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© Liza Summer / pexels.com

20.08.2024 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 10 min

Autor/-in: Rebecca Schneebeli

Gepäck aus der Kindheit

Von Bindungsangst bis People-Pleasing: Wie der Bindungsstil der Kindheit bis heute unser Verhalten lenkt.

Kinder haben eine besondere Fähigkeit, die Herzen von uns Erwachsenen zu gewinnen. Wenn ich meine Nichten besuche, werde ich – noch ehe ich durch die Tür bin – stürmisch und herzlich begrüßt. Kinder vertrauen sich in Beziehungen ganz ihrer Bezugsperson an: Eine positive Eigenschaft, die sie aber auch besonders verletzlich macht.

Als Kind kann ich noch nicht selbst für mich sorgen oder mich selbst verteidigen. Ich weiß nicht, wer mir wohlgesonnen ist und wer nicht.

Dadurch bin ich stark von meinen Eltern und anderen Bezugspersonen abhängig. Wie sie mir Beziehungen vorleben, so werde ich sie auch später im Erwachsenenalter leben. Umso schlimmer, wenn ich als Kind wiederholt negative Erfahrungen durchmachen musste und so einen schlechten Bindungsstil verinnerliche.

Vier Grundbedürfnisse in Beziehungen

Kinder haben im Kern vier Grundbedürfnisse in Beziehungen, die sich, wenn man genauer hinschaut, nicht groß von unseren Bedürfnissen als Erwachsene unterscheiden: Zugehörigkeit, Befähigung, Liebe und Fürsorge. Damit ist gemeint, dass Kinder zu einer Gruppe dazugehören, in ihrer Besonderheit und ihren Fähigkeiten gesehen sowie liebevoll und fürsorglich behandelt werden wollen.

Wo diese Bedürfnisse nicht geschützt und bewahrt werden, kommt es zu Verletzungen, die Kinder bis ins Erwachsenenalter in ihre Beziehungen mitnehmen. In der Fachsprache spricht man hier oft von einem „verletzten inneren Kind“.

Denn Erfahrungen aus der Kindheit streifen wir mit dem Älterwerden nicht einfach ab, sondern tragen sie mit uns herum. In bestimmten Situationen treten sie dann wieder zutage, wir werden von Angst oder Wut gepackt und verhalten uns plötzlich wieder wie ein Kind oder Teenager.

Dein Bindungsstil prägt dein Leben

Der Bindungsstil, mit dem wir aufwachsen, hat einen großen Einfluss darauf, wie wir als Erwachsene unser Leben meistern und ob wir sozusagen ein verletztes Kind mit im Gepäck haben.

Unter Bindungsstil versteht man die Art und Weise, wie Nähe und Beziehung in unserer Herkunftsfamilie gelebt wurden.

Priska Lachmann unterscheidet in ihrem Buch „Wie dein inneres Kind Heimat bei Gott findet“ zwischen drei Bindungsstilen: Sicher, ängstlich-ambivalent (in anderen Quellen auch als unsicher-ambivalent bezeichnet) und unsicher-vermeidend. Was verbirgt sich hinter diesen drei Begriffen?

Sicherer Bindungsstil

Menschen, die in einem Umfeld mit vorwiegend sicherem Bindungsstil aufgewachsen sind, haben in der Regel ein gesundes Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Sie haben erlebt, dass sie bei ihren Eltern sicher sind und auch Fehler ihrerseits nicht zum Verlust der elterlichen Liebe führen. Ihre Erfahrung ist: Die Eltern sorgen für sie und sie haben in ihnen zuverlässige Bezugspersonen.

Dadurch haben diese Personen eine grundsätzlich positive Sicht auf das Leben. Es fällt ihnen auch im Erwachsenenleben leicht, gute Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Denn sie haben ein gutes Gleichgewicht aus Nähe und Distanz erlernt.

Sie wissen, was gute Beziehungen ausmacht, und haben dies in ihrer Herkunftsfamilie vorgelebt bekommen. Selbst wenn auch ihr Erwachsenwerden nicht frei von Ängsten war, hatten sie in ihren Eltern einen festen Bezugspunkt, zu dem sie in bedrohlichen Situationen flüchten konnten.

Ängstlich-ambivalenter Bindungsstil

Personen, die mit diesem Bindungsstil groß geworden sind, glauben oft, sie müssten sich anstrengen, um geliebt zu werden. Sie hatten zwar feste Bezugspersonen, aber diese verhielten sich ihnen gegenüber ambivalent.

Etwa waren die Eltern sehr liebevoll, aber gleichzeitig dominant oder übermäßig ängstlich, oder es gab im Elternhaus Regeln, die für das Kind nicht nachvollziehbar waren. So wusste das Kind nie, woran es war, und bemühte sich immer, das vermeintlich Richtige zu tun. Die Folgen eines solchen Aufwachsens sind oft Selbstzweifel und die Angst, nicht gut genug zu sein.

Betroffene neigen zum People-Pleasing und zu hohen Ansprüchen an sich selbst, die sie teilweise auch auf andere übertragen.

In Beziehungen zeigen sie Verlustängste, beziehen das Verhalten anderer schnell auf sich und suchen nach ständiger Bestätigung. Dadurch fällt es ihnen oft auch schwer, Konflikte auszutragen. All dies macht langfristige Beziehungen schwierig. Wenn eine Beziehung oder Freundschaft zerbricht, bestätigt dies die Betroffenen oft in ihrem negativen Selbstbild und verstärkt das Problem noch weiter.

Unsicher-vermeidender Bindungsstil

Wer mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil aufgewachsen ist, hat seine Bezugspersonen als streng, emotional distanziert oder abwesend erlebt. Gegebenenfalls gab es sogar wechselnde Bezugspersonen und das Kind hatte den Eindruck, nie bei einer Person sicher zu sein.

Dadurch haben Betroffene abgespeichert, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Sie sind tendenziell distanziert, lassen andere nicht an sich heran und haben Bindungsängste. Sie wollen sich nicht von anderen abhängig machen, da sie in der Kindheit die Erfahrung gemacht haben, dass sie in ihrer Bedürftigkeit nicht gesehen wurden oder ihre Abhängigkeit sogar ausgenutzt wurde.

Selbst, wo diese Personen Beziehungen eingehen, bleiben sie meist auf emotionaler Distanz.

Oft suchen sie bei anderen eher nach Anerkennung als nach Liebe und präsentieren nach außen hin eine schöne Fassade. Dies sind Schutzstrategien, um Gemeinschaft zu erleben, ohne sich verletzlich zu machen. Im Kern bleiben Betroffene einsam.

Ein unsicherer Bindungsstil erschwert Beziehungen

Was haben diese unterschiedlichen Bindungsstile nun mit dem inneren Kind zu tun? Zum einen bewirken der ängstlich-ambivalente und der unsicher-vermeidende Bindungsstil, dass wir ein verletztes inneres Kind mit uns herumtragen. Zum anderen prägt unser Bindungsstil unser Verhalten in Beziehungen – gerade dann, wenn unser inneres Kind die Kontrolle übernimmt.

Wenn ich einen ängstlich-ambivalenten Bindungsstil erlernt habe, reagiere ich auf Probleme in einer Beziehung mit Verlustängsten. Ich bin dann gegebenenfalls in der Lage, den eigentlichen Konflikt anzugehen, sondern klammere, mache dem anderen Vorhaltungen oder setze mich selbst im Streit herab. Das wirkt sich negativ auf meine Beziehung aus.

Deshalb kann es hilfreich sein, sich über den eigenen Bindungsstil bewusst zu werden. So kann ich besser voraussehen, welche Situationen mein inneres Kind triggern könnten und mir frühzeitig überlegen, wie ich auf andere Weise mit diesen Situationen umgehen kann.

Die Folgen unsicherer Bindungsstile

Ein unsicherer Bindungsstil geht in der Regel mit einer oder mehrerer der folgenden Herausforderungen einher. Diese zählt Priska Lachmann ergänzend zu dem Bindungsstilen auch in ihrem Buch auf.

1. Kommunikationsschwierigkeiten

Oft fällt es Betroffenen schwer, angemessen und klar zu kommunizieren. Eventuell werden sie in bestimmten Situationen laut oder flüchten aus einem Gespräch.

Hinter Kommunikationsschwierigkeiten stecken oftmals verletzende Erlebnisse aus der Kindheit – sogenannte Trigger.

Das können auch Kleinigkeiten in einer ansonsten sicheren Beziehung sein. Bei mir ist es so, dass ich hektisch und zum Teil auch laut werde, wenn mich jemand hetzt. Das hat mit Erfahrungen aus meiner Kindheit zu tun, in denen von mir erwartet wurde, quasi auf Abruf parat zu stehen. Erlebe ich im Erwachsenenalltag ähnliche Situationen, setzt mich das unter Druck und ich reagiere wie ein trotziger Teenager.

Es fällt mir dann schwer, ruhig zu sagen: „Gib mir noch fünf Minuten“ oder „Ich habe die Zeit im Blick und bin gleich so weit“. Eher breche ich einen Streit vom Zaun. Mein Mann weiß das, aber trotzdem hat diese Angewohnheit schon zu manch kleinerem Clinch zwischen uns geführt.

Vielleicht entdeckst auch du solche Punkte bei dir und erlebst, dass du dich in bestimmten Situationen nicht angemessen ausdrücken kannst. Das muss nicht einmal in Konfliktsituationen sein. Es kann auch sein, dass es dir schwerfällt, deine Wünsche klar zu äußern oder dass dir das Neinsagen in bestimmten Situationen nicht gelingt.

Überlege dir einmal, welche möglichen Trigger aus der Kindheit dahinterstecken könnten. Wenn du ihnen auf die Spur kommst, verstehst du, dass deine Reaktion vielleicht weniger mit der gegenwärtigen Situation als mit deiner Vergangenheit zu tun hat. Dann kannst du überlegen, wie du beim nächsten Mal reagieren möchtest und was dir dabei helfen könnte, dich anders zu verhalten.

Auch kannst du in einer vertrauensvollem Beziehung deinem Gegenüber mitteilen, was die Situation bei dir getriggert hat, und ihr könnt miteinander klären, wie ihr damit in Zukunft umgehen könnt.

Schon das Wissen um deine Trigger hilft dir, ihnen besser zu begegnen. Wenn du größere Trigger bemerkst oder Schwierigkeiten hast, neue Kommunikationsstrategien einzuüben, kann dir eventuell eine seelsorgerliche oder psychologische Beratung helfen.

2. Schwierigkeiten, Gefühle zu regulieren

Die Schwierigkeit, angemessen zu kommunizieren, geht oft einher mit der Überforderung, die eigenen Emotionen zu regulieren. Auch hier sind die oben genannten Triggerpunkte oft ein Auslöser. Statt Wut oder Empörung zu benennen, schlagen Betroffene mit Türen oder schreien herum. Statt Enttäuschung zuzugeben, flüchten sie sich ins Weinen oder versuchen, den anderen durch emotionale Erpressung dahin zu lenken, die eigenen Wünsche zu erfüllen.

Für Partner, Freunde und Kollegen ist ein solches Verhalten sehr belastend, aber auch Betroffene fühlen sich selten wohl in dieser Lage. Oft empfinden sie ihr Leben als emotionale Achterbahnfahrt. Und weil es ihnen unmöglich scheint, ihre Gefühle zuzulassen, ohne darüber die Kontrolle zu verlieren, unterdrücken sie ihre Emotionen oft ganz.

Doch dies verschärft das Problem oft noch, denn Gefühle lassen sich nicht einfach wegschieben. Wenn sie sich lange genug angestaut haben, explodieren sie im ungünstigsten Moment, vielleicht schon wegen einer Kleinigkeit.

Wenn du die Erfahrung machst, dass du deinen Gefühlen machtlos gegenüberstehst oder gar mit dauerhafter Wut oder Traurigkeit durchs Leben gehst, lohnt es sich genauer hinzuschauen.

Was hat diese Wut oder Traurigkeit ausgelöst? Wo gäbe es die Möglichkeit, diesen Emotionen in einem sicheren Rahmen Raum zu geben, ohne dich und andere zu verletzen oder zu überfordern? Beispielsweise kannst du eine Runde um den Block joggen, wenn die Wut dich überrollt, und deinen Zorn in Bewegungsenergie umwandeln.

Oft hilft es schon, einen Schritt zurückzutreten und zu überlegen, welche Verletzung oder Angst die negative Emotion immer wieder entfesselt. Dann kannst du dich bewusst entscheiden, den Menschen in deinem Leben zu vertrauen und ihnen ehrlich gestehen: „Es macht mich gerade wütend/traurig, dass …“. Wenn dies nicht ausreicht, ist auch hier psychologische Hilfe ratsam.

3. Beziehungsängste

Wenn du dir als Kind einen ängstlich-ambivalenten oder unsicher-vermeidenden Bindungsstil antrainiert hast, prägt dieser vermutlich deine heutigen Beziehungen. Beide dieser Bindungsstile bergen aber unterschiedliche Beziehungsängste.

Personen mit einem ängstlich-ambivalenten Bindungsstil neigen zu Verlustängsten, solche mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil zu Bindungsängsten. Und wie es das Schicksal so will, ziehen sich diese beiden Personengruppen oft an.

Priska Lachmann bezeichnet das in ihrem Buch als „Wiederholungsmodus“: Indirekt wiederholen wir Bindungsverletzungen aus der Vergangenheit, indem wir uns unbewusst Partner oder auch Freunde suchen, die uns in der gleichen Weise wieder verletzen werden. Wir tun dies, um die ursprüngliche Verletzung zu heilen, tatsächlich wiederholen wir aber meist die Verletzung. Damit wird diese nur noch größer und dementsprechend auch die Bindungsangst.

Wenn ein Mann beispielsweise wiederholt erlebt, dass Freundinnen sich an ihn klammern, wird er immer weiter in seiner Bindungsangst bestätigt. Denn er will keine so einengende Beziehung. Eine Frau hingegen, die immer wieder Zurückweisung in einer enger werdenden Beziehung erlebt, wird beim nächsten Partner noch mehr versuchen, ihn möglichst schnell an sich zu binden. Denn sonst wird sie dauerhaft von Verlustängsten gequält.

Damit sich etwas ändern kann, müssen beide Partner zunächst erkennen, dass sie Beziehungsängste mitbringen.

Und sie müssen lernen, diese Ängste nicht mehr automatisch durch Klammern oder Flucht auszudrücken. Erst dann können sie beginnen, anders mit ihren Beziehungsängsten umzugehen und einen ehrlicheren Umgang mit dem Partner oder anderen Freunden zu finden.

Ich könnte zum Beispiel sagen: „Du, ich mag dich sehr und habe Angst dich zu verlieren“ oder „Hey, ich mag dich, aber ich brauche auch meinen Freiraum“. Ein solches Eingeständnis öffnet den Raum, um gemeinsam auszuloten, welches Verhältnis von Nähe und Distanz unsere Beziehung braucht und ob überhaupt eine gemeinsame Basis vorhanden ist. Vorher gleicht die Beziehungspflege einem Tauziehen, bei dem beide nur verlieren können.

Dein Bindungsstil ist kein Schicksal

Ein schlechter Bindungsstil und Beziehungshindernisse aus der Kindheit können unsere Beziehungen in der Gegenwart negativ beeinflussen, aber es gibt Hoffnung. Selbst wenn wir durch den Bindungsstil, den wir als Kind erlernt haben, vorprogrammiert sind, ist Veränderung möglich.

Auch haben viele Menschen trotz negativer Erfahrungen auch etliche Momente sicheren Gebundenseins in der Kindheit erlebt. Es kann daher helfen, sich solche Situationen und nicht nur Verletzungen bewusst zu machen und auf diese für die eigenen Beziehungen als Erwachsener weiteraufzubauen.

Wenn du weißt, was eine sichere Bindung ausmacht, und mit deinem Partner, Freunden oder anderen engen Bezugspersonen an deiner Beziehungsfähigkeit arbeitest, können deine Beziehungen dennoch gelingen. Vielleicht überlegst du gleich nach dieser Lektüre, welche konkreten Schritte du dafür gehen kannst.
 

Du willst noch mehr zum Themenbereich „inneres Kind“ erfahren? Dann lies unseren Onlineartikel „Warum reagiere ich so?“ Darin erfährst du, welche Anzeichen darauf hindeuten, dass du ein verletztes inneres Kind in dir hast. Zudem findest du das erwähnte Buch von Priska Lachmann weiter unten in den Produktempfehlungen.

In den nächsten Wochen planen wir weitere Artikel zu den Themen „inneres Kind“ und „Umgang mit Traumata“. Schreib uns gerne deine Fragen dazu in die Kommentare – öffentlich oder privat. Wir freuen uns, von dir zu hören.
 

 Rebecca Schneebeli

Rebecca Schneebeli

  |  Redakteurin

Rebecca Schneebeli ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet nebenberuflich als freie Lektorin und Autorin. Die Arbeit mit Büchern ist auch im ERF ihr Steckenpferd. Ihr Interesse gilt hier vor allem dem Bereich Lebenshilfe, Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungspflege. Mit Artikeln zu relevanten Lebensthemen möchte sie Menschen ermutigen.

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