psychisch, körperlich als auch seelisch.

Denn nur wenn ich gesund bin, kann ich den betroffenen Menschen langfristig das geben, was er oder sie braucht. Wenn ich mich selbst bei der Pflege so verausgabe, dass ich z.B. keine ruhige Nacht mehr habe, werde ich auf Dauer krank werden. Außerdem überträgt sich meine Stimmung schnell auf den Pflegebedürftigen: auch wenn die Person nicht versteht, warum ich gestresst bin, spürt sie die negative Stimmung und reagiert möglicherweise verunsichert oder aggressiv.

Es hilft hier, regelmäßig das ehrliche Gespräch mit Partner, Familie oder Freunden zu suchen, um mich selbst zu reflektieren: Wie geht es mir gerade? Kann ich die aktuelle Belastung noch stemmen oder bin ich eigentlich schon am Ende meiner Kräfte? Sollte ich mir ggf. mehr Unterstützung holen – und wie könnte das praktisch aussehen? Reicht zum Beispiel ein Pflegeurlaub, damit ich mich für einige Wochen erholen kann, oder braucht der Betroffene dauerhaft mehr Pflege, als ich leisten kann?

7. Hilfe von außen suchen

Es kann auch sehr schön sein, wenn man als Angehöriger einer demenzkranken Person hilft und erleben kann, wie sie trotz ihrer Krankheit noch gut in ihrem Zuhause wohnen und glückliche Momente verbringen kann. Wichtig ist jedoch: Ich darf mich nicht selbst vergessen. Ich brauche Auszeiten. Ich muss Menschen suchen, die mir Arbeit abnehmen können, wenn ich einmal nicht kann. Ich brauche auch Zeit für meine eigene Familie, meine Arbeit und mein Hobby.

Viele pflegende Angehörige tun sich schwer, den Schritt in eine Tagesbetreuung oder ganz ins Pflegeheim zu gehen und warten damit, bis sie völlig erschöpft sind. In Anbetracht der oft langen Wartezeiten wäre es allerdings ratsamer, schon bei den ersten Anzeichen von Überforderung und Erschöpfung das Thema anzustoßen.

Auch wenn ich erst einmal Schuldgefühle dabei habe: unterm Strich tue ich sowohl mir als auch meinem Angehörigen einen Gefallen, wenn ich in Ruhe nach einer guten Pflegemöglichkeit suche, anstatt mich selbst langfristig zu überfordern.

Fazit

Wer einen demenzerkrankten Angehörigen pflegt, macht ihm damit ein unbezahlbares Geschenk. Zu pflegen bedeutet, einem Menschen einen würdigen letzten Lebensabschnitt zu ermöglichen – und das, ohne viel Anerkennung und positives Feedback erwarten zu dürfen.

Doch gerade weil es sich um so eine große Aufgabe handelt, darf ich mir ehrlich überlegen, wie ich sie für mich und meine Familie am besten gestalten kann. Was ist machbar? Was ist mir zu viel und sollte besser von Fachpersonal übernommen werden? Wer sind die Menschen in meinem Umfeld, die mir helfen, seelisch mit dieser belastenden Situation umzugehen? Und was sind die Kraftquellen, die ich in dieser Zeit brauche, zum Beispiel für meinen Glauben?

Letztendlich ist Pflege eine Reise ins Ungewisse. Doch auch da darf ich wissen: ich bin nicht allein. Gott kennt und liebt jeden Menschen – auch die mit Demenz. Und wo meine Hilfe versagt, ist Gott noch lange nicht am Ende. Ich darf ihm getrost meine Sorgen und Nöte bringen.

 

[1] https://www.netdoktor.de/krankheiten/demenz/ (Zugriff: 03.06.2020)

[2] Dieterich, Michael, Handbuch Psychologie & Seelsorge, 1989, 7. Auflage Witten 2012, 336.

[3] Dieterich, Michael, Handbuch Psychologie & Seelsorge, 1989, 7. Auflage Witten 2012, 337.

 Micaela Kassen

Micaela Kassen

  |  Freie Mitarbeiterin

Die gelernte Theologin studiert derzeit Psychologie und ist auf Kinder- und Jugendpsychologie spezialisiert. Sie hat als Lerntherapeutin gearbeitet und ist aktuell als Sozialarbeiterin in einer intensiv-pädagogischen Einrichtung tätig. Redaktionell setzt sie ihre Schwerpunkte auf die psychische Gesundheit und Kindererziehung. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.

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Kommentare (2)

Ulrike /

Sehr guter Artikel, sowohl fachlich als auch empathisch. Danke!

Gertrud-Linde W. /

Danke für diese erste Einstiegshilfe

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