Lobpreis ist Beziehungssprache
ERF: Brian, wie würden Sie Anbetungsmusik – oder, neudeutsch: Worship – definieren?
Brian Doerksen: Mit Anbetungsmusik kann ich meine Liebe zu Gott ausdrücken. Ich glaube, Menschen sind dazu geschaffen, Liebe zu geben und zu empfangen. Aber wir knüpfen Liebe an Bedingungen. Gottes Liebe hingegen ist bedingungslos. Das ist für uns nur schwer zu begreifen. Deswegen brauchen wir Worte und Melodien, die uns helfen, uns auf Gott auszurichten und zu verstehen, wer wir sind. Anbetungslieder sind eine Beziehungssprache: Liebeslieder an Gott.
ERF: Musik ist also eine gute Art, einen Gottesdienst zu beginnen.
![Musiker und Songwriter Brian Doerksen (Foto: Rachel Pick)](/data/files/content.sources.cina.artikel/719882.jpg)
(Foto: Rachel Pick)
Brian Doerksen: Absolut. Solange die Lieder, die wir singen, widerspiegeln, wer Gott ist und wer wir sind. So wie in meinem Lied: „Komm, jetzt ist die Zeit, wir beten an… Komm, so wie du bist vor deinen Gott.” Wir sind eingeladen, so zu kommen, wie wir sind und ihm unser Herz zu bringen. Und zwar alles, was uns bewegt. Wenn wir traurig sind, bringen wir ihm unsere Trauer, wenn wir froh sind, bringen wir ihm unsere Freude. Wenn wir Fragen haben, bringen wir ihm unsere Fragen. Damit fängt es an.
Wenn wir traurig sind, bringen wir ihm unsere Trauer, wenn wir froh sind, bringen wir ihm unsere Freude. Wenn wir Fragen haben, bringen wir ihm unsere Fragen. Damit fängt es an. – Brian Doerksen
Klagen statt ablenken: Gesund mit Leid umgehen
ERF: Viele Lobpreislieder gelten als „Wohlfühlsongs“, sie vermitteln so ein Kuschelgefühl. Was halten Sie davon?
Brian Doerksen: Es ist gut, wenn man sich wohlfühlt, aber Menschsein ist viel mehr als das! Wir Menschen erleben Zeiten der Freude – aber auch der Trauer. Leider werden Songs, die Trauer thematisieren, in vielen Kirchen ausgeklammert. Ehrlich gesagt, finde ich das sogar unbiblisch. Denn die Psalmen, das Liederbuch der Bibel, ist voller Trauerlieder.
Leider werden Songs, die Trauer thematisieren, in vielen Kirchen ausgeklammert. Ehrlich gesagt, finde ich das sogar unbiblisch. Denn die Psalmen, das Liederbuch der Bibel, ist voller Trauerlieder. – Brian Doerksen
In unseren Gottesdiensten muss auch Platz sein, zu den Kämpfen, dem Leid und dem Schmerz zu stehen, den wir durchmachen – mitten in unserem Lobpreis. Leider würde man im Laufe eines Jahres in den meisten Kirchen nicht ein einziges Klagelied hören, keine Verletzlichkeit oder Traurigkeit. Wer also mit diesen Dingen zu kämpfen hat, fühlt sich abgehängt. Als sei etwas verkehrt mit einem selbst, weil man mit seinem ganz normalen Menschsein zu kämpfen hat.
ERF: In den Psalmen wird die ganze Palette der menschlichen Emotionen besungen: Trauer, Wut, Freude, Anbetung, Sorge, Angst. Warum fällt es uns heutzutage so schwer, diese unterschiedlichen Gefühle im Gottesdienst zuzulassen?
Brian Doerksen: Weil wir als moderne Kirche so mit Leid umgehen, wie es unsere Kultur tut!
Die biblische Antwort auf Leid waren Klagelieder. Den Schmerz beweinen, die Stimme zu erheben und zu fragen: „Warum? Und wie lange noch?“ Unsere Kultur hingegen verleugnet den Schmerz und tut so, als existiere er nicht. Zum Beispiel durch Ablenkung: Ständige Unterhaltung. Komaglotzen. Noch eine Serie auf Netflix. Auf dem Smartphone spielen. Sich nur nicht dem Schmerz stellen. Ihn ja nicht zugeben.
Verleugnen und sich ablenken: das ist die Strategie unserer Kultur, mit Problemen umzugehen. Aber es ist nicht die biblische Antwort auf Leid. Auch Psychologen und Soziologen, die sich mit Verhaltensmustern beschäftigen, sagen: „Verleugnen ist nicht gesund.“ Man muss zu etwas stehen, es zugeben und sich da durcharbeiten.
Verleugnen und sich ablenken: das ist die Strategie unserer Kultur, mit Problemen umzugehen. Aber es ist nicht die biblische Antwort auf Leid. – Brian Doerksen
ERF: Ein Gottesdienst, in dem laut geklagt wird: für viele sicherlich ein ungewöhnlicher Gedanke.
Brian Doerksen: Manchmal höre ich: „Wenn wir traurige Lieder im Gottesdienst singen würden, wären danach alle deprimiert.“ Ich sage es nochmal: Schauen Sie sich die Psalmen an und die menschliche Natur! Wenn ich traurig bin und ein Klagelied singe, hilft mir das aus der Traurigkeit heraus und öffnet mir die Augen für die Freude. Das passiert nicht, wenn ich traurig bin und ein fröhliches Lied singe. Dann mache ich mir nur etwas vor nach dem Motto: „Lügen, bis man’s selbst glaubt“. Das ist echt nicht gesund.
Zwei Söhne mit Behinderung: ein Segen?
ERF: Wenn Sie von Herausforderungen im Leben sprechen, ist das für Sie keine graue Theorie. Drei Ihrer Kinder haben eine genetisch bedingte Behinderung, das Fragile X-Syndrom. Wie haben Sie darauf reagiert, als Sie die Diagnose erfahren haben?
Brian Doerksen: Mir brach das Herz. Ich war am Boden zerstört. Ich hatte mir immer einen Sohn erträumt, mit dem ich mein Leben, meine Musik teilen könnte und der meinen Namen weitertragen würde. All das brach mit der Nachricht zusammen, dass mein Sohn diese Behinderung hat und lebenslang auf Hilfe angewiesen sein würde. Das war sehr, sehr hart. Die Last der Zukunft brach über mir zusammen.
Noch schlimmer war es für mich, als unser zweite Sohn mit der gleichen Krankheit diagnostiziert wurde. An dem Tag stolperte ich weinend aus dem Haus und sagte: „Gott, wie soll ich das machen? Jetzt haben wir zwei Söhne mit besonderen Bedürfnissen. Wie sollen wir das packen?“ Am Ende jenes Tages traf ich eine Entscheidung. Ich wollte kündigen: „Okay, Gott. Du hast mir eine Berufung gegeben. Aber jetzt kann ich das nicht mehr.“ Doch dann war mir, als würde Gott mich einladen, trotzdem weiterzumachen – allerdings hinkend.
ERF: Bildlich gesprochen: mit einem Handicap?
Brian Doerksen: Ja. Das war quasi eine neue Interpretation meiner Berufung. Ich sollte weitermachen – aber ehrlich dabei sein. Und zu meinen Schwächen stehen, die ich ja tatsächlich habe. Ehrlich sein, wie meine Frau und ich mit all dem umgehen. Das wir keine Superhelden sind.
Ich suchte also nach Wegen, damit klarzukommen. Die Reise hatte begonnen. Es war ein Kampf, aber Stück für Stück kam auch die Erkenntnis, welch ein Geschenk meine Söhne sind. Und Schritt für Schritt entstand aus dieser Herausforderung auch Segen. Und Gnade und Güte. Und Liebe. Und Mitgefühl. Und Freundlichkeit. Und Verständnis. Ich würde das für nichts mehr eintauschen.
Musik für Leidende
ERF: Was hat sich durch die Erfahrung mit Ihren Söhnen an Ihren Liedern verändert?
Brian Doerksen: Nun, um es ganz einfach zu sagen: Meine Lobpreislieder drücken nicht mehr „Ich weiß“ aus, sondern „Ich weiß nicht, ich vertraue.“ Das war also ein Dreh- und Angelpunkt für mich. Ich schrieb zur Geburt unseres zweiten Sohnes Isaiah das Lied „Your Faithfulness“, zu Deutsch „Deine Treue“. Es beginnt mit „Ich weiß nicht, was der Tag wohl bringt. Wird er dann mich enttäuschen oder Wünsche mir erfüll’n? Ich weiß nicht, was der Morgen bringt, doch ich weiß, dass Du mir die Treue hältst.“
Ich schrieb dieses Lied unter Tränen, zwei Nächte, bevor Isaiah geboren wurde. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, ob er das Fragile X-Syndrom haben würde, denn wir hatten uns geweigert, einen Pränatalen Test durchführen zu lassen. Die werden nämlich nur gemacht, um dann, wenn das Syndrom vorliegt, eine Abtreibung durchzuführen. Und das wollten wir nicht. Es war mir also sehr ernst mit dem: „Ich weiß nicht, was kommt, aber ich vertraue dir.“ Daran muss ich mich jetzt seit 19 Jahren halten.
„Ich weiß nicht, was kommt, aber ich vertraue dir.“ Daran muss ich mich jetzt seit 19 Jahren halten. – Brian Doerksen
ERF: Leid ist also zu einem wichtigen Motiv in Ihrer Musik geworden?
Brian Doerksen: Es ist interessant: Ich habe, noch bevor ich in selbst tiefes Lied erfahren hab, schon diese Berufung gespürt, für Leidende zu singen. Es war, als hätte Gott ein Samenkorn in mein Herz gelegt. Irgendwann kam das Leid dann auch in mein Leben. Aber es gab schon immer diesen roten Faden in meiner Musik. Ich habe mich nie so recht dazu berufen gefühlt, triumphale Lieder für Menschen zu schreiben, die total gut drauf sind. Ich wollte ehrliche Lieder schreiben über einen treuen Gott. Darüber, dass Gott Liebe ist. Aber ehrlich die Menschen ansprechen, die kämpfen.
ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
Ihr Kommentar
Kommentare (4)
Vielen herzlichen Dank für diesen inspirierenden Beitrag
Genau: Das Bewustsein zu schärfen, dass ein Gottesdienst unterschiedlich stehende Menschen abholt! Natürlich sollten Lieder nicht wie einige Klagepsalmen in der Klage steckenbleiben, aber auch mal … mehrein zwei Verslängen Platz finden.
Bei dem Lied "Dir gehört mein Lob... Egal was du mir gibst..." habe ich mir angewöhnt als Lobpreisleiter die englische Bridge zu singen, da viele mit der deutschen "Übertragung" Probleme haben, denn mir ist es auch nicht "egal" ;-) Aber die Feststellung die auch Hiob hatte: Du gibst und nimmst es wieder. Und trotz allem und in allem will ich Gott loben! Die Strophen / Wortspiele sind in Deutsch wieder genial übersetzt!
Außerdem schätze ich das Lied "Du siehst die Wunden" übersetzt vom Lobpreisleiter Arne Kopfermann, der auch tiefes Leid erlebt hat!
Ja, da sind Wunden sind, die ich Gott nicht verschweige, Jesus hinhalte und ihm vertraue. Daraus WÄCHST dann ein Lob Gottes!
Und wenn wir Gott im Schmerz preisen dann kann das Wunder passieren, das Paulus und Silas im stinkenden Gefängnis in Ketten erlebt haben: (nicht immer aber) hier machten sie um Mitternacht fetten Lobpreis und die Folgen waren so genial: Gott hat nicht nur sie errettet, sondern viele Mitgefangene, den Gefängniswärter....
Deswegen: Leid hat versweise Platz im Godi und soll abholen, aber es muss den Fokus auf das Lob Gottes haben. Und nicht anders habe ich Brian verstanden :-)
Liebe Hanna P.
Ich verstehe dich, muss aber anmerken: Lieder, die auch mal das Leid oder den Zweifel zu Gott hinaussingen sind leider viel zu selten. Fast alle Lieder, die in den 25 Jahren meines … mehrChristseins in den Gottesdiensten gesunden wurden, in denen ich (auch mitwirkend) war, lobten Gott, waren voll Zuversicht und Glauben. Jene Lieder, die auch mal andere Gefühle mittrugen sind sehr rar gesäät. Leider. Fast immer hatte ich solche Lieder höchstens par CD im Auto. Sollte nicht wenigstens ab und an auch im Gottesdienst Zeit und Raum für Echtheit sein? Und nicht nur in Form von Freiheit, einzelnes nicht mitzusingen (also passiv) sondern konkret bennant (aktiv)? (Ich denke da zB an Lieder wie "Praise you in this storm" u.ä.) Gottesdienste sollen auch jene abholen, die eben nicht happy, sicher und voll vertrauen sind - wie Jesus als Arzt nicht nur zu den Gesunden kam. Und: meine Zweifel, Trauer und Leid aussprechen zu können ist befreiend und heilend...
Ich sehe das ein bisschen anders als Brian Doerksen.
Nicht jeder ist zur gleichen Zeit in der gleichen Stimmung.
Zum Beispiel kommt der Eine voll Freude und Dank in den Gottesdienst. Der Andere … mehrbraucht neue Kraft um den Kranken zu Hause zu pflegen.
Ich bin im Moderationsteam.
So versuchen wir immer eine gute Mischung zu finden. Ankommen, Zeit - Gott Dinge in der Stille zu sagen. Freude und Ruhe, um auf das zu Hören, was Gott mir sagen will.
Wer dann etwas nicht mitsingen kann oder will, der lässt es.
(Ich konnte eine Zeitlang nicht mitsingen: ...EGAL was du mir nimmst, ... Nein, manches ist mir nicht egal!)
Aber ich habe gelernt damit umzugehen.
Und auch, wenn Gott mit mir IM Gottesdienst nicht redet. Er geht mir nach, bis ich es erkenne