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20.10.2017 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Lucia Ewald

Kirche auf dem Rad (2/2)

Zurückgeworfen auf das Dunkel der eigenen Seele.

Pfarrer Gereon Alter (Foto: Gereon Alter)
Pfarrer Gereon Alter (Foto: Gereon Alter)

Pfarrer Gereon Alter unternimmt abenteuerliche Radtouren quer durch die Welt wann immer ihm sein Alltag als kirchlicher Manager einer Großpfarrei in Essen dafür Zeit lässt. Er hat auf seinem Drahtesel in den letzten Jahren mehr als 60 000 Kilometer zurückgelegt und rund 40 Länder bereist. Davon hat er bereits im ersten Teil des Interviews berichtet. Als Pfarrer kommt er dabei schon mal auf dem Dach des Himalaya mit einem Medizinprofessor über Gott ins Gespräch. Aber Pfarrer Gereon Alter macht auch selbst neue spirituelle Erfahrungen. Davon berichtet er in diesem zweiten Teil des Interviews.
 

ERF: Pfarrer Gereon Alter, Sie haben gesagt, es ist die Intensität des Erlebens, die Sie beim Reisen per Fahrrad fasziniert. Wie gehen Sie zum Beispiel auf Ihren Touren mit einem intensiven Gefühl wie der Einsamkeit um? Mit der Stille? Zum Beispiel bei Ihrer Tour durch die Großen Canyon in den USA? Was macht das mit Ihnen?

Pfarrer Gereon Alter: Also gerade in den USA im mittleren Westen trifft man auch viele andere Radfahrer. Sei es unterwegs oder abends am Zeltplatz. Da ist es gar nicht so einsam. Einsamkeit habe ich erlebt im Oman und in Südmarokko am Rande der Sahara, also in Wüstenregionen. Da wird man ähnlich wie in Exerzitien schon auf sich selbst zurückgeworfen. Das heißt, in Träumen oder auch in Tagträumen kommt ganz viel aus dem Unterbewusstsein hoch. Das muss man aushalten können und wissen, wie man damit umgeht. Da kommen auch manchmal finstere Gedanken. Dann schaut man sie an wie einen Gefährten und fragt: Was willst du mir jetzt sagen? Warum kommst du jetzt gerade? Und dann verabschieden sie sich auch wieder. Also das gehört schon dazu.

Der Buddhismus ist eine in sich versunkene Religion. Wo sind bei uns Zeiten der Stille?

ERF: Da spürt man, dass Sie Pfarrer und gelernter Seelsorger sind, und so auch mit sich selbst gut umgehen können. Inwieweit hat der Kontakt mit anderen Kulturen und Religionen auf Ihren Reisen Spuren hinterlassen, Sie inspiriert?

Pfarrer Gereon Alter: Da müssen wir nochmal in den Himalaya gehen. Denn das hat mich nicht nur, was die Natur betrifft, fasziniert, sondern auch was die Kultur betrifft. Ich habe dort einen exiltibetischen Buddhismus, das ist eine so fremde Welt, wenn man aus Westeuropa, aus einem christlich geprägten Land kommt, dass das erst einmal staunen lässt und auch ganz viele Fragen bei mir aufgeworfen hat.

Es sind die kleinen Wunder, für die man dankbar sein kann

ERF: Hat das Ihren Glauben verändert? Gab es Dinge, die Sie – natürlich modifiziert als Christ – übernehmen konnten?

Pfarrer Gereon Alter: Ja, die Gastfreundschaft ist das erste, was mir begegnet ist, wenn ich solche buddhistischen Klöster betreten habe. Da habe ich mich manchmal gefragt: Wie gehen wir eigentlich auf Menschen zu, die zu uns kommen? Sei es nur, wenn sie eine Kirche besuchen oder an der Gemeindehaustür anklingeln. Das war so ein erster Lerneffekt. Dann ist es in der Tat eine sehr stille, eine in sich versunkene Religion, was aber eben auch mit der Region zu tun hat. Wo sind bei uns Zeiten der Stille? Die Bedeutung dessen ist mir nochmal viel wichtiger geworden. In meiner Pfarrei ist oft von Aktivitäten die Rede. Und die Pfarrnachrichten sind voll von Aktivitäten. Diese Religion ist völlig anders ausgerichtet. Da geht es nicht um Aktivitäten, da geht es um Innehalten, etwas spüren, Sensibilität. Ich möchte nicht tauschen, aber doch einiges davon lernen.
 

ERF: In einem deutschen Volkslied heißt es ja „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt, dem will er seine Wunder weisen.“ Welche Gunst hat Gott Ihnen durch die Reisen per Rad erwiesen? Und: Haben Sie auch schon Wunder auf Ihren Reisen erlebt?

Pfarrer Gereon Alter: Gott hat mir ganz viel Gunst erwiesen, in dem er mir für die Vielfalt, für die Schönheiten dieser Welt die Augen geöffnet hat. Das große Wunder hat es nicht gegeben. Es sind die kleinen Wunder, wenn man einfach Dinge erlebt, mit denen man nicht rechnet, von denen man überrascht wird auf eine angenehme Art und Weise. Für die man dankbar sein kann. Da würde ich schon sagen: Das sind alles viele kleine Wunder oder Wegweisungen Gottes, wo er mir zeigt, wie gut er es mit mir meint.

Gott spricht auch durch die banalsten Dinge

ERF: Warum ist es Ihnen wichtig, sich immer wieder solche Auszeiten auf dem Rad zu gönnen? Sich körperlich auszupowern?

Pfarrer Gereon Alter: Es gibt ein schönes Wort von der Heiligen Teresa von Avila. Die hat gesagt: „Sorge für deinen Leib, auf dass deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Und das Fahrradfahren ist ja zunächst auch einmal Leibsorge. Das heißt: Ich spüre es richtig, wie der Körper wieder frisch durchblutet ist, wie der Stoffwechsel angekurbelt ist, wie der Kopf frei wird. Ich muss nur einen halben Tag auf dem Fahrrad sitzen und schon bin ich – wie nach einem Kurzurlaub – auch wieder arbeitsfähig.

Ich muss ja für gewöhnlich am Samstag und Sonntag arbeiten. Dafür ist dann häufig mal der Montag ein Tag, an dem ich entweder für mich am Schreibtisch sitzen kann oder auch rausfahren kann. Und den nutze ich. Ich glaube, dass man diesen Abstand auch braucht. Ich kenne noch eine Generation von Pfarrern, die sich nie Urlaub gegönnt haben, nie ein Hobby gepflegt haben, nur Pfarrer waren. Ich glaube, dass es nicht von Vorteil war. Es ist wichtig, immer mal wieder in Distanz zu seiner Arbeit zu treten, um neue Energie zu sammeln, um dann wieder mit voller Kraft dabei zu sein, das scheint mir sinnvoller zu sein.

Ökumenisches Stadtradeln: Die Zukunft der Kirche ist übergemeindlich

ERF: Was lernt man beim Radeln über das Leben?

Pfarrer Gereon Alter: Das ganze Radfahren ist fast wie ein Gleichnis auf das Leben. Es sind nicht nur diese besonderen Begegnungen und Erlebnisse. Es ist auch das ganz Elementare. Radfahren besteht aus Rhythmus und Ritualen. Beides brauchen wir auch im Leben. Einen bestimmten Lebensrhythmus. Oder auch bestimmte Rituale, die uns helfen, unser Leben zu deuten, auszurichten. Das habe ich beim Radfahren im Kleinen jeden Tag. Also dieses morgens aufs Rad steigen, mich einradeln, dann Strecke machen. Pausen. Das Pedalieren hat etwas sehr Rhythmisches. Das Atmen. Ein- und Ausatmen. Da erlebe ich etwas auf sehr elementare Art und Weise, auf sehr leibliche Art und Weise, was aber generell mein Leben ausmacht. Wenn ich zu stark morgens ambitioniert aufs Rad steige, hole ich mir schnell eine Zerrung und so ist es im Leben auch, wenn ich Dinge es zu forsch angehe. Also hinhören, horchen, achtsam mit mir selbst umgehen. Das kann ich beim Radfahren lernen und das ist wichtig auch für das Leben. Ich glaube, es hat das Spektrum meiner Selbstwahrnehmung aber auch meiner Weltwahrnehmung ungemein erweitert, und zwar sowohl im Positiven wie im Negativen. Ich habe die schönsten Glücksmomente meines Lebens auf dem Fahrrad erlebt. Ich habe aber auch sehr schwierige Zeiten erlebt. Zum Beispiel in der Einsamkeit von Wüstenregionen, wenn man sich auch mit dem Dunkel der eigenen Seele auseinandersetzen muss. Beides ist gut und beides brauchen wir.
 

ERF: Kommt man Gott auf dem Rad näher?

Pfarrer Gereon Alter: Eliah aus dem Alten Testament hat ja nach Gott gesucht und dabei die Erfahrung gemacht, dass er ihm in dem leisen Säuseln begegnet und nicht in dem tobenden Sturm und in dem Gewitter, wo seine Zeitgenossen meinten, dass Gott zu finden sei. Das ist vielleicht auch eine Erfahrung des Radreisens. Es sind nicht die spektakulären, die außerordentlichen Ereignisse. Ich bin also noch nie vom Rad gestürzt auf Grund einer Begegnung mit Gott. Aber es ist das leichte Säuseln, das eine Radreise begleitet. Das sind die Begegnungen. Das ist auch die Selbsterfahrung, die ich auf dem Rad mache.

Als katholischer Pfarrer bin ich ja geübt darin, regelmäßig Psalmen zu beten. Normalerweise sitze ich zu Hause in einem Sessel, habe mein Buch auf dem Schoß und bete dann die Psalmen. Auf einer Radtour sieht das ganz anders aus. Vor allem wenn ich alleine bin in der Wüste, dann singe ich die Psalmen, die ich auswendig kenne, laut heraus in den Wind. Das ist nochmal eine ganz andere Erfahrung. Gelegentlich gelingt das auch, wenn man zu zweit unterwegs ist. „Morgenglanz der Ewigkeit“ ist so ein Lied. Wenn ich aufs Rad steige und dann losfahre, dann singe ich das einfach. Und ansonsten ist es eben die Stille. Gott im eigenen Leib erfahren. Ich glaube, das ist etwas, was wir vorschnell überspringen, wenn wir von Spiritualität sprechen. Spiritualität ist für mich nicht ein geistlicher Überbau, der sich so über unser Leben legt, sondern es ist eigentlich etwas in den Dingen. Der Heilige Ignatius hat gesagt: „Gott ist in allen Dingen zu finden.“ Also in allem und jenem, auch in dem banalsten, ist Gott da und spricht zu mir. Und dafür aufmerksam zu werden auf einer Radtour und immer wieder zu fragen: Gott, was willst du mir jetzt dadurch sagen, dass du mich hier unterbrichst, dass du diesen Plan nicht so gelingen lässt, oder dass du mich auf diesen Pfad führst, das einzuüben, ist für mich eine zutiefst spirituelle Erfahrung.
 

ERF: Sie reisen nicht nur in ferne Länder, sondern laden auch ein zu ökumenischen Radtouren in Ihrer Heimatstadt Essen. Sie setzen sich ein für mehr Radwege in den Städten. Stichwort: Stadtradeln! Warum ist Ihnen gerade auch die übergemeindliche Arbeit vor Ort wichtig?

Pfarrer Gereon Alter: Ich glaube, weil das die Zukunft ist. Wir kommen aus einer Zeit, wo kleine Gemeinden sehr auf sich geschaut haben, auf ihre Unabhängigkeit bedacht waren. Das funktioniert ja in vielen Teilen nicht mehr so. Und dann nach links und rechts zu schauen, ob man nicht Synergieeffekte erzielen kann, was gemeinsam machen kann, auch über Konfessionsgrenzen hinaus, das scheint mir der Weg in die Zukunft zu sein. Und ich finde es auch bereichernd. Ich war als katholischer Pfarrer sehr viel auch in der evangelischen Theologie unterwegs. Ich glaube, dass sich da vieles wunderbar ergänzen kann. Ja, dass jede Konfession auch eigene Stärken hat. Schon die in ein Gemeinsames einzubringen, das halte ich für zukunftsweisend.
 

ERF: Pfarrer Gereon Alter, vielen Dank für das Gespräch.
 


Pfarrer Gereon Alter ist ein Kind des Ruhrgebiets. Er hat katholische Theologie in Bochum, Innsbruck und Rom studiert. Seit 2011 leitet er die Essener Großpfarrei St. Josef Ruhrhalbinsel mit 23 000 Katholiken, 7 Kirchen, 7 Kindertagesstätten, 2 Seniorenheimen und einem Krankenhaus. Neben seinem geistlichen Dienst gehört Abenteuer Radeln zu seinen Leidenschaften. Außerdem ist er Schalke Fan und spricht regelmäßig das „Wort zum Sonntag“.

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