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© Priscilla du Preez / unsplash.com

25.12.2021 / Interview / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Micaela Kassen

Wie liest man die Bibel richtig?

Prof. Dr. Armin Baum gibt Tipps zum Umgang mit der Bibel.

 

Was ist beim Lesen der Bibel zu beachten? Wie geht man mit schwierigen Texten in der Bibel um? Dr. Armin Baum, Professor für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, gibt Tipps zum Umgang mit der Bibel.

Die Bibel als Laie verstehen

ERF: Die jüngsten Texte der Bibel sind zweitausend Jahre alt, manche sogar noch viel älter. Für viele Leserinnen und Leser sind diese nicht einfach zu verstehen. Wie kann man als Nicht-Theologe an die Bibel herangehen?

Armin Baum: Die Antwort ist ganz einfach: Lesen, lesen, lesen! Manche Leute haben so viel Respekt vor der Bibel oder vor anderen alten Texten, dass sie denken, sie könnten sie gar nicht verstehen. Deswegen fangen sie erst gar nicht an mit Lesen. Das Einfachste ist jedoch, einfach loszulesen. Sei es einen philosophischen Text von Platon, einen Bibeltext oder einen Text aus jüngerer Zeit. Man sollte nicht denken: „Am besten lese ich etwas über Platon oder über die Bibel.“ Sondern: „Ich lese die Bibel selber.“

Wenn man vorne anfängt, im ersten Buch Mose, hat man es mit einem Erzähltext zu tun. Erzähltexte sind leicht zu verstehen, viel leichter als argumentative Texte wie die Paulusbriefe. Ich finde sie auch leichter als poetische Texte wie die Psalmen. Wenn man das Neue Testament anfängt zu lesen, geht es mit dem Matthäusevangelium los – wieder ein leicht zu verstehender Erzähltext. Darauf folgen noch viele weitere Erzähltexte. Erst später kommen die schwierigeren Briefe.

Ich würde keine Lutherübersetzung nehmen, sondern die Gute Nachricht Bibel (GNB) oder die Neue Genfer Übersetzung (NGÜ). Das macht die Sache nochmal leichter. Aber das Wichtigste ist: Einfach loslesen!
 

ERF: Gibt es Stolperfallen?

Armin Baum: Ja – und das hat damit zu tun, dass die Texte so alt sind. Eine Stolperfalle, mit der man es manchmal zu tun hat, ist, dass die Texte aus einer ganz fremden Kultur kommen. Aus einer Kultur, in der man anders über Frauen und Männer und anders über Gewalt gedacht hat. Das muss man beachten. Allerdings trifft das nicht auf alle Texte zu. Viele Texte sind auch unmittelbar für uns relevant, ohne dass Kulturunterschiede zu beachten sind.

Wichtig ist: Beim Lesen von biblischen Texten sollte man die normalen Leseregeln beachten. Das heißt: Man soll nichts aus dem Zusammenhang reißen und auf die Gattung eines Textes achten. Wie ein poetischer Text, ein Erzähltext, ein prophetischer Text oder ein argumentativer Text funktioniert, ist unterschiedlich.

Eine weitere Stolperfalle fällt mir manchmal bei besonders frommen Lesern auf, die so an das Wirken des Heiligen Geistes glauben, dass sie meinen, sie könnten die Bibel lesen, ohne die normalen Leseregeln zu beachten. Ihnen ist dann die Bedeutung eines Wortes im Wörterbuch oder der Zusammenhang eines Satzes nicht wichtig, sondern nur das, was der Heilige Geist ihnen gerade sagt.

Ich denke: Das Wirken des Heiligen Geistes und das Beachten der normalen Leseregeln kommen sich nicht in die Quere, sondern ergänzen sich. Es ist also eine Stolperfalle, wenn man so fromm ist, dass man denkt, der Heilige Geist würde einen Menschen dazu bringen, den gesunden Menschenverstand auszuschalten.
 

ERF: Ist das Neue Testament eigentlich wichtiger als das Alte Testament?

Armin Baum: Das ist so, als wenn Sie mich fragen würden: Ist die Hand wichtiger als der Arm? In gewissem Sinne ist das schon so: Ich kann mit meiner Hand mehr machen als mit meinem Arm. Aber ohne meinen Arm gäbe es keine Hand.

Ich würde als Christ sagen: Ja, das Neue Testament ist wichtiger als das Alte Testament, weil Jesus Christus wichtiger ist als Abraham und Mose. Aber ohne Abraham und Mose gäbe es Jesus Christus nicht, ohne Altes Testament gäbe es kein Neues Testament. Das ist alles eine Einheit.

Mit schwierigen Texten in der Bibel umgehen

ERF: Manche Texte in der Bibel wirken sehr brutal auf heutige Leserinnen und Leser, vor allem im Alten Testament. Um ein Beispiel zu nennen: Psalm 139 fängt schön an, aber wenn ich zu Vers 19 komme, steht da: „Ach, dass du, Gott, die töten würdest, die sich dir widersetzen!“ Sind Verse wie diese heute noch relevant?

Armin Baum: Das ist ein ganz schwieriges Thema. Es firmiert unter dem Stichwort „Rachepsalmen“. Psalm 139 gehört auch dazu. Dort stehen die zartesten Gebetsaussagen neben den brutalsten Gebetsbitten. Das ist sehr anstrengend für fast alle Bibelleser, die ich kenne. An manchen Stellen sind die Rachepsalmen noch extremer. In Psalm 58 steht z.B.: „Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Vergeltung sieht, und wird seine Füße baden in des Frevlers Blut.“

Um mit diesen Aussagen umzugehen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Es hat in der Kirchengeschichte immer schon diejenigen gegeben, die den Psalm 58 trotzdem weiterhin beten wollten, da ja auch diese Verse zum Wort Gottes gehören. Auf der anderen Seite hat es aber auch diejenigen gegeben, die der Meinung waren, dass diese Verse zu weit vom Evangelium entfernt sind. Herausgeber von Gesangbüchern haben beispielsweise entschieden, die Verse 19-22 aus Psalm 139 im Anhang wegzulassen.

Diejenigen, die bis heute diese Rachepsalmen mitbeten wollen, haben verschiedene Strategien. Eine Strategie findet sich beim Kirchenvater Augustinus. Er war der Meinung, dass diese Psalmen nicht Rache und Vergeltung wollen, sondern die Konsequenzen beschreiben, die sich einstellen, wenn ein Mensch sich gegen Gott wendet. Das finde ich nicht überzeugend, denn wenn sich jemand freut, dass er im Blut seiner Feinde waten kann, dann ist das mehr als das Beschreiben von Konsequenzen.

Andere Theologen wie Martin Luther waren der Meinung, dass die Racheverse bildlich zu verstehen sind: Wenn es heißt, dass man die Kinder seiner Feinde am Felsen zerschmettert, ist damit gemeint, dass es sündige Leidenschaften im Menschen gibt, die man zerstören soll. Ich habe jedoch meine Zweifel daran, dass die Psalmbeter diese Aussagen übertragen gemeint haben, denn sie klingen, als würden sie von richtigen Babys reden.

Auch Dietrich Bonhoeffer hat sich dafür eingesetzt, die Psalmen vollständig mitzubeten, wie sie dastehen – mit diesen schrecklichen Elementen. Die Psalmbeter seien nämlich frei von Rachedurst und Hass gewesen. Doch überzeugend finde ich auch das nicht, denn die Worte klingen schon sehr hasserfüllt.

Mich überzeugt eher die zweite Herangehensweise, die man in vielen Gesangbüchern findet. Einer meiner Helden, die es auch so sehen, ist C.S. Lewis. Er hat gesagt, dass einem in manchen Psalmen ein hasserfüllter Geist entgegenschlägt wie die Hitze aus einer Ofenluke. Das empfinde ich genauso.

Für C.S. Lewis war ein Gedanke sehr wichtig: Wenn man die Bibel liest, muss man sich klarmachen, dass in diesem Buch eine fortschreitende Offenbarung stattfindet. Manches, was im Gesetz des Mose und in den Psalmen über Vergeltung steht, wird überboten durch das, was im Neuen Testament durch Christus kommt, der sagt: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen.“ Jesus Christus bringt also eine Weiterentwicklung der alttestamentlichen Offenbarung.

Das kann man auch an der Stelle sehen, wo Jesus am Kreuz leidet und stirbt und kurz vor seinem Tod nicht irgendwelche Rachepsalmen betet, sondern: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Diese Deutung leuchtet mir ein.

Ich bestreite also nicht, dass die Rachepsalmen ein wesentlicher Teil des Alten Testaments und der Bibel sind und dass sie in ihrer Zeit auch ihr gutes Recht hatten. Ich glaube nur nicht, dass das, was wir in diesen Rachepsalmen finden, der Gipfel der Offenbarung ist. Aber es bleiben schwierige Texte.


ERF: Es gibt allerdings auch Bibelabschnitte, die mir scheinbar etwas versprechen, was ich im Alltag so nicht erlebe. Zum Beispiel, wenn ich mir etwas Besonderes wünsche, ein Auto oder Gesundheit. In meiner Andachtszeit stoße ich dann auf Markus 11,24: „Was ihr auch betet und bittet, glaubt, dass ihr es empfangen habt, und es wird euch werden.“ Wie gehe ich dann mit dieser Bibelstelle um?

Armin Baum: Bei solchen Bibelversen ist es ziemlich wichtig, dass man auf die Auslegungs- und Leseregeln achtet, die ich vorhin erwähnt habe. Der Zusammenhang spielt eine wichtige Rolle. Ich habe bei diesen Versprechen im Neuen Testament den Eindruck, dass es da nicht um sämtliche Themen geht, die ich mir einfallen lassen könnte, sondern nur um die Themen, zu denen diese Verheißungen etwas sagen wollen.

Ich nenne ein paar Beispiele. Vergebung der Sünden: Niemand, der um Vergebung der Sünden betet, wird erleben, dass ihm das verwehrt wird. Trost im Leid: Niemand, der im Gebet sagt, er ist durch eine schlimme Leiderfahrung in einem ganz tiefen Loch, wird die Erfahrung machen, trostlos zu bleiben. Die Kraft, anderen zu dienen und seinen eigenen Egoismus zu überwinden: Ich glaube, wenn man das ehrlich will, wird das Gebet auch erhört. Oder das Gebet um das ewige Leben: Im Neuen Testament ist es so, dass jeder, der das ewige Leben ehrlich erbittet, es umsonst geschenkt bekommt.

Ich glaube, auf diese ganzen Anliegen trifft es zu, wenn Jesus sagt: „Wer sucht, der findet; wer bittet, der empfängt; wer anklopft, dem wird aufgetan.“ Aber wenn ich beten würde „ich hätte gern einen BMW“, müsste ich zugeben: Wahrscheinlich hatte Jesus solche Wünsche nicht im Kopf, als er diese Verheißung ausgesprochen hat.


ERF: Haben Sie eine Bibelstelle, die Sie nicht verstehen? Wie gehen Sie damit um?

Armin Baum: Ich habe sogar ziemlich viele Bibelstellen, die ich nicht richtig verstehe. Und ich mache mir immer wieder bewusst, dass dies von den biblischen Texten her in Ordnung ist. Es kann gar nicht anders sein: Wir bleiben immer begrenzt in dem, was wir verstehen. Das hat auch der Apostel Paulus in den Korintherbriefen so ausgedrückt: „Unser Wissen ist Stückwerk.“ Das empfinde ich auch immer wieder so.

Viele wesentliche Dinge habe ich, glaube ich, schon ganz gut verstanden, aber manches auch noch nicht. Was der Tod Jesu für mich bedeutet, ist z.B. ganz klar und eindeutig. Was der Tod Jesu jedoch in all seinen verschiedenen Facetten bedeutet und wie es – ganz technisch gesprochen – „funktioniert“, dass durch das Sterben Jesu am Kreuz Sünde ausgelöscht wird, habe ich immer noch nicht ganz verstanden. Darum finde ich es wichtig und interessant, weiter darüber nachzudenken.

Bei dem Theologen Karl Heim habe ich einmal gelesen: Das Entscheidende ist häufig gar nicht, dass man alles bis ins Letzte versteht, sondern dass man in seinem Glauben erfährt, dass es wahr ist und sozusagen „funktioniert“. Ein modernes Beispiel: Ich kann nicht erklären, wie ein Computer funktioniert, aber ich gebrauche ihn jeden Tag. Es stellt nicht die Funktionstüchtigkeit des Computers infrage, wenn ich ihn nicht genauer erklären kann. (Wie ein Computer funktioniert, werde ich persönlich wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage nie ganz verstehen.)

Praktische Tipps zum Bibellesen

ERF: Warum lohnt es sich trotz solcher Herausforderungen, sich mit der Bibel auseinanderzusetzen?

Armin Baum: Für mich als Christ lohnt es sich deswegen, weil ich überzeugt bin: In diesem alten Buch finde ich Gottes Wort. Das ist das Grunddokument meines Glaubens. Diese Texte sind der Ort, an dem Gott sich offenbart bzw. die Offenbarung Gottes ihren schriftlichen Niederschlag gefunden hat. Deswegen lohnt sich das für mich als Christ.

Und ich glaube, es lohnt sich auch für Nichtchristen. Denn manchmal fangen Menschen, die gar nicht so besonders gläubig sind, an, die Bibel zu lesen, und plötzlich geht ihnen ein Licht auf und diese alten Texte bekommen eine ganz besondere Bedeutung für ihr Leben. Diese Bedeutung erschließt sich aber nicht, wenn man nicht irgendwann einmal anfängt zu lesen.


ERF: Haben Sie praktische Tipps, wie ich mich der Bibel nähern kann, wenn ich mich bisher damit schwertue?

Armin Baum: Das beste Mittel gegen Schwierigkeiten mit dem Lesen ist das Lesen. Das beste Mittel, wenn ich denke, ich kann nicht gut genug Ski fahren, ist, dass ich es einfach mache – und zwar immer wieder. Also: Lesen, lesen, lesen!

Dabei ist natürlich die Frage, was für ein Typ man ist: Man kann zum Beispiel mit Leuten gemeinsam lesen und über die Texte diskutieren, wie das in Hauskreisen oder Hauskirchen passiert. Das finde ich sehr gut. Manche Hauskreise entwickeln sich leider dahin, dass man irgendwann nur noch über seine persönliche Themen redet und nicht mehr so viel über die biblischen Texte. Das finde ich zu einseitig. Wenn man dabei bleibt, gemeinsam biblische Texte zu lesen, darüber zu diskutieren und zu versuchen, sie gemeinsam besser zu verstehen, ist das eine echte Hilfe.

Wenn man sowieso gern liest, dann hilft es auch, wenn man Bücher über die Bibel liest. Dabei darf man nur nicht vergessen: Das Entscheidende ist die Bibel selbst zu lesen. Zusätzlich kann man auch Bücher über die Bibel lesen. Aber diese Bücher über die Bibel dürfen nicht am Anfang stehen, denn das sind immer nur Hilfsmittel und nicht das Eigentliche. Das Eigentliche ist die Bibel selbst.
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

 Micaela Kassen

Micaela Kassen

  |  Freie Mitarbeiterin

Die gelernte Theologin studiert derzeit Psychologie und ist auf Kinder- und Jugendpsychologie spezialisiert. Sie hat als Lerntherapeutin gearbeitet und ist aktuell als Sozialarbeiterin in einer intensiv-pädagogischen Einrichtung tätig. Redaktionell setzt sie ihre Schwerpunkte auf die psychische Gesundheit und Kindererziehung. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.

Ihr Kommentar

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Kommentare (4)

Wolfgang /

Eine ganz hervorragende Anweisung, die Bibel zu lesen!

Nathan M. /

Menschlich gesehen gibt er viele gute Tipps.
Neben einfach lesen und den Kontext brachten, fehlt mir aber ein entscheidender Hinweis: vorher beten.
Darum beten, dass Gott einem den Sinn aufschließt und zu Einem spricht.

Unger /

Die Bibel ist das von Gott inspirierte Evangelium!
Gottes Wort ist nur durch die
Gabe seines Geistes zu erfassen! Alle Empfehlungen
irgendwelcher Übersetzungen
ist ein Suchen mit menschlichen mehr

Armin H. /

Ich habe die „ Hütte “ gelesen und so auf diese Seite gestoßen.
Der Artikel hat mir gefallen und ich werde die Bibel lesen.
Danke

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