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11.07.2024 / Interview / Lesezeit: ~ 10 min

Autor/-in: ERF Jess Redaktion

Mehr als eine Portion Mitgefühl

Anna Hofacker erzählt von ihrem Weg durch die Trauer und der Bedeutung von Barmherzigkeit.

„Das tut mir echt leid für dich.“ Dieser Satz ist schnell gesagt, doch was bedeutet es wirklich, Mitgefühl mit anderen Menschen zu empfinden und Barmherzigkeit zu leben?

Anna Hofacker hat nach dem Tod ihres Bruders erlebt, wie schwer es vielen Menschen fällt, mit Trauernden umzugehen. Im Interview erzählt sie von ihrem eigenen Weg durch die Trauer und davon, wie sie einen neuen Zugang zum Thema Barmherzigkeit gefunden hat.
 

ERF: Wieso brennst du für das Thema Barmherzigkeit?

Anna Hofacker: Ich brenne für das Thema Barmherzigkeit, weil es etwas ist, was ich als Christin gut kenne. Wir wissen, dass wir es tun sollten, aber oft wird die Tiefe und Schönheit von Barmherzigkeit nicht gesehen. Das ist mir besonders aufgefallen, als ich das berühmte Gleichnis des barmherzigen Samariters untersucht habe. Der Moment, in dem der Samariter hilft, wird oft mit einem „Er war einfach nett“ abgetan.

Im Urtext sehen wir aber, dass dort das Wort σπλαγχνίζομαι (splagchnizomai) steht. Dieses Wort kann übersetzt werden mit den Worten „das Herz und die Gedärme drehen sich um“. Diese Art von Mitgefühl ist so kraftvoll und nimmt die Not des anderen so ernst, dass eine tiefes eigenes Bewegtsein daraus resultiert.

Noch ein interessanter Zusatz: Das Wort wird in der Bibel nur einmal in Bezug auf einen Menschen verwendet, und zwar im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, sonst nur im Hinblick auf Jesu Verhalten, in Matthäus 9,36 zum Beispiel in dem Satz „Es jammerte ihn“, um zu beschreiben, wie Jesus auf das Leid anderer reagiert.

Durch Barmherzigkeit können wir Jesus ähnlicher werden. Gelebte Barmherzigkeit ist damit meiner Meinung nach ein elementarer Teil von Nachfolge.

Ich möchte mit der Haltung „halt mal sozial zu sein“ aufräumen und Barmherzigkeit als Lebensstil hochhalten.

Ich denke da an ein Mark Twain-Zitat. Er soll auf den Ausspruch: „Es gibt so viele Stellen in der Bibel, die ich nicht verstehe“ geantwortet haben: „Mir machen eher die Stellen Sorgen, die ich verstehe.“ Ist es nicht ironisch, dass wir Stellen wie dieses Gleichnis, die wir vermeintlich gut kennen und von denen wir meinen, sie verstanden zu haben, häufig am wenigsten ernst nehmen?

Die Trauer wurde zur Identität

ERF: Was unter anderem deine Sicht auf das Thema Barmherzigkeit verändert hat, war der frühe Tod deines Bruders. Wie war das damals, als du erfahren hast, dass dein Bruder tot ist?

Anna Hofacker: Mein Bruder und ich waren uns sehr ähnlich, obwohl er 10 Jahre älter war als ich. Unsere Lebensrealitäten glichen sich sehr, denn wir waren beide verheiratet und lebten nicht mehr zu Hause. Und auch in der Art und Weise, wie wir das Leben angegangen sind, ähnelten wir uns.

Als mein Bruder vor sieben Jahren bei einem Autounfall verunglückt ist, rief mein anderer Bruder mich abends an, um mir die Nachricht mitzuteilen. Er ist Polizist, und das war eine absurde Situation, da er diese Anrufe beruflich kennt, nun aber die eigene Schwester anrufen musste.

Ich habe als Erstes gefragt, „Ist was mit Papa? Ist was mit Mama?“, und dann hat er gesagt, „Nein, Damian hatte einen Unfall“. Ich sagte dann, „Ja, gut, dann müssen wir ins Krankenhaus“, aber er sagte: „Nein, wir müssen nicht ins Krankenhaus“.

Ich habe mich gefühlt wie eine Vase, die zerbricht. Alles war taub und leer in mir. Ich war damals 23 Jahre alt und auf einmal war ich „die Schwester des verstorbenen Bruders“. Dieses Ereignis wurde komplett zu meiner Geschichte, meiner Identität.

Plötzlich war ich nicht mehr Ehefrau, nicht mehr Schwester, nicht mehr Freundin, nur noch Trauernde.

ERF: In deinem Buch schreibst du, du hättest in deiner Trauer wie verwundet am Wegesrand gelegen. Wie zeigte sich das?

Anna Hofacker hat die Initiative „sickofpretending“ gegründet, die Barmherzigkeit ganz praktisch im täglichen Leben umsetzen möchte. Für ihr Buch „Ein 10/33 Leben“ hat sie mit 30 Menschen gesprochen, die Barmherzigkeit im Alltag leben.

Anna Hofacker: Ich habe in den absurdesten Situationen nicht mehr funktioniert. Zum Beispiel wurde in einem Ostergottesdienst das Wort Leichnam erwähnt und ich konnte nicht anders, als rauszugehen. Allein dieses Wort hat etwas in mir ausgelöst, das ich nicht aushalten konnte.

Ich bin sonst ein lebensfroher Mensch und auch nicht in eine Depression abgerutscht, aber mein Kopf hat mir Streiche gespielt: Mein Bruder hatte vom Unfall eine Wunde im Gesicht und auf einmal habe ich diese Wunde auch in anderen Gesichtern gesehen. Es war ein völliger Hirnausnahmezustand.

Barmherzigkeit heißt einfach dazubleiben

ERF: Was wäre in deiner Zeit der Trauer ein barmherziger Umgang gewesen, wie du ihn dir gewünscht hättest?

Anna Hofacker: Irgendwann bin ich auf den Satz gekommen: Barmherzigkeit zu zeigen, bedeutet oft, einfach dazubleiben. Auch wenn es schwerfällt. Das ist in unserer lösungsorientierten Gesellschaft gar nicht so leicht, weil das heißt, sich mit den Trauernden in diese Sackgasse zu stellen. Aber von Leuten, die dageblieben sind, habe ich wirklich Trost erfahren.

Ich habe mich oft gefragt: Warum gehen mir alle aus dem Weg? Von vielen Menschen dachte ich, ich sei ihnen völlig egal. Das stimmte nicht, aber ich habe ihre Anteilnahme nicht gespürt. Menschen haben Angst, in so einer Situation etwas falsch zu machen und sagen dann lieber nichts.

Es hätte mir geholfen, wenn mehr Menschen einfach ehrlich gesagt hätten: „Ich weiß gerade nicht, was ich dir sagen kann. Ich weiß nicht, mit welchen Worten ich dir etwas Gutes tun kann.“

Der Satz „Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll“ ist so ein liebevoller, anteilnehmender Satz. Damit zeigen wir einander nicht die kalte Schulter, sondern nehmen der „stillen Ignoranz“ ihre Macht.
 

ERF: Hast du auch erlebt, wie Menschen dich in deiner Trauer aufgefangen haben?

Anna Hofacker: Einmal bin ich in eine Buchhandlung gegangen und da kam ein Freund der Familie meines Mannes auf mich zu. Er hat geweint und gesagt: „Mir tut es so leid um deinen Bruder.“ Es hätte Tage gegeben, an denen mich das völlig überfordert und sich einfach nur falsch angefühlt hätte. Aber in dieser Situation war das so heilsam, dass dieser Mann weinend über meinen Bruder vor mir stand und mit mir getrauert hat.

In einer anderen Situation saß ich in der Küche bei der Mutter eines Freundes. Sehr vorsichtig sagte sie mir einen extrem wichtigen Satz: „Weißt du, was manchmal hilft: Schaue dir an, was die Realität ist.“ Dann fragte sie mich: „Wie oft hast du deinen Bruder im Jahr gesehen?“ Darauf sagte ich, „7 bis 8 Mal“, und sie fuhr fort: „Diese 7 bis 8 Mal im Jahr siehst du ihn jetzt nicht mehr.“

Sie wollte mir nicht sagen: „Das, was du erlebst, ist doch gar nicht so schlimm“, aber sie hat mir geholfen, meine Trauer einzuordnen. Diese Sätze hätten auch vollkommen falsch ankommen können, aber danach hat sich etwas verändert. Ich habe anders getrauert und ich trauere bis heute.

Immer wenn ich von meinem Bruder erzähle, sage ich „mein Bruder“. Indem ich seinen Namen weglasse, schütze ich mich ein stückweit. Wenn der Name fällt, ist die Trauer viel persönlicher.

Interview mit Anna Hofacker im ERF Jess Talkwerk. Ganze Sendung anschauen.

Das Thema Trauer schwebte über allem

ERF: Gab es auch Worte oder Sätze, die dich in deiner Trauer getriggert haben?

Anna Hofacker: Es wurde unfassbar viel Falsches gesagt. Sätze wie zum Beispiel „Wie schön, dass dein Bruder im Himmel ist“ waren so schmerzhaft für mich. Sie fühlten sich so falsch, so schwer an. Ich konnte und wollte solche Floskeln in der Zeit überhaupt nicht hören. Ich wollte seinem Tod nichts Positives abgewinnen. Da war ich irgendwie auch etwas trotzig.

Ich glaube das zwar grundsätzlich, aber da war trotzdem ein leerer Platz am Küchentisch. Der Schmerz über diese Lücke wurde durch solche Sätze nicht besser.
 

ERF: Was war für dich in deinem Trauerprozess besonders schwer?

Anna Hofacker: Ich war bis zu dem Zeitpunkt ein unfassbar lebensfroher Mensch. Wenn ich in einen Raum gekommen oder zu einer Gruppe dazugestoßen bin, dann wurde es häufig fröhlich. Doch während meiner Trauer habe ich mich in dieser Rolle, in dieser Persönlichkeit, nicht mehr wohlgefühlt.

Nun war ich die mit dem verstorbenen Bruder. Es war total schwer, authentisch zu bleiben. Ich wusste nicht: Wie kann ich je wieder in einer Runde sitzen und lachen? Das geht doch nicht. Ich bin doch die trauernde Schwester des verstorbenen Bruders. In meinem Kopf schwebte die Trauer über allem und ich habe mir nicht erlaubt, in einer Gruppe fröhlich zu sein.

Ich fragte mich: Wer bin ich jetzt eigentlich? Bin ich noch die lebensfrohe Person, und wenn nicht, wie kann ich es wieder werden? Bei mir betraf es sehr stark die identitäre Ebene.

ERF: Wie geht es dir heute damit?

Anna Hofacker: Heute sind es ganz andere Gefühle als damals. Ich kenne mein Leben gar nicht anders als mit diesem Teil meiner Biografie. Am Todestag nehme ich mir bewusst nichts vor, merke aber wie Jahr für Jahr der Frieden in meinem Herz größer wird. Und trotzdem ist eine Riesenenttäuschung in meinem Leben.

Ganz oft denke ich darüber nach, was Damian zu der einen oder anderen Situation in meinem Leben sagen würde, und denke mit einer tiefen Herzensliebe darüber nach, dass ich jetzt gerne mit ihm über irgendein Thema philosophieren würde. Außerdem hätte ich besonders in den letzten Jahren bei der Buchentstehung sehr gerne seinen Rat gehört und gewusst, was er schreiben würde.

Überforderung benennen statt einfach weggehen

ERF: Du hast eine Initiative gegründet, die heißt „Sick of Pretending“. Auf Deutsch bedeutet das in etwa: „Ich habe keinen Bock mehr so zu tun als ob.“ Was steckt dahinter und gibt es da einen Bezug zu deiner Geschichte?

Anna Hofacker: Es gibt oft Situationen, in denen es leichter ist, still zu sein und einfach gar nichts zu tun. Genau das habe ich erlebt, als ich mit ein paar Leuten in meiner Gemeinde zusammen stand und ein junger Mann mit einer geistigen Einschränkung dazukam und alle nach und nach gegangen sind.

Auch ich wollte gehen, weil es unbequem war. Aber dann fragte ich mich: Habe ich das nach dem Tod meines Bruders nicht auch erlebt, dass die Leute gegangen sind, als ich getrauert habe?

Nach diesem Erlebnis dachte ich: Das kann es doch nicht sein. Es kann doch nicht sein, dass wir rausgehen aus diesen Situationen und jemand dann alleine dasteht. Das ist egoistisch.

Ich habe darüber mit einer guten Mentorin gesprochen und sie hat gesagt: „Weißt du, ganz oft sind das keine kalten Schultern, sondern zuckende Schultern. Die Menschen sind oft überfordert mit solchen Situationen und entscheiden dann: Ich nehme mich da raus, das kann jemand anders besser als ich.“

Aus dieser Beobachtung entstand „Sick of pretending“. Ich wollte herausfinden: Wie kann ich meine Überforderung benennen, anstatt so zu tun, als müsste ich gehen?

Wie werde ich fähig, Menschen in herausfordernden Situationen beizustehen und dazubleiben, ob bei einem Trauerfall oder im Kontakt mit Menschen mit einer Beeinträchtigung?

Es wäre viel gewonnen, wenn wir ehrlich wären und sagen würden: „Ich sehe dich und deine Situation, aber ich bin überfordert damit und habe gerade keine Worte, die ich dir sagen kann.“ Wie ich schon gesagt habe, hätte das auch mir damals geholfen.
 

ERF: Also den anderen und seine Situation aushalten und ehrlich sein – das ist für dich der Schlüssel zum barmherzigen Umgang miteinander, auch wenn ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll?

Anna Hofacker: Ganz genau. Aber dazu braucht es Mut. Wir denken oft, dass wir nur dann mutig sind, wenn wir auch stark wirken. Aber die wirklich Mutigen sind die, die sich verletzlich machen, die zugeben: „Ich bin hier gerade überfordert.“

Und dann können wir uns fragen: Ist da jemand anderes, der mit dieser Situation fähiger umgehen kann als ich, und ich darf deswegen guten Gewissens den Platz räumen? Oder sollte ich bleiben und lernen, fähig mit dieser Situation umzugehen?

Ich selbst zum Beispiel habe in meinem Werdegang nichts zu tun gehabt mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Dadurch dass ich geblieben bin, habe ich gemerkt, wie sehr ich es schätze, mit dem jungen Mann aus der Gemeinde im Café zu sitzen und mit ihm zu malen. Ich merke, wie entschleunigend das ist, wenn man einfach zusammen im Café sitzt und malt.

Trotzdem bin ich keine Betreuerin, keine Institution. Aber ich habe Handlungsspielraum, auch neben meinem Berufsalltag, und kann mich entscheiden, ein paar Schritte zu gehen.

Es gibt den sogenannten Engelskomplex, der uns denken lässt: „Wenn ich es mache, muss ich direkt unfassbar viel tun“. Es ist meiner Meinung nach sinnvoller, sich zu fragen: Welche Ressourcen habe ich und in welchem Maß kann ich sie einsetzen? Und da stelle ich begeistert fest, dass jeder Mensch welche hat.

ERF: Danke für das Interview!
 

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