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© Lili Kovac / unsplash.com

15.10.2022 / Porträt / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Sarah-Melissa Loewen

Von Selbsthass zerfressen

Ulrike Woithe fühlt sich minderwertig und hasst sich selbst. Bis am Tiefpunkt ihres Lebens ein Gebet alles verändert.

Sie liebt ihre Meerschweinchen, kleine Blumen am Wegesrand, Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch das Laub der Bäume bahnen. Und die Bank im Garten ihres Bekannten, auf der sie am Nachmittag bei einem Stück Kuchen und freundschaftlichen Gesprächen auftanken kann. Es sind die kleinen Dinge, die das Leben für Ulrike Woithe schön und kostbar machen. Aber das war nicht immer so. Viele Jahre lang hat sie das Leben gehasst – und vor allem sich selbst.

„Ich wollte ein normales Kind sein“

Ulrike wird geboren mit Spina bifida, einer Fehlbildung des Neuralrohrs, auch bekannt als ‚offener Rücken‘. Schon in ihrer frühen Kindheit ist sie auf Gehhilfen angewiesen. Ulrike ist frustriert darüber, dass sie nicht spielen und laufen kann, wie es die anderen Kinder können.

Der Frust steigert sich in rasende Wut, sobald ihr jemand Hilfe anbietet. Dann schreit Ulrike nur noch und schlägt um sich, denn sie will wie die anderen Kinder behandelt werden. Ermutigung und Geduld wird ihr in ihrem Umfeld nur wenig entgegengebracht: „Viele Menschen haben gesagt: Du bringst das nicht, du kannst das nicht, das brauchst du gar nicht erst versuchen. Lass mal, ich mache das, das geht schneller.“

Ulrike fühlt sich ständig fehl am Platz und unnütz. Das führt schließlich dazu, dass sie sich selbst immer mehr ablehnt: „Ich war auch mit mir selbst wahnsinnig ungeduldig und habe mir selbst eingeredet: Du bist zu blöd dazu, dich braucht keiner, du bist nicht gut genug, also kann ich auch sterben. So habe ich damals gedacht.“

Abwärtsspirale

In ihrer Jugend wird die eigene Ablehnung immer größer, nimmt ihr jede Freude und Zukunftsperspektive. Ulrike glaubt, ein glückliches Leben erwartet nur die anderen: „Diese innere Ablehnung hat mich total blockiert. Ich konnte mich auf gar nichts mehr einlassen. Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich darf das nicht, mir steht das nicht zu.“

Ulrike versucht ihre Traurigkeit irgendwie zu ersticken, Enttäuschungen schluckt sie immer wieder runter, den Frust frisst sie buchstäblich in sich hinein. Sie leidet unter Fressattacken und nährt damit immer weiter ihren Selbsthass – ein Teufelskreis. Durch das zunehmende Körpergewicht wird sie immer unbeweglicher und muss ihre Gehilfen schließlich gegen einen Rollstuhl eintauschen.

Diese innere Ablehnung hat mich total blockiert. Ich konnte mich auf gar nichts mehr einlassen. Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich darf das nicht, mir steht das nicht zu.

Das Leben schlägt zu

Doch es ist nicht nur der Selbsthass, der in ihr wuchert. Mit 32 Jahren erkrankt Ulrike an Brustkrebs und ihre Brust muss abgenommen werden. Das reißt Ulrike den Boden unter den Füßen weg – buchstäblich. Denn kurz darauf entdeckt ihre Fußpflegerin eine entzündete Wunde an ihrem linken Fuß, die unbedingt behandelt werden muss. Doch Ulrike ignoriert den Rat.

Die Krebsbehandlung nimmt Ulrike voll und ganz ein, fordert ihre ganze Kraft, sodass sie die Schmerzen im Fuß einfach verdrängt. Daraufhin entwickelt sich eine Nekrose, die den Mittelfußknochen zerfrisst. Schließlich werden die Schmerzen so stark, dass Ulrike in die Notaufnahme gebracht wird. Die Ärzte können eine Blutvergiftung noch verhindern, aber der Fuß lässt sich nicht mehr retten und muss amputiert werden.

Ich dachte, ich müsste sterben vor Schmerzen, vor Wut und Hass und der Krebs wäre nun mein Todesurteil.

Brustkrebs, amputierter Fuß – Ulrike ist verzweifelt und völlig verbittert: „Zu diesem Zeitpunkt habe ich meinen Körper gehasst. Es fehlte etwas, ich fühlte mich nicht mehr vollständig. Und ich habe mich für mein Verhalten gehasst. Die Sache mit dem Fuß hätte ich ja verhindern können. Ich dachte, ich müsste sterben vor Schmerzen, vor Wut und Hass und der Krebs wäre nun mein Todesurteil.“

Am Tiefpunkt

Ulrike lebt im betreuten Wohnen. Während der Alltag für ihre Mitbewohner wie gewohnt weitergeht, muss sie zu Hause bleiben, sich von den Operationen erholen. Durch die Chemotherapie fühlt sie sich elend, ist dünnhäutig und schnell gereizt. Sie ist nur noch wütend und verzweifelt über ihr Schicksal.

In dieser Situation lernt sie Manuel zum ersten Mal kennen. Manuel reinigt die Wohnung, immer mittwochvormittags, wenn sie normalerweise auf der Arbeit ist. „Immer wenn er kam, war das erste, was er gemacht hat: Handy auf den Tisch, Lobpreismusik an. Dann hat er Verse aus der Bibel zitiert und die ganze Zeit fröhlich über Jesus gequatscht“, erzählt Ulrike.

Lobpreismusik, Bibelverse und Manuels Optimismus – das passt Ulrike überhaupt nicht, alles in ihr bäumt sich dagegen auf: „Ich habe ihn innerlich erwürgt und in Stücke gerissen! Mit meinen Blicken habe ihm so richtig meinen Hass entgegen gesprüht. Ich habe mich ihm mit meinem Rollstuhl gerne in den Weg gestellt, da wo er gerade wischen wollte. Damit habe ich versucht, seine Musik und seine Bibelverse zu boykottieren. Das ging über Wochen so.“

An diesem Vormittag war ich eigentlich schon mit allem durch. (...) Ich habe wieder gedacht, am besten wäre es, wenn ich einfach sterbe, dann bin ich alle meine Probleme los und es wäre endlich alles gut.

Doch es bringt nichts. Es ist wieder Mittwoch und Manuel wischt und singt unbeirrt wie immer. Ulrike erinnert sich: „An diesem Vormittag war ich eigentlich schon mit allem durch. Ich habe die Krebserkrankung verflucht, ich habe die Chemotherapie verflucht, ich habe die Bestrahlung verflucht. Ich habe wieder gedacht, am besten wäre es, wenn ich einfach sterbe, dann bin ich alle meine Probleme los und es wäre endlich alles gut.“

Dieses Mal stellt sich Ulrike Manuel nicht in den Weg. Sie zieht sich in ihr Zimmer zurück. Als Manuel mit seiner Arbeit fertig ist und sich bei ihr verabschieden will, brechen bei Ulrike alle Dämme. Sie weint sich ihren ganzen Schmerz, ihre ganze Verzweiflung von der Seele. Wie schon öfters, bietet Manuel ihr wieder an, für sie zu beten. Diesmal sagt Ulrike aus tiefster Seele ja.

Ein Gebet, das alles verändert

Ulrike Woithe und Manuel (Foto: privat)
Ulrike Woithe und Manuel (Foto: privat)

Manuel betet für Ulrike und bittet Gott um Beistand, ihr den Schmerz zu nehmen, Kraft zu geben. Während er betet, beginnt Ulrike unkontrolliert zu zittern, als wäre es eiskalt im Zimmer. Sie sagt „Gott hilf mir“ und kommt in Atemnot. Sie hustet und denkt, sie müsse sich übergeben. Doch stattdessen entweicht durch den Mund irgendwas aus ihr, wie sie beschreibt.

Auf einmal fühlt sie sich komplett leer: „Dieser ganze angestaute Ballast von Selbstzweifel, Selbsthass, Selbstmordgedanken, dieser ganze negative Mist war auf einmal weg. Ich hatte von jetzt auf gleich kein bedrückendes Gefühl mehr in der Brust. Auf einmal habe ich mich ganz leicht gefühlt, als hätte ich einen überladenen Rucksack endlich abgestellt. Dann hat Manuel nochmal für mich gebetet. Und auf einmal war da ein ganz warmes, wohliges Gefühl. Wie eine innere Umarmung.“

Ulrike kann sich nicht erklären, was gerade passiert ist, doch die schwere Atmosphäre ist verschwunden und im Zimmer scheint es heller zu sein.

Erneuerung

Seit diesem Erlebnis beten Ulrike und Manuel immer wieder zusammen und sprechen über Bibelverse. Manuel lädt Ulrike ein, mit in seine Kirchengemeinde zu kommen. Ulrike erinnert sich: „Ich komme dort an und bin wieder die Einzige, die im Rollstuhl sitzt. Aber dort hat mich niemand darauf angesprochen oder mich deswegen anders behandelt. Die Menschen haben mich willkommen geheißen und wollten mich kennen lernen. Es war einfach unbegreiflich für mich, dass sie mich sehen. Nicht nur meinen Rollstuhl, meine Behinderung, sondern mich. Ich fühle mich dort echt zu Hause. Sie fragen mich, wie mein Tag war, wie es mir geht. Sie fragen mich, ob ich Aufgaben übernehmen kann. Das kenne ich von früher kaum, dass man mich in Situationen und Aufgaben mit einbezieht und sagt: Hey, Uli, komm ran.“

Ich muss mich nicht mehr selbst hassen und wütend um mich schlagen. Sondern ich kann all das Negative zu Jesus bringen. Dann ebbt die Wut langsam ab, die Verzweiflung lässt nach.

Nicht nur die Freundlichkeit und Anteilnahme der Menschen berühren Ulrike. Auch die sonntäglichen Gottesdienste bewegen sie: „Während der ersten Gottesdienste habe ich immer geheult. Weil ich entweder einen Punkt gefunden habe, der unbegreiflich schön für mich war oder total schlimm, weil ich mich erwischt gefühlt habe.

Aber diese wunden Punkte sind für mich inzwischen positive Wegweiser, weil ich erkannt habe: Okay, es geht auch in eine andere Richtung weiter. Ich muss mich nicht mehr selbst hassen und wütend um mich schlagen. Sondern ich kann all das Negative zu Jesus bringen. Dann ebbt die Wut langsam ab, die Verzweiflung lässt nach.“

Rückhalt trotz Rückschlag

Die äußeren Umstände bleiben allerdings herausfordernd: Ulrike kämpft zum zweiten Mal gegen den Krebs, der sich in ihrem Körper wieder ausgebreitet hat. Doch dieses Mal fühlt sie sich nicht ohnmächtig ihrem Schicksal ausgeliefert. Heute kann sie sich der Situation ganz anders stellen: „In den Momenten, in denen ich mit mir selbst und meinem Leben am Hadern bin, überkommt mich oft das Gefühl, da steht jemand hinter mir und legt seine Hände auf meine Schultern oder umarmt mich. Das spüre ich dann richtig körperlich. Das ist ganz wunderbar und unbeschreiblich. Und dann weiß ich genau, ich bin nicht alleine. Jesus ist bei mir. Durch ihn kann ich meine Krankheit ertragen.“

Glaubenskampf

Trotzdem ist es jeden Tag ein Kampf an ihrem Glauben festzuhalten. Sie deutet ihre Krankheit als Angriff: „Da will mich jemand von Jesus wegzerren, mir meine Beziehung zu ihm kaputt machen. Aber ich kann mich entscheiden, wie ich reagiere, ob ich wieder in meinen Selbsthass und meine Wut verfalle, oder ob ich weiter an Gott festhalte. Das ist meine persönliche Challenge. Ohne ihn weiterzumachen, das ist gar keine Option für mich. Durch seine Nähe und die Gemeinde geht es mir mental viel besser. Jesus ist mein Fels in der Brandung.“

Aber ich kann mich entscheiden, wie ich reagiere, ob ich wieder in meinen Selbsthass und meine Wut verfalle, oder ob ich weiter an Gott festhalte. Das ist meine persönliche Challenge.

Doch die Brandung ist rau, immer wieder bricht Angst und Verzweiflung wie eine schäumende Flutwelle über Ulrike zusammen. Immer dann, wenn sie daran zweifelt, dass Gott sie liebt und es gut mit ihr meint, hört sie ganz laut Lobpreismusik. Sie versucht sich auf das zu konzentrieren, was sie dort hört, auf die Zusagen und Versprechen, die Gott ihr auf diese Weise zuspricht. Wenn sie selbst gerade nicht beten kann, besten Freunden aus der Gemeinde für sie, das gibt ihr Kraft und Mut.

Ist Gott ungerecht?

Ulrike hat viel Leid in ihrem Leben erlebt, ist von einem Tiefpunkt in den nächsten getaumelt. Seit ihrer Kindheit leidet sie unter ihrer Behinderung und unter Krankheit. Fühlt sie sich nicht ungerecht behandelt von Gott? Ulrike sagt: „Ich mache Gott keine Vorwürfe für meine Situation. Ich weiß genau, dass er dafür nicht verantwortlich ist. Trotzdem fühle ich mich manchmal vielleicht etwas vernachlässigt. Aber dann erinnern mich meine Freunde aus der Gemeinde daran, dass Gott trotzdem nah bei mir ist. Und ich sehe ihn ja vor meinem geistigen Auge, ich spüre ihn ja! Ich weiß, auch für mich gilt Psalm 139: Denn du hast meine Nieren gebildet; du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir dafür, dass ich erstaunlich und wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und meine Seele erkennt das wohl!

Wenn sie zurückblickt, kann Ulrike nur staunen. Jesus hat in ihr so vieles verändert und so vieles heil gemacht. Manchmal erkennt sie sich selbst nicht wieder. Sie ist dankbar für ihren positiven Blick auf das Leben, für die neue Familie, die sie in der Gemeinde gefunden hat. Und sie ist erleichtert. Erleichtert von der Bürde, sich selbst zu hassen. Denn sie hat erkannt: Sie ist wertvoll, gewollt und geliebt.
 

 Sarah-Melissa Loewen

Sarah-Melissa Loewen

  |  Redakteurin

Sie hat Literatur- und Kulturwissenschaften studiert und war schon immer von guten Geschichten in Buch und Film begeistert. Doch sie findet, die besten Geschichten schreibt Gott im Leben von Menschen. Als Redakteurin erzählt sie diese inspirierenden Lebens- und Glaubensgeschichten. Sie lebt mit ihrem Mann in der schönsten Stadt am Rhein.

Ihr Kommentar

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Kommentare (3)

Detlev M. /

Diese Geschicht hat mich sehr berührt. Ich habe gespürt, das ist ja irgendwie auch meine Geschichte. Wir sind keine verlorenen Menschen, Gott hält uns.
Das ist unglaublich wertvoll und Mut machend.
Darf ich diese Geschichte in einer meiner Predigten verwenden?

Christine D. /

Liebe Ulrike Woithe, lieber Manuel und liebe Sarah-Melissa Loewen,
herzlichen Dank für das Mitteilen dieses Beitrags !
Ich lese sehr gerne Lebensgeschichten. Doch wenn mir solche Geschichten, die mehr

Irmela /

Vielen Dank für diese extrem ermutigende Geschichte!

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