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© Tiago Muraro / unsplash.com

19.03.2024 / Interview / Lesezeit: ~ 13 min

Autor/-in: Sarah-Melissa Loewen

Mit dem Vergessen leben lernen

Ingrid Schreiner berichtet über das Leben mit ihren demenzkranken Eltern.

Die Vergesslichkeit nimmt zu, der Alltag gerät durcheinander und vieles, was bislang selbstverständlich war, gelingt nicht mehr. Bei einer fortschreitenden Demenz sind Erkrankte zunehmend auf Unterstützung von außen angewiesen. Die Krankheit fordert das ganze Umfeld heraus – sowohl praktisch als auch emotional. Was bedeutet es, wenn Eltern und erwachsene Kinder die Rollen tauschen? Wie gestaltet man Familienleben, wenn das Vergessen immer mehr Raum einnimmt?

Die Eltern von Ingrid Schreiner erkrankten vor über zehn Jahren zeitgleich an Demenz. Das stellte sie vor große Herausforderungen und läutete einen langen Prozess des Abschiednehmens ein. Im Interview berichtet Ingrid Schreiner über extreme Gefühle, den Verlust von Heimat und ihren Konflikt zwischen Verantwortungsbewusstsein und Selbstfürsorge.
 

ERF: Woran haben Sie die demenzielle Veränderung Ihrer Eltern zuerst bemerkt?

Ingrid Schreiner: Meine Mutter war ein extrovertierter Typ und hat sich im Alltag einfach um vieles gekümmert und Erledigungen und Besorgungen gemacht. Als sie immer wieder Termine vergaß und Dinge, die man besprochen hatte, nicht mehr wusste, waren das erste Anzeichen. Meine Mutter hat das auch selbst deutlich wahrgenommen und sehr darunter gelitten, schon ganz am Anfang. Gleichzeitig hat sie versucht es zu leugnen, als sei es gar nicht so schlimm.

Bei meinem Vater konnte ich es erstmal nicht so ganz einordnen, weil er eher stiller war. Er war viel für sich, hat viel gelesen, viel geschrieben und bei ihm hat sich die Demenz ganz anders entwickelt, mehr ins stille Verhalten hinein.

Außerdem war er acht Jahre älter als meine Mutter und von daher war ich mir da erst nicht sicher. Denn es ist ja normal, dass das Gedächtnis im Alter schlechter wird und man manche Dinge nicht mehr so gut regeln kann.

Ich selbst wollte es zuerst auch nicht wahrhaben, aber ich habe es immer häufiger bei meinen Besuchen bemerkt und auch die Nachbarn haben mich darauf aufmerksam gemacht. Aber es verging fast ein Jahr, bis ich der Krankheit ins Auge gesehen habe.
 

ERF: Als die Diagnose Demenz dann feststand, wie sind Sie damit umgegangen?

Ingrid Schreiner: Da habe ich natürlich einen Schock gekriegt. Es hat mich sehr beschäftigt, weil meine Großmutter auch an Alzheimer gestorben war. Ich hatte viele schlaflose Nächte.

Aber gerade am Anfang gab es immer wieder auch Phasen, in denen meine Eltern mir ziemlich normal vorkamen und alles war wie immer. Da dachte ich: Das kann ja alles gar nicht sein. Und dann gab es wieder Situationen, in denen ihr Verhalten völlig verändert war.

Also einerseits konnte ich die Diagnose annehmen und akzeptieren, andererseits hatte ich immer wieder Phasen, wo ich es verleugnet und verdrängt habe.

Und ich habe mich natürlich informiert über diese Krankheit. Ich habe viel gelesen und mit dem Hausarzt meiner Eltern, dem Neurologen und dem Pflegedienst gesprochen. Dadurch habe ich unglaublich viel gelernt, Schritt für Schritt.

Zwischen Fürsorgepflicht und Schuldgefühlen

ERF: Welche Herausforderungen ergaben sich durch die Krankheit der Eltern in Ihrem Alltag?

Ingrid Schreiner: Viel Organisationsaufwand, denn ich habe versucht, die Arzttermine so zu vereinbaren, dass ich mitgehen konnte. Aber ich war berufstätig und wohnte zwei Stunden Fahrt entfernt. Ich hatte zwar relativ flexible Arbeitszeiten und konnte mir das gut einrichten, aber es war trotzdem ein großer Zeitaufwand. Mal abgesehen von dem psychischen Stress, den das bedeutete.

Es wurde immer notwendiger, meine Eltern im Alltag zu unterstützen und den Haushalt zu organisieren. Das fing damit an jemanden zu finden, der die Gartenarbeit für sie macht und Einkäufe erledigt. Aber das wollten meine Eltern nicht und haben jede Hilfe abgelehnt. Ich habe mir viele Gedanken gemacht und hatte Angst, dass sie vielleicht irgendwann das Haus anzünden oder sich verletzen.

Meine Mutter ist zum Beispiel noch lange Auto gefahren. Im Ort gab es keinen Laden und sie sind immer zusammen losgefahren. Aber ich wurde eines Tages von Nachbarn und Verwandten angesprochen, weil sie beobachtet hatten, wie meine Mutter beim Ausparken aus der Garage Dellen ins Auto fuhr.

Ich habe auch regelmäßig mit dem Hausarzt telefoniert und der hat mir irgendwann gesagt, dass meine Mutter nicht mehr Auto fahren sollte. Die Betreuungsvollmacht hat mich dazu ermächtigt, ihr das Auto schließlich wegzunehmen. Ich habe versucht ihr zu erklären, warum sie nicht mehr fahren kann, aber da habe ich gegen Wände gesprochen.

Als das Auto dann weg war, sind sie zu Fuß in den Nachbarort zum Einzukaufen gelaufen, weil sie es nicht zuließen, dass jemand vom Sozialdienst für sie einkauft. Da hatte ich dann schon richtig Angst um die beiden.
 

ERF: Sie haben eben den psychischen Stress angesprochen. Wie ging es Ihnen emotional mit der Situation?

Ingrid Schreiner: Meine Eltern hatten keinerlei Einsicht und das war für mich das Allerschlimmste. Ich hatte das Gefühl, immer gegen sie arbeiten zu müssen. Das war wirklich vertrackt. Ich hatte als einzige Tochter ja die Verantwortung und wollte gute Lösungen finden. Aber sie wollten immer alles anders haben. Da war es notwendig, manches hinter ihrem Rücken zu regeln, zum Beispiel das Auto zu verkaufen.

Gegen jede Einsicht und gegen ihren Willen agieren zu müssen, hat mich erschüttert.

Es war eine schwierige Gratwanderung, ihnen so weit es ging ihren eigenen Willen und Selbstbestimmung zu lassen. Aber irgendwann war der Punkt erreicht, wo ich dachte: Jetzt kann ich sie nicht mehr alleine lassen, weil sie ihr Leben nicht mehr bewältigen konnten. Ich habe einen Pflegedienst organisiert, der manche Dinge übernommen hat. Aber die hatten auch mit meinen Eltern zu kämpfen, weil sie das einfach nicht wollten. Das hat immer wieder Stress ausgelöst.

Ich habe gemerkt, ich stoße an die Grenzen meiner Kräfte. Einerseits zu wissen, was ich tun und entscheiden muss, und andererseits zu wissen, dass das wieder schwierig wird, war schwer. Dabei gegen jede Einsicht und gegen ihren Willen agieren zu müssen, hat mich erschüttert.

Abschied auf Raten

ERF: Irgendwann konnten Ihre Eltern nicht mehr allein leben und Sie mussten überlegen, was nun mit dem Elternhaus geschehen soll. Was hat das für Sie bedeutet?

Ingrid Schreiner: Mein Vater ist zu Hause gestürzt und musste ins Krankenhaus. Danach war er noch kurze Zeit im Pflegeheim und ist dann verstorben. Das war der Punkt, wo ich entschieden habe, dass auch meine Mutter nicht mehr allein zu Hause bleiben kann. Sie endgültig ins Pflegeheim zu bringen, war eine große Hürde.

Ich bin ab und zu zum Haus gefahren, um nach dem Rechten zu sehen und zu organisieren, dass sich jemand um den Rasen kümmert und so weiter. Es hat ungefähr ein Jahr gedauert, bis ich das Haus verkaufen konnte. Es war schnell klar, dass es in der Verwandtschaft bleibt. Das war die beste Lösung.

Das ganze Äußere zu organisieren war das eine, aber das andere war eben der innere Umgang damit. Das hat Zeit gebraucht und war ein Verarbeitungsprozess.

Denn mit dem Ausräumen und Entrümpeln begann auch eine Abschiedsphase, in der viele Erinnerungen hochkamen. Wir alle, meine Familie, die Verwandten und ich, haben dadurch viel verarbeitet und uns gegenseitig sehr unterstützt.

Es war wichtig, sich von dieser ganzen Atmosphäre zu verabschieden und von dem Ort, an dem auch meine Wurzeln sind. Ich habe sonst keine Anlaufstelle mehr außer den Friedhof. Aber es hat sich richtig angefühlt. Es war an der Zeit, dass sich jemand um Haus und Grundstück kümmert, denn meine Eltern konnten es ja nicht mehr. Es war gut zu wissen: Jetzt fängt dort eine neue Epoche an.

Was mich manchmal immer noch kalt erwischt, ist, dass meine Mutter immer noch nach Hause will. So verwirrt sie inzwischen auch ist und obwohl sie alles andere vergisst, dass sie eigentlich nach Hause will, vergisst sie nie. Sobald ich vor ihr stehe, fragt sie mich und ich muss mich immer rausreden. Manchmal erkläre ich es ihr und sage die Wahrheit, manchmal erfinde ich irgendetwas, je nach Situation und was sie gerade am besten annehmen kann.
 

ERF: Sie mussten sich nicht nur von Ihrem Elternhaus verabschieden, sondern auch von Ihren Eltern. Denn Demenz verändert die Persönlichkeit der Erkrankten. Wie war es für Sie, als Sie feststellten, das sind nicht mehr die Eltern, wie Sie sie kannten?

Ingrid Schreiner: Das war wie ein langsames Sterben und ein langsames Verabschieden von meinen Eltern und hat schon einen Trauerprozess eingeläutet, weil immer mehr von ihren Erinnerungen und ihrer Persönlichkeit verloren gegangen ist. Trotzdem waren sie natürlich noch die Eltern, wie sie ich sie kannte, und das blitzte immer wieder mal in den Verhaltensweisen auf.

Aber es ist schon fast gespenstisch, wie Persönlichkeiten sich durch die Demenz verändern können. Mein Vater hat sich immer weiter zurückgezogen und wurde immer stiller, aber meine Mutter wurde sehr aggressiv mir gegenüber. Ich habe mir dann zwar selbst gesagt, dass sie nicht anders kann und die Krankheit das mit ihr macht, trotzdem hat es mich zutiefst verletzt. Das war eine große Herausforderung.
 

ERF: Durch die Krankheit mussten Sie immer mehr Verantwortung und Fürsorge für Ihre Eltern übernehmen und haben in gewisser Weise die Rollen getauscht. Mussten Sie sich neu mit Ihrer Tochterrolle auseinandersetzen?

Ingrid Schreiner: Ja, das war etwas, was ich für mich klarkriegen wollte. Ich habe viel in der Familiengeschichte gekramt und mich zurückerinnert, wie es früher war. Ich war als Tochter oft gefragt, hauptsächlich als Gesprächspartnerin für meine Mutter, wenn es Schwierigkeiten gab.

Nun tun mir meine Eltern furchtbar leid, weil diese furchtbare Krankheit ihr Schicksal ist. Ich wollte und will sie darin so gut wie möglich begleiten. Und ich merke, meine Mutter braucht mich nach wie vor. Sie lebt jetzt in einem Pflegeheim in meiner Nähe, sodass ich oft bei ihr sein kann. Gleichzeitig muss ich immer wieder dafür sorgen, dass ich auch Abstand kriege und mein eigenes Leben nicht vergesse.

Selbstfürsorge statt Selbstaufopferung

ERF: Was hat Ihnen in diesem Prozess geholfen? Wie haben Sie innerlich diese Veränderungen verarbeitet?

Ingrid Schreiner: Gute Frage. Ich bin ja immer noch unterwegs damit. Es war für mich immer eine große Hilfe, mit anderen Betroffenen zu reden. Ich habe einen Kurs für pflegende Angehörige besucht und ein paar Mal eine Beratungsstelle aufgesucht. Ich habe auch therapeutische Hilfe in Anspruch genommen, um die Themen zu verarbeiten und Impulse von außen zu kriegen.

Auch Gespräche mit meinen Töchtern und mit Freundinnen haben mich getragen. Ihre tatkräftige Unterstützung ist eine große Hilfe. Es ist einfach gut zu wissen, dass ich dieses Netzwerk habe. So fühle ich mich damit nicht so alleine.

Sehr wichtig waren die Gespräche mit meiner Tante, der Schwester meiner Mutter. Sie hat das Gleiche ja auch mit ihrer Mutter und der Alzheimerkrankheit erlebt. Der Austausch mit ihr hat mir sehr geholfen. Sie hat mich immer wieder ermutigt: „Du kannst es nicht ändern. Du darfst dich nicht kaputt machen, denk auch an dich. Du hast ein eigenes Leben.“

Ich muss immer wieder dafür sorgen, dass ich auch Abstand kriege und mein eigenes Leben nicht vergesse.

Diese Abgrenzung zu finden, das habe ich meiner Tante zu verdanken. Gleichzeitig kam immer wieder das schlechte Gewissen, gerade am Anfang.

Letztlich hat es mir auch geholfen, das alles aufzuschreiben. Das ist einfach meine Art, Dinge zu verarbeiten und zu bewältigen. So kann ich meine Gedanken sortieren. Mir fließt es dann aus dem Kopf und aus dem Herzen und dann klärt sich vieles für mich. Das Erscheinen meines Buches war ein wichtiger Meilenstein. Natürlich ist das Thema noch nicht abgeschlossen, aber ich hatte einfach das Bedürfnis, dadurch für mich einen Punkt zu setzen.

Diese Angst, dass mich die Krankheit selbst irgendwann treffen könnte, die ploppt natürlich immer mal auf. Aber die versuche ich wegzuschieben, weil es nichts bringt, mir darüber Sorgen zu machen. Jetzt ist es dran für meine Mutter zu sorgen, soweit ich das kann, und gut für mich zu sorgen.
 

ERF: Wie haben Sie sich selbst konkret geschützt und sich abgegrenzt?

Ingrid Schreiner: Mein beruflicher Alltag hat mich zwangsläufig immer wieder rausgeholt. Ich war in der Erwachsenenbildung tätig, in der Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt. Ich war also auch beruflich mit schweren Themen unterwegs. Das hat Kraft gekostet. Gleichzeitig war es gut, weil es mich abgelenkt hat und ich gemerkt habe: Es gibt noch andere Menschen, die meine Energie brauchen.

Außerdem habe ich meine Hobbys gepflegt. Ich habe geschrieben, habe Musik gemacht und war lange Jahre in einer Kabarettgruppe und da liefen ein paar Events. Ich habe einfach gemerkt: Das tut meiner Seele gut, das lenkt mich ab, da muss ich nichts entscheiden. Auch mit Freunden oder meinen Töchtern schöne Erlebnisse zu haben, ist für mich sehr wichtig.

Und ich bin auch als Bildhauerin aktiv. Das ist für mich eine meditative Beschäftigung, bei der ich innerlich zur Ruhe komme und meinen eigenen Seelengrund wiederfinde.

Es ist wichtig, immer wieder bei mir zu sein, um mich dann von dort aus auch wieder anderen zuwenden.

Wenn mich andere Betroffene fragen, sage ich immer: „Vergesst euer eigenes Leben nicht.“ Man denkt in so einer Situation schnell, man müsse sich aufopfern. Und sich gut zu kümmern hat natürlich viel von einem Opfer. Aber ich empfinde es mittlerweile eher als Aufgabe, die mich fordert und bei der ich gut mit meinen Kräften haushalten muss.

„Es ist ihr Schicksal“

ERF: In diesem Zusammenhang steht in Ihrem Buch folgender Satz: „Es ist ihr Schicksal“. Wie hat Ihnen diese Erkenntnis geholfen?

Ingrid Schreiner: Diesen Satz hat meine Tochter immer zu mir gesagt. Meine Töchter hatten ein inniges Verhältnis zu den Großeltern. Sie haben dort oft die Ferien verbracht und viele schöne Erlebnisse mit ihnen. Und obwohl sie eine emotionale Bindung haben, können sie in dieser Krankheitsphase toll mit der Oma umgehen. Bei ihnen ist mehr Distanz als bei mir. Ich bin oft zu sehr die Tochter meiner Eltern.

Wir haben natürlich auch viel zusammen geweint und ich habe mich bei ihnen ab und zu mal ausgeweint, wenn ich manche Situationen nur schwer ertragen habe. Zum Beispiel, wenn wir von einem Besuch wegfuhren und ich nicht wusste, ob es ausreicht, wenn ich erst in zwei Wochen wiederkomme. Da war ich oft aufgelöst.

Dann haben sie mich wieder zurechtgerückt und gesagt: „Mama, das ist ihr Schicksal. Es ist nicht deins. Du kannst es ihr nicht abnehmen, aber du kannst für sie da sein.“ Ich selbst habe ja auch mein Schicksal zu tragen, wo ich auch schon einiges durchlebt habe, das ich als Krisen bezeichnen würde. Da musste ich auch selbst durch und keiner konnte es mir abnehmen.
 

ERF: Sie haben schon viel durchgemacht in Ihrem Leben. Haben Sie mit Gott deswegen gehadert?

Ingrid Schreiner: Manchmal habe ich schon gehadert, weil es einfach zu viele Zumutungen waren. Dann kamen mir schon Warum-Fragen über die Lippen, obwohl ich genau weiß, dass mir die keiner beantworten kann: Warum mussten meine Großmutter, meine Mutter und mein Vater diese schreckliche Krankheit erleben?

Aber wenn ich dann in die Welt blicke und sehe, welche schrecklichen Dinge immer und überall passieren und wer in meinem Umfeld sonst noch von Krankheit betroffen ist, merke ich: Kein Mensch bleibt verschont und jeder muss irgendwelche Zumutungen ertragen.  

Für mich ist eine zentrale christliche Überzeugung, dass man durch das Leid durchgehen muss, um dann wieder zum Leben zu kommen. Das habe ich schon oft in meinem Leben erfahren und kann es immer wieder annehmen. Trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass Gott mir manches Leid erspart hätte. Für die Zukunft bitte ich auch oft genug darum, aber ich weiß genau, dass das nicht immer passieren wird.
 

ERF: Was raten Sie Betroffenen, deren Eltern oder andere nahestehende Menschen an Demenz erkrankt sind?

Ingrid Schreiner: Auf jeden Fall nicht die Augen davor zu verschließen, sondern sich der Realität stellen. Mir hat es enorm geholfen, mich mit der Krankheit auseinanderzusetzen. Dabei waren gerade die Gespräche in der Beratungsstelle und der Kurs für pflegende Angehörige sehr hilfreich. Dadurch habe ich verstanden, wie sich demenzkranke Menschen entwickeln, und mit ihnen umzugehen gelernt.

Wie zum Beispiel, dass es nichts bringt, Dinge immer wieder richtig stellen zu wollen. Wenn eine Frage im Raum steht, kommt es eher darauf an, eine Antwort zu finden, die eine gute Atmosphäre schafft. Ich musste lernen, meine Eltern nicht ständig auf Dinge anzusprechen, die sie vergessen haben. Denn damit erinnere ich sie permanenter an ihr Defizit, was kontraproduktiv ist. Aber da musste ich erst mal hinkommen.

Außerdem rate ich dazu, zuzugeben, dass es einen innerlich zerreißt, dass es einen an Grenzen führt und dass man hadert und leidet und wütend ist.

Ich hatte Emotionen in allen Schattierungen, aber das ist in Ordnung. Es ist wichtig, das alles rauszulassen anstatt es in sich reinzufressen und stillschweigend zu ertragen. Aktuell empfinde ich tiefes Mitleid. Meine Mutter ist nicht mehr aggressiv, sondern äußert Dankbarkeit und freut sich, dass ich da bin.

Ich kann nur alle Betroffenen ermutigen, darüber zu sprechen, was sie empfinden und durchmachen. Es ist wichtig, dass man sich mit anderen austauscht und sich Hilfe und Unterstützung holt. Die einen brauchen vielleicht mehr organisatorische Unterstützung, die anderen mehr seelischen Beistand. Und zuletzt ist es wichtig, darauf achten, dass man sich selbst Gutes tut und das eigene Leben lebt. Damit nicht alles nur noch um die Krankheit kreist.
 

ERF: Danke für das Interview.

 Sarah-Melissa Loewen

Sarah-Melissa Loewen

  |  Redakteurin

Sie hat Literatur- und Kulturwissenschaften studiert und war schon immer von guten Geschichten in Buch und Film begeistert. Doch sie findet, die besten Geschichten schreibt Gott im Leben von Menschen. Als Redakteurin erzählt sie diese inspirierenden Lebens- und Glaubensgeschichten. Sie lebt mit ihrem Mann in der schönsten Stadt am Rhein.

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Kommentare (1)

Vera /

Sehr wertvolle Erfahrungen. Ja, man kann es nicht oft genug sagen: man braucht ein Netzwerk und darf ja nicht vergessen, an sich selber zu denken. Sehr hilfreich in diesem Netzwerk sind die Kinder; denn die Enkel haben einen "gesünderen" Abstand zu den Großeltern als Sohn oder Tochter!

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