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03.07.2024 / Persönlich / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Susanne Pommerien-Weidner

Meisterliches Mittelmaß

Auf den ersten Blick scheint es ein Mauerblümchen zu sein, das Mittelmaß. Susanne Pommerien-Weidner schaut hinter die graue Fassade.

Das Mittelmaß tut mir leid. Nach dem Duden wird das Wort oft abwertend verwendet und laut einer Statistik des wissenschaftlichen Projekts „Wortschatz Leipzig“ auffällig häufig mit dem Wörtchen „nur“ verwendet.

Mich interessiert, was die Instagram-Welt über Mittelmäßigkeit sagt und nehme mein Smartphone zur Hand. Die Social-Media-App liefert mir auf die Suchanfrage #Mittelmaß eine bunte Palette an Beiträgen: einzelne Posts, die sich gegen die ewige Selbstoptimierung wehren und das Mittelmaß als Chance für ein entspannteres Leben sehen. Die meisten Angebote jedoch wollen mir helfen, aus meiner eigenen Mittelmäßigkeit zu entfliehen.

Besonders eindrücklich der Reel einer hübschen jungen Frau mit blauer Sonnenbrille, die mir zuruft: „Mittelmaß ist Kacke! Bist du erfolglos? Weil du mittelmäßig bist? Raus aus der Standardsuppe!“ Sie bietet Workshops an, in denen sie ihre Erkenntnisse weitergibt. Und ich finde etliche weitere Varianten dieser Botschaft: „Gib dich nicht mit dem Mittelmaß zufrieden! Sei herausragend! Da ist noch mehr drin!“ Bei mir kommt an: „So, wie du bist, ist es nicht genug“. Ziemlich frustrierend!

Ich frage mich: Wo darf denn das Mittelmaß sein? Wo muss es sogar sein? – Doch zunächst: Wo hat das Mittelmaß nichts zu suchen?

Mittelmaß? – Bitte nicht!

Wenn mir für eine Operation am Rückenmark ein mittelmäßiger Neurochirurg empfohlen wird, dann suche ich einen anderen Arzt. Wenn eine Fluggesellschaft damit werben würde, dass sie mittelmäßig oft ans Ziel kommt, würde ich mich davor hüten, bei ihr zu buchen.

In solchen und ähnlichen Situationen brauche ich ein Höchstmaß an Leistung und Zuverlässigkeit. Das Mittelmaß könnte hier verheerende Folgen haben. Also, bitte keine Mittelmäßigkeit, wenn es um Leib und Leben geht.

Mittelmaß? – Erstmal okay.

Daneben gibt es Lebensbereiche, in denen das Mittelmaß geduldet wird: „Ihre Leistungen in unserer Firma sind mittelmäßig.“ – „Seine sportlichen Ergebnisse sind nur Mittelmaß.“ – „Das Wetter im Sommerurlaub war mittelprächtig.“

In diesen Fällen schwingt zumindest Enttäuschung, wenn nicht sogar unterschwellige Kritik mit. Der Fokus liegt darauf, dass es schlechter als gut ist. Statt besser als schlecht. Und der momentane Stand der Dinge sollte nur ein vorübergehender sein. Nach dem Motto: Da geht noch was, werde besser!

Mittelmaß? – Sehr gerne.

Doch es gibt auch Bereiche, in denen das Mittelmaß seine Zelte aufschlagen darf, ohne einen Platzverweis zu bekommen, und zwar dort, wo es eine Verbesserung darstellt: „Vor einem halben Jahr konnte ich noch kein Wort Italienisch und heute bin ich schon in der Lage, mich mittelmäßig auszudrücken.“ Oder: „Ihre Blutwerte haben sich verbessert: Sie bewegen sich nun in einem akzeptablen Mittelfeld.“

Das sind erfreuliche Aussagen: Es hat sich etwas getan. Wem hier der aktuelle Zustand reicht, der begnügt sich dauerhaft mit dem Mittelmaß.

Mittelmaß? – Unbedingt!

Doch es gibt sogar Situationen, in denen das Mittelmaß unverzichtbar ist, und zwar immer dann, wenn ein Höchstmaß unverhältnismäßig viel kosten würde – an Kraft, Energie, Zeit oder Geld.

In der Arbeitswelt hat sich die Anzahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen im letzten Jahrzehnt um 50% erhöht. Auf dem Vormarsch sind nicht nur Depressionen, sondern auch der Burnout. Ursachen hierfür können dauerhafte Über- oder Unterforderung, Zeitdruck oder Konflikte am Arbeitsplatz sein, ebenso eine zu hohe Einsatzbereitschaft, die zur Vernachlässigung eigener Bedürfnisse führt.

Für den „Dauerlauf Alltag“ ist also eine gesunde Mittelmäßigkeit wichtig. Eine innere Ausgewogenheit, die die eigenen Kraftressourcen kennt und sie zur rechten Zeit auch wieder aufzufüllen weiß. Das Gleichgewicht von Leistung und Entspannung muss stimmen. Ein in den 1990er Jahren aufgekommener Begriff nennt es die „Work-Life-Balance“.

Hier kann ich von der Generation Z lernen, die besser als die Generationen vor ihr verstanden hat, dass Leistung nicht die höchste Priorität im Leben einnehmen darf. Etwas, das ältere Menschen nach einem körperlichen Es-geht-nicht-mehr oft mühsam einüben müssen.

Doch ich muss mich korrigieren: Bereits um das Jahr 1950 gab es erste literarische Vorläufer der Work-Life-Balance: Der Autor Alexander Spoerl hat in seiner humorvollen Biografie „Memoiren eines mittelmäßigen Schülers“ beschrieben, wie er kräfteschonend durch seine Schulzeit kam:

„Vati sagte, man ginge nicht zur Schule, um Erdkunde zu lernen, Deutsch und Mathematik, sondern vor allem das Wesen der Arbeit. Das hatte ich schnell raus, denn ich fand die günstige Mitte zwischen Aufwand und Wirkung. Die Techniker bezeichnen dies als ‚optimalen Wirkungsgrad‘. Die Schule nennt es schlicht ‚befriedigend‘. ‚Gut‘ ist natürlich besser. Aber dieser kleine Unterschied von einer Zahl verlangt einen unverhältnismäßigen Mehraufwand an Aufmerksamkeit und Hausaufgaben. So wurde ich ein mittelmäßiger Schüler.“ („Memoiren …“, Piper & Co., München, 1950)

Ich will mehr und mehr lernen, Prioritäten weise in meinem Leben zu setzen, die zu mir und meinen inneren Ressourcen passen. Ich will es wagen, das Mittelmaß in geeigneten Bereichen meines Lebens zuzulassen.

Mittelmaß-Menschen in der Bibel

In vielen Predigten und Andachten geht es um bekannte Persönlichkeiten der Bibel, z.B. Abraham, Mose oder Paulus. Jeder von ihnen hat in der Geschichte Gottes mit dieser Welt eine herausragende Position eingenommen.

Eine Zeitlang dachte ich, jeder Christ bekommt irgendwann eine großartige Aufgabe oder geschichtsträchtige Berufung von Gott. Bis mich vor einigen Jahren ein Bekannter darauf hinwies, dass die allermeisten Menschen in der Bibel still mitgelaufen sind. Zum Beispiel das Volk Israel, das aus Ägypten befreit wurde und vierzig Jahre in der Wüste lebte – weit mehr als 600.000 Menschen. Oder die Fünftausend, die Jesus im Neuen Testament versorgt hat mit fünf Broten und zwei Fischen.

Sie alle bewegten sich im namenlosen Mittelfeld. Doch sie alle hat Gott geliebt. Für sie alle hat er seine Heilsgeschichte geschrieben. Als ich das verstanden hatte, begann ich mich zu entspannen. Gott hat mich geschaffen. Er wollte mich in dieser Zeit und auf diese Art haben. Er liebt mich. Er gibt meinem Leben Sinn und ein Höchstmaß an wundervoller Mittelmäßigkeit. Ich darf leben nach der Kraft, die ich habe.

Ich bin ein geliebter Mittelmaß-Mensch. Und das gefällt mir immer mehr.

Mittelmaß-Zeiten in der Bibel

In der Bibel finden wir neben herausragenden Menschen auch herausragende Ereignisse, die den Lauf der Geschichte Gottes mit den Menschen vorangebracht haben. Doch das sind nur die Rosinen. Der Kuchen bestand wie zu allen Zeiten aus einem unspektakulären Alltag.

Die Wüstenwanderung des Volkes Israel dauerte ungefähr 14.600 Tage. Viele davon, wenn nicht die meisten dieser Tage, waren von Routinen geprägt: wandern, Zelte aufbauen, essen, schlafen, aufstehen, Zelte abbauen und wieder wandern. Auf den ersten Blick belanglos, auf die gesamte Zeit betrachtet bedeutsam.

Auch in meinem Alltag als Christin gehe ich nicht von Wunder zu Wunder und von einer wichtigen Erkenntnis zur nächsten. Die Treue im Hintergrund, das regelmäßige Lesen in der Bibel, das Beten, das Ringen und Dranbleiben am Glauben machen den größten Teil meines geistlichen Lebens aus.

Ich nehme meinen gewöhnlichen Alltag dankbar an. Verlässlich wiederkehrende Routinen können mir eine innere Heimat werden.

Die Gemeinschaft der Mittelmäßigen

Jeder von uns ist auf seine Art mittelmäßig und gleichzeitig in einer anderen Weise herausragend. Ich möchte mehr und mehr lernen, das Mittelmaß meiner Mitmenschen nicht nur auszuhalten, sondern wertzuschätzen.

Habe ich vielleicht zum Mittelmaß meines Gegenübers eine passende eigene Stärke? Dann kann ich sie liebevoll anbieten. Gleichzeitig darf ich anderen mein Mittelmaß zumuten.

Und dieser Punkt ist oft schwieriger als der erste, weil er viel mit Demut zu tun hat, die bekennen muss: „Ich schaffe es nicht allein.“

In der Bibel, im Galaterbrief steht ein Vers, der diesen dynamischen Ausgleich beschreibt: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Galater 6,2) – Schwäche verbindet oft mehr als Stärke. Deshalb kann die Gemeinschaft der Mittelmäßigen eine starke Schar sein.

Meine Mittelmäßigkeit kann zu einem gewinnbringenden Miteinander beitragen.

Das Mittelmaß tut mir gut. – So wie es aussieht, hat der Duden keine Ahnung, wie viel Positives in diesem Wort steckt. Ich nehme mir vor, es ab jetzt auffällig oft mit dem Wörtchen „meisterlich“ zu verknüpfen.

 Susanne Pommerien-Weidner

Susanne Pommerien-Weidner

  |  Redakteurin

Die wortverliebte Norddeutsche lebt seit einigen Jahren in Hessen. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter. Als Redakteurin arbeitet sie vorwiegend für die Sendung „Lesezeichen“.

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