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© DNK Photo / unsplash.com

04.01.2022 / Interview / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Micaela Kassen

Orientierung im Übersetzungsdschungel

Dr. Carsten Ziegert gibt Tipps, wie du die passende Bibel für dich finden kannst.

Vielleicht hast du den Entschluss gefasst, wieder mal mehr in der Bibel zu lesen – oder aber du startest ganz neu mit dem Bibellesen. In beiden Fällen stellt sich schnell die Frage: Welche Bibel ist die richtige für mich? Mittlerweile gibt es so viele Bibelübersetzungen, dass schon deren Auswahl verwirren kann.

Dr. Carsten Ziegert ist Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen. Zuvor hat er mit der Organisation Wycliff an einem Bibelübersetzungsprojekt im Tschad gearbeitet.

Im Interview spricht er über die Entstehung und die Unterschiede von Bibelübersetzungen und gibt Tipps, wie man die passende Bibel für sich finden kann.

Entstehung der Bibelübersetzungen

ERF: Herr Ziegert, Sie sind Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen – die Bibel ist sozusagen ihr wichtigstes Arbeitsmittel. Wie viele deutsche Bibelübersetzungen gibt es überhaupt?

Carsten Ziegert: Ich habe das meine Studenten herausfinden lassen und ihnen die Aufgabe gegeben, im Internet über mehrere Stunden zu recherchieren. Eine Gruppe von Studenten hat tatsächlich 90 deutsche Bibelübersetzungen gefunden. Da waren einige etwas älter, die Lutherbibel, die schon aus dem 16. Jahrhundert kommt, und ein bis zwei aus dem 17./18. Jahrhundert. Die allermeisten von diesen 90 sind jedoch in den letzten 200 Jahren entstanden.

Daran merken wir, dass die Frage nach Bibelübersetzungen für die deutsche Sprache ein Luxusproblem ist, wenn man bedenkt, dass es Volksgruppen in anderen Ländern in Afrika, Asien oder Südamerika gibt, die nur eine Bibelübersetzung oder überhaupt keine haben.


ERF: Luther hat vor 500 Jahren die Bibel übersetzt. Was war seine Motivation und warum gibt es so viele verschiedene Bibelübersetzungen?

Carsten Ziegert: Bevor Luthers Neues Testament im September 1522 herauskam, hatte er tatsächlich schon Vorgänger gehabt. Es gab also schon einzelne Bibelübersetzungen ins Deutsche, aber das waren immer nur Teilübersetzungen – hier mal ein Evangelium oder da mal eine Auswahl an Psalmen.

Luthers starkes Anliegen war die Verständlichkeit. Die Menschen sollten das Evangelium verstehen: dass Gott Mensch wird in Jesus Christus, dass Jesus unsere Schuld auf sich nimmt und sich am Kreuz töten lässt – stellvertretend für unsere Schuld. Das war Luther ganz wichtig.

Damit seine Bibelübersetzung verständlich ist, hat Luther sie immer wieder überarbeitet und revidiert, wenn er gedacht hat, dass es vielleicht noch eine bessere Lösung oder Formulierung gibt.

Aus diesem Anliegen heraus sind noch viele weitere Übersetzungen entstanden – vor allem jetzt im 20. und 21. Jahrhundert. Manchmal hat man noch Erklärungen beigegeben, damit das Evangelium besser zu den Menschen kommt.

Unterschiede zwischen den Übersetzungen

ERF: Worin besteht der Unterschied zwischen wörtlichen und freien Übersetzungen?

Carsten Ziegert: Populärwissenschaftlich wird von wörtlichen und freien Übersetzungen gesprochen, doch ich mag diese Bezeichnungen eigentlich gar nicht. Es wird behauptet, die wörtlichen Übersetzungen sind gut und genau. Und die freien Übersetzungen – wovon sind sie frei? Das klingt danach, als würden die Übersetzer frei entscheiden und sich irgendetwas ausdenken oder etwas hinzufügen.

Die wissenschaftlich korrekte Terminologie lautet formal-äquivalent – an der Form des Ausgangstextes orientiert („wörtlich“) – oder funktional-äquivalent („frei“), das heißt jeder Text hat irgendeine Funktion und diese Funktion des Textes soll rüberkommen.

Wenn wir Übersetzungen als „frei“ bezeichnen, meinen wir damit Übersetzungen, die die Funktion des Ausgangstextes bewahren.

Ein Kochrezept hat eine Funktion: dass ich das Rezept nachkochen kann. Ein Bibeltext hat auch eine bestimmte Funktion, zum Beispiel ein Brief des Apostels Paulus hat die Funktion, die Kirche in irgendeiner Stadt auf Missstände hinzuweisen oder auch zu ermutigen, das Evangelium klar rüberzubringen. Diese Funktion muss gewahrt bleiben.

Da das eigentlich etwas Positives ist, bin ich mit dieser Unterscheidung „wörtlich“ oder „frei“ gar nicht einverstanden. Man sagt zum Beispiel: „Diese Übersetzung ist gut, sie ist wörtlich, aber jene Übersetzung – das ist nur eine Übertragung oder eine freie Übersetzung.“ Das kann man nicht sagen mit dieser abwertenden Nuance, denn in der neueren Übersetzungswissenschaft sagt man, dass der Zweck einer Übersetzung ganz wichtig ist.


ERF: Das heißt, es gibt Übersetzungen, die stärker die Funktion eines Textes vermitteln, während andere möglichst präzise den hebräischen und griechischen Urtext wiedergeben wollen. Gibt es eine besonders genaue Bibelübersetzung? 

Carsten Ziegert: Was bedeutet genau? Auf welcher Ebene soll es genau sein? Wenn man sagt, ich möchte auf der wörtlichen Ebene etwas Genaues haben – auf der formal-äquivalenten Ebene – dann ist das eine ganz andere Fragestellung, als wenn ich mich dafür interessiere, ob der Sinn genau wiedergegeben wird.

Im deutschsprachigen Bereich wird oft die Elberfelder Bibel als die genaueste Bibelübersetzung bezeichnet. Denn die Elberfelder Bibel gibt den griechischen und hebräischen Ausgangstext ziemlich exakt Wort für Wort wieder. Ein Leser mit wenig Vorwissen könnte allerdings Schwierigkeiten haben, den Sinn des Textes zu verstehen.

Eine funktional-äquivalente Übersetzung, wie zum Beispiel die Gute Nachricht Bibel (GNB) kann ebenfalls als genau bezeichnet werden – und zwar auf der Ebene des Sinnes und der Funktion.

Praktische Tipps zur Auswahl einer Bibelübersetzung

ERF: Haben Sie Tipps, wie ich die richtige Bibelübersetzung für mich finden kann? Auf was sollte ich achten?

Carsten Ziegert: Da bestimmt der Zweck die Wahl der Bibelübersetzung. Die Frage ist: Was will ich mit einer Bibel tun? Will ich sie für mich persönlich lesen? Will ich sie in der Tiefe studieren? Oder will ich vielleicht eine Predigt, eine Bibelarbeit vorbereiten?

Wenn der Zweck ist, den Inhalt beziehungsweise die Botschaft der Bibel und die großen Zusammenhänge der Bibel besser kennenzulernen, dann würde ich eine funktional-äquivalente Übersetzung empfehlen.

Da ist der Leseaufwand nicht so groß. Da kann man auch am Stück ein oder mehrere Kapitel lesen, ohne dass man beim Lesen ermüdet.

Man muss bedenken: Bei den ersten Lesern der biblischen Schriften, deren Muttersprache Griechisch oder Hebräisch war, waren die Texte in einer ganz normalen, natürlichen Sprache geschrieben. „Wörtliche“ Übersetzungen wirken dagegen oft unnatürlich. Warum sollten wir diese Mühe haben, wenn wir das Evangelium verstehen wollen?

Wenn man in die Tiefe gehen will und überlegen möchte, warum der Autor zweimal dasselbe Wort verwendet hat, dann ist das bei funktional-äquivalenten Bibelübersetzungen verwischt. Für die Gleichheit in der Wortwahl wäre eine Elberfelder Bibel, eine Lutherbibel oder eine Menge Bibel das Mittel der Wahl.

Eine gute Möglichkeit, diese beiden Anliegen der Verständlichkeit und des Studiums vereint die Neue Genfer Übersetzung, denn die liest sich sehr flüssig und ist nach dem Modell der funktional-äquivalenten Übersetzungen erstellt worden, hat aber gleichzeitig ganz viele Fußnoten. Also wer zusätzliche Informationen zur wörtlichen Übersetzung haben will, der findet in den Fußnoten zumindest Angaben wie es wörtlich im Originaltext heißt.
 

ERF: Die beiden Fälle, die Sie angesprochen haben, betreffen vor allem das stille Lesen der Bibel. Welche Bibelübersetzung würden Sie für den Gottesdienst empfehlen?

Carsten Ziegert: Für den Gottesdienst wäre zunächst die Frage, um was für einen Gottesdienst es sich handelt beziehungsweise an welche Denomination man traditionell gebunden ist. In einer lutherischen Kirche wird man wahrscheinlich eher die Lutherbibel lesen als in einer katholischen Kirche.

Beim Gottesdienst ist auch zu beachten, dass die Texte vorgelesen werden. Das heißt: Die Bibelübersetzung sollte, auch wenn sie vorgelesen wird, gut verständlich sein. Sie sollte aber auch zur Liturgie passen.

Ich würde empfehlen, ein paar Bibelübersetzungen ausprobieren, wenn nicht eine kirchliche Tradition dagegenspricht.

Die Person, die für die Liturgie im Gottesdienst verantwortlich ist, sollte sich überlegen, wie es klingt, wenn man einen bestimmten Bibeltext in einer bestimmten Übersetzung vorliest. Da kann man keine generellen Ratschläge geben.

Zu beachten ist zudem, dass christliche Gottesdienste auch säkularisierte Menschen erreichen wollen. Wie wirkt es also, wenn die Sprache der Bibeltexte unnatürlich ist? Wie wirkt der Text auf Menschen, die erstmalig in einen Gottesdienst kommen und von einer Sprache erschlagen werden, die sie gar nicht verstehen?

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
 

 Micaela Kassen

Micaela Kassen

  |  Freie Mitarbeiterin

Die gelernte Theologin studiert derzeit Psychologie und ist auf Kinder- und Jugendpsychologie spezialisiert. Sie hat als Lerntherapeutin gearbeitet und ist aktuell als Sozialarbeiterin in einer intensiv-pädagogischen Einrichtung tätig. Redaktionell setzt sie ihre Schwerpunkte auf die psychische Gesundheit und Kindererziehung. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.

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Kommentare (3)

Anon /

Einige Aussagen sind fragwürdig, so etwa Bibelübersetzung nach Denomination, kirchliche Tradition und Liturgie anzupassen. Die Bibel bzw. die Gemeinde ist kein Verein, wo man sich nach Gutdünken mehr

Past. Bruno Zimmerli /

Viele sagen, dass (nur als Beispiel genannt) die Elberfelder-Übersetzung die genaueste sei. Andere führen an, dass moderne Übersetzungen (z.B. Gute Nachricht) in unserer postmodernen Zeit besser mehr

Stefan /

Sehr aufschlußreicher und bildender Text, ich habe viel dazugelernt. Danke!

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