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© Pablo Heimplatz / unsplash.com

27.09.2023 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Sonja Kilian

„Du machst was ganz Verrücktes!“

Stefan Wagener trotzt seiner Schwerhörigkeit und überwindet vermeintliche Grenzen.

Von Geburt an hat Stefan Wagener eine Gehörschädigung. Erst im zweiten Schuljahr bekam er Hörgeräte, die ihm seinen Alltag erleichterten. Dennoch war Stefan Wagener durch die Behinderung ausgegrenzt. Er hat sich selbst aber immer wieder neue Ziele gesteckt und erreicht, die ihm viele gar nicht zugetraut hätten. Im Interview berichtet der heutige Pfarrer und Familienvater, wie er immer wieder über seine Grenzen hinaus gegangen ist. Dabei geholfen haben ihm sein Glaube und andere Menschen.


ERF: Können Sie kurz beschreiben, wie genau Ihr Gehör beeinträchtigt ist?

Stefan Wagener: Man denkt immer, wenn man schwerhörig ist, dann hört man einfach schlechter. Aber es gibt unterschiedliche Hörschädigungen. Bei mir ist es so, dass ich die Hochtöne nicht so gut höre. Dadurch kann ich zum Beispiel feine Unterschiede wie bei „dem“ und „den“ nicht hören. Oder ob da ein scharfes ß oder ein einfaches S ist.

„Man hat in meiner Familie nicht gewusst, dass ich schwerhörig bin.“

ERF: Was hat Ihre Hörbeeinträchtigung als Kind für Sie bedeutet?

Stefan Wagener: Ich bin Jahrgang 67, damals wurden keine Höruntersuchungen gemacht. Im ersten Schuljahr haben die Lehrer bemerkt, dass irgendwas mit mir nicht stimmt. Meine Familie wusste nicht, dass ich schwerhörig bin. Das liegt natürlich auch daran, dass meine Schwerhörigkeit nicht ganz so stark ausgeprägt ist. Ich habe halt undeutlich gesprochen, genuschelt und die Endung nicht richtig ausgesprochen.

Mein Opa hat uns Kindern oft Geschichten erzählt. Ich saß dabei am liebsten auf seinem linken Bein. Auf dem rechten Ohr höre ich nämlich besser, deswegen war das mein Stammplatz, und den habe ich gnadenlos verteidigt. Wenn jemand von meinen Geschwistern dort saß, habe ich ihn aggressiv fortgejagt. Meine Eltern haben sich darüber gewundert, und mir später erzählt: „Nachher haben wir das erst verstanden. Du wolltest natürlich ziemlich nah an Opas Mund sein.“

Sonderschule statt Inklusion

ERF: Wie kamen Sie in der Schule zurecht?

Stefan Wagener: Hörgeräte wurden damals nicht von Akustikern angepasst, sondern von Optikern verkauft. Als ich meine ersten Hörgeräte bekommen habe, war das eine ziemlich große Umstellung für mich. Aber am Ende des zweiten Schuljahres war dennoch deutlich: Okay, das funktioniert nicht. Und dann waren die Alternativen entweder, das Schuljahr zu wiederholen, oder aber auf eine gesonderte Schule für Hörbehinderte und Gehörlose zu gehen.


ERF: Sie haben dann die Schule gewechselt. Wie hat das Ihre weitere Schulzeit und Kindheit geprägt?

Stefan Wagener: Ich glaube, das Gravierendste für mich war, dass ich aus meinem sozialen Umfeld herausgenommen wurde. Ich habe auf einmal ganz deutlich gespürt: Ich bin ja anders als die anderen Kinder, ich muss auf eine gesonderte Schule gehen.

Inklusion war damals noch kein großes Thema. Man war der Meinung, dass man behinderte Kinder besser aus ihrem Kontext herausnimmt und sie in eine Schule schickt, die die besonderen Voraussetzungen für ihre Bedürfnisse erfüllt. Wir waren kleine Klassen, hatten mit Kopfhörern Unterricht und die Lehrer haben deutlich gesprochen.

Das waren alles optimale Bedingungen, aber ich wurde aus meinem Umfeld herausgerissen und das habe ich als ziemlich dramatisch empfunden, das muss ich schon sagen. Auch zu meinen Freunden im Dorf ging der Kontakt immer mehr verloren, weil meine Schule eine Ganztagsschule war. Weil es nicht so viele Hörbehinderten-Schulen gibt, musste ich einen weiten Weg fahren. Ich bin morgens um 6 Uhr aus dem Haus gegangen und war erst abends um 17 Uhr wieder zurück. Dadurch brach dann vieles weg.
 

ERF: Inwiefern hat Sie das belastet?

Stefan Wagener: Wenn man in die Pubertät kommt, will man ja anerkannt sein, man will dazugehören. Man will vor allen Dingen nicht anders sein als die anderen. In dieser Jugendphase habe ich doch schon sehr darunter gelitten und ich habe mir die Frage gestellt:

Warum bin ich behindert und andere sind es nicht? Hätte Gott mich nicht auch gesund machen können?  


Es gibt ja diesen Vers aus Psalm 139,14: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele“. Das war so ein Wort – ich mag den Psalm sehr – aber das konnte ich lange Zeit nicht beten, weil ich das nicht so empfunden habe. Ich wollte so aufwachsen wie andere Kinder auch. Aber das ging eben nicht.

Zum Beispiel, wenn eine Party stattfand: Bei lauter Musik und vielen anderen Stimmen ist eine Unterhaltung für mich schwierig. Und dann zieht man sich irgendwann halt immer mehr zurück. So war es zumindest bei mir. Ich habe mein eigenes Leben gelebt und war einzelgängerisch unterwegs.

Angenommen und geliebt trotz Hörbeeinträchtigung

ERF: Ihre Hörbeeinträchtigung hatte natürlich auch Auswirkungen auf Ihre Berufswahl und Ihren weiteren Werdegang. Wie ging es nach der Schule für Sie weiter?

Stefan Wagener: Zum Ende der Schulzeit kam die Berufsberatung. Und es war klar: Wenn man hörbehindert ist, sucht man sich keinen Beruf aus, in dem man viel kommunizieren muss, sondern einen Beruf, wo man eher für sich arbeitet. Mir wurde vorgeschlagen, ein Handwerk zu lernen.

Ich habe drei Jahre lang eine Ausbildung zum Tischler gemacht und war dann noch drei Jahre als Geselle unterwegs. Dann habe ich mir gedacht: Du machst was ganz Verrücktes. Du gehst auf die Walz! Die anderen Leute aus dem Dorf waren fest verwurzelt in Vereinen und so weiter, aber ich habe eher einzelgängerisch gelebt und war frei. Ich habe mir gesagt, ich nutze diese Freiheit und mache das Beste daraus. Ich wollte also um die Welt reisen.

Doch bevor ich mich auf die Walz machte, wollte ich noch eine Sache mit Gott klären.

Ich musste Frieden finden und die Frage klären: Wie gehe ich damit um, dass Gott mich so geschaffen hat wie ich bin?


Dann ergab sich für mich die Möglichkeit, auf ein Bibelseminar zu gehen. Das wollte ich ein halbes Jahr machen, um mal gründlich über Gott und die Welt und mich nachzudenken.
 

ERF: Welche Erkenntnisse haben Sie in dieser Zeit gewonnen?

Stefan Wagener: Im Marburger Bibelseminar konnte ich zur Ruhe kommen. Ich hatte Zeit zum Nachdenken, bekam neue Impulse von außen und habe mich selbst nochmal neu entdecken dürfen.

Ich fand Gedanken des Religionsphilosophen Martin Buber sehr faszinierend, die besagen, dass das Ich am Du wird – und das hat mir nochmal deutlich gemacht: Wenn ich mich immer weiter zurückziehe, isoliere ich mich von Menschen und werde auch immer weniger von Gott erfahren. Das war eine wichtige Erkenntnis.

Außerdem habe ich die gute Erfahrung gemacht, dass ich Menschen an meiner Seite hatte, die mich nicht über meine Hörbehinderung definiert haben. Sie haben mich als ganzen Menschen angenommen. Das haben meine Eltern und Geschwister natürlich auch gemacht, aber durch meine Mitschüler am Bibelseminar habe ich irgendwann gelernt, dass Gott mich liebt, so wie ich bin.
 

ERF: Aus dem halben Jahr wurden dann doch ganze drei Jahre Bibelschule. Warum sind Sie dort geblieben?

Stefan Wagener: Ich wollte eigentlich ja nur ein halbes Jahr aussetzen und dann auf die Walz gehen. Aber in diesem halben Jahr habe ich gemerkt: Jetzt beginnt etwas mit mir, das ich gerne mit Gott weiterführen will. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Bibelschule fertig machen konnte und habe danach noch eine Erzieherausbildung hinten drangehängt. Denn ich wollte nun mit behinderten Menschen arbeiten und dachte, ich bin da vielleicht am richtigen Ort. Deswegen wollte ich meine persönliche Erfahrung mit Pädagogik, Tischlerei und Theologie vermixen.

Neue Technik, neue Möglichkeiten 

ERF: Sie haben Ihre Pläne dann aber noch einmal über den Haufen geworfen. Wie kam es dazu?

Stefan Wagener: Zum Ende des Bibelseminars und während der Erzieherausbildung hatte ich ein neues Hörgerät bekommen. Das heißt, mein Hörvermögen wurde optimiert. Dadurch entwickelten sich auf einmal ganz neue Möglichkeiten. Ich konnte Seminare besuchen und viel besser an Diskussionen teilnehmen. Nach der Erzieherausbildung habe ich mir deshalb gesagt: Warum mache ich nicht nochmal was ganz Verrücktes?! Ich war noch nicht verheiratet und habe dann mit 28 angefangen, Theologie zu studieren.
 

ERF: Wie haben die Menschen in Ihrem Umfeld darauf reagiert?

Stefan Wagener: Manche haben gesagt, ich wäre verrückt. Wenn man behindert ist, kann man sich entweder zurückziehen und sagen: Okay, dann bin ich jetzt halt so, mache auf Mitleid, alle müssen mir helfen und jeder hat Verständnis für alles Mögliche. Oder man kann sagen:

Jetzt gehe ich doch noch mal über meine Grenzen hinaus und lasse mir diese Grenzen nicht von irgendwelchen Leuten bestimmen, die angeblich wissen, was ich machen kann und was nicht. Das habe ich im Laufe der Zeit gelernt.


Dazu haben mich auch mein Glaube und die Menschen um mich herum ermutigt. Das ist also nicht nur meine eigene Leistung. Ich bin dankbar für die vielen Menschen, die mich schon damals im Jugendkreis und später auch im Bibelseminar aufgenommen haben und mich nicht auf meine Hörbehinderung reduziert haben. Dass ich mehr als das bin, habe ich dadurch dann irgendwann auch selber glauben können.

„Bei Gott darf ich sein, wie ich bin“

ERF: Sie sind heute Pfarrer einer hessischen Ortsgemeinde in der Evangelischen Kirche Kurhessen‑Waldeck. Was geben Sie als Pfarrer den Menschen weiter? Wie ermutigen Sie andere?

Stefan Wagener: Mir ist es wichtig, dass ich die Menschen in ihrem Alltag immer wieder mit Gott verbinde. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir vieles ohne Gott tun und ihn außen vor lassen. Aber in herausfordernden Situationen, zum Beispiel wenn wir in Not sind, oder bei einem Trauerfall, da suchen wir vielleicht doch seine Nähe.

Aber ich möchte den Menschen einfach sagen: Gott ist nicht nur für schlechte Zeiten da, sondern er ist immer bei mir wie ein guter Hirte. Er begleitet mich, er verändert mich. Er hilft mir in jeder Situation und auch dabei, mit meiner Schuld und meiner Schwäche umzugehen. Ich muss vor ihm keine Maske aufziehen, sondern ich kann sein, wie ich bin. Das ist einfach toll!

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
 

 Sonja Kilian

Sonja Kilian

  |  Redakteurin

Die verheiratete Mutter zweier Töchter liebt inspirierende Biografien. Deshalb liest sie gern, was Menschen mit Gott erlebt haben, schreibt als Autorin darüber und befragt ihre Gäste in Interviews auf ERF Plus.

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