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© B Mat an gelo / unsplash.com

11.08.2023 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Kai Rinsland

„Am Anfang brauchst du Mut“

Kreativität fliegt nicht einfach zu. Der klassische Bläser und Komponist Ben Roundtree erzählt.

Menschen weinen bei Konzerten, die Musik macht etwas mit ihnen. Aber der Weg dorthin ist weit. Am Anfang steht in der Regel eine gute Komposition. – Ben Roundtree ist klassischer Bläser. Er spielt Tuba und Posaune, außerdem ist er Komponist, Arrangeur und Dirigent. Er möchte, dass Menschen durch seine Musik bewegt und im besten Fall auch von Gott berührt werden.

Wie sieht ein kreativer Prozess bei ihm aus? Lässt sich die gewünschte Wirkung von Musik überhaupt planen? In unserer Reihe zum Schwerpunktthema „Kreativität“ hier ein Gespräch über Mut und Selbstvertrauen auf dem Notenpapier.

 

ERF: Herr Roundtree, wenn ein schwerer Brocken Arbeit geschafft ist, sagt man leichthin: „Das war eine schwere Geburt!“ Gilt das auch für kreatives Arbeiten, zum Beispiel beim Komponieren?

Ben Roundtree bei einem Konzert
Ben Roundtree (*1974) stammt aus der Nähe von Washington, D.C. und lebt seit 2017 mit seiner Familie im Schwarzwald. Er hat einen Master in Tuba und Orchestermusik, ist Bläser, Komponist, Arrangeur, Dirigent und Handglockenmusiker.
Er ist im Leitungsteam des Blechbläser-Ensembles eurobrass und gibt Workshops und Schulungen für Posaunenchöre. (Copyright: Ben Roundtree)

Ben Roundtree: Bei meiner ersten Auftragskomposition wurde ich gebeten, etwas für ein Euphonium-Ensemble zu komponieren für eine Konferenz. Dann saß ich aber da und hatte keine Idee. Ich musste mir eingestehen: Eigentlich kann ich das gar nicht. Das dachte ich zumindest.

Bei der Suche nach einem Thema kam ich dann auf meine Tochter. Sie hat einen Gen-Defekt, das CHARGE-Syndrom. Die Buchstaben dieses Wortes habe ich dann genommen, beziehungsweise deren Töne, und daraus eine Melodie erzeugt. Ich habe also künstlich etwas erschaffen und dann über die Erfahrungen der Geburt und die Erkrankung unserer Tochter komponiert.
 

ERF: Eine verblüffend einfache Idee, könnte man meinen. Was aber, wenn der Knoten an der Stelle nicht geplatzt wäre? Gab es das auch schon in Ihrer Arbeit?

Ben Roundtree: Bei einer anderen Auftragskomposition, das war emotional für mich und auch ein besonderes Erlebnis mit Gott. In der Zeit habe ich intensiv gebetet. Aber ich war manchmal blockiert, hatte keine Kraft. Dann bin ich in ein anderes Zimmer gegangen, habe wieder mit Gott gesprochen und zu ihm gesagt: Du hast mir diese Aufgabe gegeben, aber ohne dich kann ich nicht weitermachen. Dann bin ich zurück zum Schreibtisch… und es ging weiter! Das war wirklich etwas Besonderes.

Kreativität = Inspiration?

ERF: Sie glauben an den Schöpfergott der Bibel. Gibt es Ihrer Ansicht nach überhaupt Kreativität ohne Gott – in anderen Worten: ohne Inspiration von oben?

Ben Roundtree: Kreativität und Inspiration würde ich nicht direkt miteinander vergleichen. Die Bibel ist von Gott inspiriert, das können Theologen besser erklären. Mir ist aber bewusst, dass auch meine kreativen Gaben und meine bisherigen Erfahrungen von Gott kommen.

Kreativität hat verschiedene Facetten: Sie ist Gestaltungskraft, Erfindergeist und individuelles Ausdrucksmittel. Anlässlich unseres Schwerpunktthemas „Kreativität“ haben wir mit Menschen gesprochen, die kreativ arbeiten und mit ihnen über Inspiration, Fleißarbeit und Selbstverwirklichung gesprochen.

Es ist eine geistliche Sache, wenn ich komponiere. Dabei schließe ich nicht einfach die Augen und höre Musik vom Himmel. Aber die Verbindung ist da. Es hört sich immer nach mir an, es ist mein Stil, meine Ausdrucksweise, aber ich brauche Hilfe und Ideen von Gott. Mir ist wichtig, dass Glaube und Musik zusammenkommen. Ich würde nicht das eine ohne das andere machen.

Es ist eine geistliche Sache, wenn ich komponiere. Es hört sich immer nach mir an, es ist mein Stil, meine Ausdrucksweise, aber ich brauche Hilfe und Ideen von Gott.

ERF: Können Sie am Ende noch nachvollziehen, welcher Teil des Werkes woher stammt?

Ben Roundtree: Das ist nicht wichtig, Gott wirkt im Grunde beides in mir. Man kann es vergleichen mit dem Gespräch mit einem trauernden Menschen. Die Worte, die aus meinem Mund kommen, kommen aus meinem Wortschatz und meiner Erfahrung. Aber wenn Gott mir in diesem Moment nicht die richtigen Worte gibt, ist es nichts. So auch beim Komponieren: Ich glaube, dass Gott in meiner Arbeit wirkt, und ich vertraue auf seine Hilfe.
 

ERF: Woher wussten Sie, dass Sie komponieren können? Gab es schon vor der ersten Symphonie erste Ansätze?

Ben Roundtree: Das war recht spät. Erst mit fast 40 habe ich angefangen zu komponieren. Vorher habe ich schon als Teenager Werke arrangiert, zum Beispiel für meine High-School-Band oder die Blechbläser meiner Gemeinde. Dabei habe ich mit der Zeit gelernt zu orchestrieren, für kleine und große Besetzung, oder wie man die richtige Stimme schreibt für eine Violine im Gegensatz zu einer Tuba oder Oboe. Und auch, wie man Emotionen durch Musik erzeugt.

Das reine Handwerk habe ich also schon länger geübt und dann war ich irgendwann bereit, die Ideen zu Papier zu bringen, die mir selbst einfallen.

Kunst und Recycling

ERF: Das richtige Handwerk und ausreichend Erfahrung, sind das schon die beiden Schlüssel zur Kreativität?

Ben Roundtree: Im Studium habe ich folgende Definition von Kreativität gehört – auf Englisch: „to take ideas and reorganize them in a way that creates something new.“ Also sinngemäß: Ich nehme verschiedene Ideen und organisiere sie neu in einer Art, die vorher noch nicht da war.
 

ERF: Dann entsteht Neues immer nur aus bereits vorhandenem Material?

Ben Roundtree: Musikalisch gesehen, ja. Nehmen wir die 12 Töne der westlichen Musikwelt, sie sind schon lange bekannt, und auch, wie man daraus Melodien und Akkorde oder Klänge baut. Einiges existiert schon, aber mit viel handwerklichem Geschick lässt sich da auch noch viel draus hervorholen.
 

ERF: Schwer vorstellbar, wenn man nur daran denkt, wie viel schon allein Komponisten wie Johann Sebastian Bach geschaffen haben …

Ben Roundtree: Bachs Choräle sind zahlreich und wir staunen über seine Kreativität. Aus Bachs Werk lassen sich viele Regeln für die Musik ableiten. Aber Bach selbst hat gesagt, dies alles war „nur“ eine Methode zu arrangieren.

Er hat sicher auch Stücke komponiert, also etwas künstlerisch „Neues“ erfunden, aber er hat sich immer auch als reinen Handwerker gesehen, der in Kontakt ist mit seinem Schöpfer und der anwendet, was er erkannt und gelernt hat.
 

ERF: Haben denn neue Kompositionen immer schon an sich einen Wert, nur weil sie neu sind?

Ben Roundtree: Es mag Dinge geben, die ganz neu sind, aber sie gefallen mir persönlich nicht. Ob sie einen Wert haben, hängt immer vom Publikum ab. Nur etwas Neues zu machen, ohne dass es auch gut ist oder eine gewisse Schönheit in sich trägt? Nein, ich glaube nicht, dass „neu“ allein schon genügt.

Mühe und Schweiß gehören dazu

ERF: Komponieren ist kreative Arbeit und das Stichwort „Handwerk“ ist schon gefallen. Was gehört für Sie zum kreativen Handwerkszeug?

Ben Roundtree: Ich brauche Ruhe, damit ich mich konzentrieren kann. Es ist auch wichtig, dass es ich einen klaren Kopf habe. Am besten funktioniert kreatives Arbeiten für mich sogar, wenn ich eine Woche weg bin, ganz allein. Ich bin gerne mit anderen Menschen zusammen, aber wenn ich eine schwierige Aufgabe vor mir habe, brauche ich Zeit weit entfernt vom normalen Leben.
 

ERF: Spielen andere Menschen dabei auch eine Rolle?

Ben und Erin Roundtree sind das Bell Tree Duo
Auch mit seiner Frau Erin ist Ben Roundtree musikalisch mit dem BellTree Duo unterwegs. (Copyright: Ben Roundtree)

Ben Roundtree: Ich habe 20 Jahre lang in einer großen Gemeinde in den USA als Orchesterleiter gearbeitet. In der Zeit habe ich viel mit anderen Musikern, Sängern und Songwritern gearbeitet. Einige meiner besten Ideen stammen aus dieser Zeit. Das ist dann immer eine Kombination aus meiner Kreativität und der Zusammenarbeit mit anderen Menschen und ihren Begabungen.
 

ERF: „Arbeit“ klingt immer nach Mühe und Schweiß, auch bei kreativem Arbeiten. Was ist die Motivation hinter alldem?

Ben Roundtree: Ich möchte Menschen durch meine Musik bewegen. Ich möchte Musik komponieren und arrangieren, sodass das Publikum sie verstehen kann und davon berührt wird. Ich komponiere nicht nur das, was ich will oder was die Kunst weiterbringt. Ich schreibe lieber Musik für normale Leute, die neue Ideen enthält, aber durch die Menschen eine Verbindung zu Gott erleben oder zumindest ins Nachdenken kommen.

Ich schreibe Musik für normale Leute, die neue Ideen enthält, aber durch die Menschen eine Verbindung zu Gott erleben oder ins Nachdenken kommen.

Manchmal geht es einfach darum, seine Arbeit zu machen

ERF: Als Komponist leben Sie von Ihrer Kreativität. Sie ernähren damit sogar eine Familie. Ist Geld damit zu verdienen eine gute Motivation für kreatives Arbeiten oder eher eine Last?

Ben Roundtree: Wenn ich als kreativer Mensch einen Vertrag unterschreibe, dann ist das eine Art Kooperation, und das ist okay. Was dabei herauskommt, kann manchmal gut sein, manchmal auch nicht. Mein Job in der Gemeinde war es zum Beispiel, den Menschen zu dienen mit Gottesdienstmusik. Was macht den Gottesdienst besser? Was hilft den Besuchern?

Also habe ich Arrangements für Lobpreislieder angefertigt und wir haben sie im Gottesdienst gespielt. Ich habe einfach meine Arbeit gemacht. Hätte ich ein klassisches Stück komponiert, wäre da zwar sehr viel Kreativität hineingeflossen, aber das hätte nicht zum Gottesdienst gepasst. Ich habe dann an anderer Stelle etwas Kreativeres gemacht, zum Beispiel für das Profi-Ensemble eurobrass oder für ein Posaunen-Quartett oder für Freunde.

Der zündende Gedanke braucht Mut

ERF: Wann wird Kreativität zur Belastung? Wenn das Werk nicht gut wird oder wenn es einfach nicht gelingen will? Gibt es den Moment, wo man aufgibt?

Ben Roundtree: Du brauchst am Anfang immer ein bisschen Mut und Selbstbewusstsein, wenn du komponieren willst. Da spüre ich oft Unsicherheit, aber auch das Wissen: Gott hat schon oft etwas durch mich zustande gebracht.

Es ist immer beides: Ich weiß, dass ich komponieren kann, und ich weiß auch, dass es nicht sein wird wie Mozart, Beethoven oder Schönberg.

ERF: Sie vergleichen sich nicht mit anderen Komponisten?

Ben Roundtree: Das muss ich nicht. Und ich muss auch nicht so klingen wie Brahms, denn das ist ja schon gemacht worden. Ich habe die Zuversicht und das Vertrauen, dass das, was ich bringe, einen Wert hat. Also, da ist Angst und Kämpfen und irgendwann komme ich in einen Flow. Ich habe eine Idee, darauf kann ich aufbauen und dann kommt etwas zustande.
 

ERF: Und wenn Ihnen am Anfang der Impuls fehlt, der zündende Gedanke? Sie fangen doch im Grunde immer bei null an, eine Art „Schaffen aus dem Nichts“, wie bei der Schöpfung?

Ben Roundtree: Das ist ein guter Vergleich. Gott ist der Schöpfer und wir sehen seine Kreativität überall. Ich habe ein Posaunenquartett darüber komponiert, wie Gott aus dem Nichts etwas erschaffen hat. So gehe ich oft vor, wenn ich kreativ arbeite: Ich wähle oft einen Bibelvers oder ein geistliches Thema aus und dann komponiere ich und habe diese Sätze oder Gedanken immer im Blick.

Das gehört für mich zu einer gelungenen Komposition dazu: der Hintergrund, die Entstehung. Es geht um mehr als Noten. Musik ohne Erklärung geht natürlich auch, aber mit einem interessanten Titel oder einer Geschichte können Menschen noch mehr bewegt werden. Es reicht nicht immer, nur die richtigen Töne zusammenstellen.
 

ERF: Herzlichen Dank für das Gespräch.
 

 Kai Rinsland

Kai Rinsland

  |  Redakteur und Programmplaner

Der gebürtige Gießener schreibt für ERF.de und koordiniert die Produktion der ERF Antenne. Daneben ist er aktuell die Stationvoice von ERF Plus. Er lebt mit seiner Frau in einem Holzhaus, geht wandern, klettern und e-biken. Er isst gerne Fisch und genießt kräftigen Espresso.

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