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© Wim van 't Einde / unsplash.com

31.10.2022 / Andacht / Lesezeit: ~ 14 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Zwischen Überforderung und Hoffnung

Was wir von Martin Luther über unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit lernen können.

„Wie bekomme ich einen gerechten Gott?“, das war die große Frage, die Martin Luther umgetrieben hat. Schaut man sich den damals blühenden Ablasshandel an, dann war das auch die Frage, die seine Zeitgenossen bewegt hat. Die Fragestellung heutiger Menschen, egal ob Christen oder nicht, ist oft eine andere. „Wie bekommen wir eine gerechte Welt?“ – das ist das Anliegen, das viele heute umtreibt. Kein Wunder, angesichts von Klimawandel, Kriegen und der ungleichmäßigen Verteilung von Ressourcen und Rohstoffen.

Martin Luther ist damals innerlich fast an seiner Frage nach einem gerechten Gott zerbrochen. Selbst als Mönch mit seinem geregelten und von Gebeten und Gottesdiensten geprägtem Tagesablauf spürte er, dass sein Leben nicht gut genug ist, um in Gottes Augen gut und richtig zu sein. Ich habe den Eindruck, dass dieser Zustand des „sich ungenügend Fühlens“ mit leicht anderen Vorzeichen auch für die moderne Suche nach Gerechtigkeit in der Welt gilt.

Vielen Menschen ist es sehr wichtig, sich für eine gerechtere Welt einzusetzen. Sie bemühen sich von ganzem Herzen darum, indem sie faire Produkte kaufen, ihren Konsum reduzieren oder soziale Projekte unterstützen. Gleichzeitig scheint die Not auf unserem Planeten immer größer zu werden, während die eigenen Einflussmöglichkeiten begrenzt sind. Das eigene Verstrickt sein in ungerechten Strukturen ist unausweichlich und wird einem bewussten Konsumenten bei jedem Einkauf schmerzlich vor Augen geführt.

Wenn die Not der Welt zur persönlichen Überforderung wird

Die spannende Frage ist, ob Luthers tiefes inneres Verlangen nach religiöser Gerechtigkeit uns heute bei unserem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit weiterhelfen kann. Hat beides miteinander zu tun? Und wenn ja, was? In diesem Artikel möchte ich mich diesbezüglich auf Spurensuche begeben. Dazu werde ich verschiedene Aussagen der Bibel zum Thema vorstellen.

Es war ein Bibelvers, der Martin Luther aus seinem verzweifelten Ringen, wie er Gott gefallen kann, befreit hat. Ich bin überzeugt: Ein besseres Verständnis von dem, was die Bibel zum Thema „Gerechtigkeit“ sagt, kann Menschen auch heute von einem lähmenden schlechten Gewissen oder dem Gefühl der völligen Überforderung angesichts weltweiter Ungerechtigkeiten befreien.

Keine Angst: Das wird nicht dazu führen, dass der Einsatz für bessere wirtschaftliche Strukturen oder Lebensbedingungen weltweit geschmälert werden soll. Martin Luther hat sein moralisches Verhalten aufgrund seines veränderten Verständnisses von der religiösen Gerechtigkeit auch nicht schleifen lassen.

Aber er lebte den Rest seines Lebens nicht mehr mit einem permanenten religiösen Leistungsdruck und einem schlechten Gewissen. Stattdessen konnte er seinem Gott fröhlich und mit dankbarer Haltung dienen. Er hat sich tatsächlich als „Befreiter“ gesehen, dem eine große Last abgenommen worden war. Eine ähnliche innere Haltung wünsche ich mir auch für mich und mein persönliches Engagement für mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt.

Wenn Sie wollen, dann lade ich Sie sich auf den Weg zu dieser veränderten Sichtweise ebenfalls ein. Fangen wir an!

Diese Welt ist und bleibt ein ungerechter Ort

Zuerst müssen wir uns dabei einer ernüchternden Nachricht stellen: Die Bibel beschreibt diese Welt von ihrem dritten Kapitel an als einen Ort, in dem Menschen sich gegenseitig Unrecht oder Schlimmeres zufügen. Wer in der Bibel nach diesseitigen Zukunftsutopien oder moralischen Durchhalteparolen für eine bessere Welt sucht, wird größtenteils enttäuscht werden. Stattdessen beschreibt die Bibel diese Welt als einen Ort, an der Ungerechtigkeit eher die Regel, als die Ausnahme bildet.

Wer das Alte Testament liest, stolpert fast Seite für Seite über Menschen, die sich gegenseitig überlisten und bekriegen. Er liest von Königen, die ihre Völker mutwillig oder aus Dummheit ins Verderben führen. Männer, Frauen und Kinder leiden unter der Ausbeutung einiger Wohlhabender oder werden in Eroberungskriegen brutal umgebracht. Das ist manchmal nur schwer zu ertragen und schreckt viele davon ab, sich mit dem ersten Teil der Bibel näher zu beschäftigen.

Andererseits: Wir erleben es heute doch nicht anders. Trotz technischem Fortschritt oder guter Bildung ist der Mensch nach wie vor des Menschen Wolf. Traurige Beispiele dafür ziehen sich auch durch die jüngere und jüngste Geschichte: Der Judenmord in Nazideutschland, der Völkermord in Ruanda, die Unterdrückung von Minderheiten in China, der Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine, die blutige Niederschlagung von Demonstranten durch ein religiöses System im Iran, die vereinfachende schwarz – weiß Rhetorik mancher demokratisch gewählter Präsidenten.

Aber nicht nur die große Politik ist betroffen. Wir als einzelne Bürger sind es auch. Wir wissen von den Kindern, die in Minen schwerste körperliche Arbeit leisten, damit die Rohstoffe für unsere Smartphones jederzeit (und günstig) zur Verfügung stehen. Und wie sieht es mit dem aus, was wir auf der nackten Haut tragen? Kaum einer kann verlässlich nachvollziehen, welche Hände daran unter welchen Bedingungen gearbeitet haben.

Verdrehung von Recht und Gerechtigkeit sind an der Tagesordnung

Hier nun einige Bibelstellen zu diesem Aspekt – teilweise könnte man meinen, sie seien heute geschrieben worden, und nicht vor mehreren tausend Jahren:

„Dann wieder sah ich, wie viele Menschen auf dieser Welt ausgebeutet werden. Die Unterdrückten vergießen bittere Tränen, doch niemand tröstet sie. Keiner hilft ihnen, weil ihre Unterdrücker so mächtig sind. Wie glücklich sind doch die Toten, sie haben es viel besser als die Lebenden! Noch besser aber geht es denen, die gar nicht erst geboren wurden! Sie haben das schreiende Unrecht auf dieser Welt nie mit ansehen müssen“ (Prediger 4,1-3).

„Auf den Feldern der Armen wächst zwar reichlich zu essen, aber durch großes Unrecht wird ihnen alles genommen“ (Sprüche 13,23).

„Dagegen ist das Gesetz machtlos geworden, auf ein gerechtes Urteil hofft man vergeblich. Der Gottlose treibt den Unschuldigen in die Enge, und Recht wird in Unrecht verdreht“ (Habakuk 1,4).

Eine realistische Sicht auf die Dinge ist schmerzhaft, aber hilfreich

Ich bin froh, dass die Bibel das Leben so ehrlich und ungeschönt schildert. Würde sie diese harte Wirklichkeit ausblenden oder schönfärben, dann müsste ich an dem, was ich Tag für Tag in den Nachrichten sehe oder lese, verzweifeln. So aber weiß ich: Diese Welt ist kein gerechter Ort und wird es rein menschlich gesehen auch nie sein.

Martin Luther hat das schmerzlich erfahren, als er miterleben musste, wie seine Wiederentdeckung der biblischen Botschaft von Gerechtigkeit und Freiheit mit eine der Ursachen für die blutigen Bauernkriege während der Reformationszeit war. Luther hatte vergeblich zwischen den Fronten zu vermitteln versucht, erlebte aber, dass seine Worte von beiden Seiten missbraucht und missverstanden wurden.

Teilweise hat er mit seinen scharfen Worten auch mit zur Eskalation des Konfliktes beigetragen. So sahen sowohl die Bauern als auch die Fürsten in ihm den Schuldigen für den Konflikt und die vielen Toten. Der Reformator sollte sein restliches Leben unter diesen Vorwürfen und seiner Verstrickung in die Auseinandersetzung leiden.

Ich fürchte, auch wir als aufgeklärte Menschen im 21. Jahrhundert müssen lernen, die harte Wirklichkeit zu akzeptieren, dass Krieg, Ungerechtigkeit und Armut Teil unseres Lebens sind. Der Traum von einer globalen, harmonischen Weltfamilie bleibt ein Traum. Das ist nicht zynisch gemeint, sondern führt uns schmerzlich die Grenzen menschlicher Möglichkeiten vor Augen. Warum das so ist, hängt mit dem nächsten Aspekt zusammen.

Jeder einzelne Mensch handelt ungerecht

Die heute gängige Sicht auf den Menschen tendiert dazu, die Ursache für Ungerechtigkeit außerhalb des einzelnen Menschen zu suchen. Wenn eine Person sich anderen gegenüber ungerecht verhält oder der Gesellschaft schadet, sucht man die Ursachen für ihr schädliches Verhalten in den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Umständen, in denen er aufgewachsen ist.  

Das ist nicht grundsätzlich falsch, aber es spiegelt nur die halbe Wahrheit wider. Die andere Hälfte der Wahrheit sieht nach biblischem Verständnis so aus, dass jeder Mensch in sich die Veranlagung zu ungerechtem, ja sogar zu mutwillig bösem Verhalten trägt. Selbst bei bester Erziehung, bester Bildung und besten wirtschaftlichen Voraussetzungen, verhält sich der einzelne Mensch dem anderen gegenüber tendenziell lieblos und egoistisch.

Vielleicht lässt sich das im Familien- oder Freundeskreis noch einigermaßen kaschieren oder hinbiegen. Im Alltag wird diese Verkrümmung in uns selbst aber doch schnell sichtbar. Manchmal braucht es dafür nicht mehr, als dass ein fremder Autofahrer einem die Vorfahrt nimmt oder dass man ein Gerücht über eine Person aufschnappt, die einem unsympathisch ist. Wie schnell kommen dann Wut, Selbstgerechtigkeit, Lieblosigkeit oder Stolz an die Oberfläche.

Oder wie sieht es beim Einkaufen aus: Da lasse ich mich wider besseres Wissen dazu verführen, die Ware mit zweifelhafter Herkunft zu kaufen – weil sie so schön billig ist. Der Satz „Ich erschrak, als ich erkannte, dass ich bin, wie man ist“, bringt für mich diese Tatsache immer wieder treffend auf den Punkt. Martin Luther hat genau das in seinem Klosterleben gemerkt, als ihm die ich-bezogenen Motive für alle seine Bemühungen um ein gutes Leben bewusst geworden sind.

Das Potenzial der eigenen Fähigkeit zu ungerechtem Verhalten erkennen lernen

Die biblischen Autoren sind der Überzeugung, dass wir dieser unangenehmen Wahrheit über unser Menschsein ins Auge schauen müssen. Nur dann ist heilsame Veränderung möglich. Und genau deswegen konfrontieren uns die biblischen Texte mit unserer eigenen Unzulänglichkeit und Ungerechtigkeit. Jesus selbst schockt seine Zuhörer beispielsweise mit folgenden Worten:

„Wie ihr wisst, wurde unseren Vorfahren gesagt: ‚Du sollst nicht töten! Wer aber einen Mord begeht, muss vor ein Gericht gestellt werden.‘ Doch ich sage euch: Schon wer auf seinen Mitmenschen zornig ist, gehört vor Gericht. Wer zu ihm sagt: „Du Schwachkopf!“, der gehört vor den Hohen Rat, und wer ihn verflucht, der verdient es, ins Feuer der Hölle geworfen zu werden. Ihr wisst, dass es heißt: ‚Du sollst nicht die Ehe brechen!‘ Doch ich sage euch: Schon wer eine Frau mit begehrlichen Blicken ansieht, der hat im Herzen mit ihr die Ehe gebrochen. Es heißt bei euch: ‚Liebe deinen Mitmenschen und hasse deinen Feind!‘ Doch ich sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen! So erweist ihr euch als Kinder eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne für Böse wie für Gute aufgehen, und er lässt es regnen für Fromme und Gottlose. Wollt ihr etwa noch dafür belohnt werden, dass ihr die Menschen liebt, die euch auch lieben? Wenn ihr nur euren Freunden liebevoll begegnet, ist das etwas Besonderes? Das tun auch die, die von Gott nichts wissen. Ihr aber sollt in eurer Liebe vollkommen sein, wie es euer Vater im Himmel ist“ (aus Matthäus 5,21-48).

Eine gerechtere Welt beginnt mit jedem Einzelnen

Jesus stellt mit diesen Worten ohne Zweifel einen sehr hohen Anspruch: Wir sollen unsere Mitmenschen vollkommen lieben. Da fragt man sich, ob das nicht ein bisschen übertrieben ist? Ich glaube nicht. Denn wenn man die Ursachen aller persönlichen und globalen Krisen- und Konfliktherde einmal zu Ende durchdenkt, dann scheint es mir tatsächlich logisch, dass es diese radikale Liebe braucht, um Frieden zu schaffen und Ungerechtigkeit aus dem Weg zu räumen.

An dieser Stelle kommt jetzt zentral Luthers reformatorische Erkenntnis ins Spiel. Der Reformator hatte erstens verstanden, dass wir Menschen es nicht schaffen, so zu leben. Zweitens hatte er aber auch erkannt, dass Gott es uns aus seiner Gnade heraus ermöglicht, uns diesem buchstäblich not-wendigen Ideal anzunähern.

Zwei Voraussetzungen braucht es dazu: Zum einen muss ich meine persönliche Unfähigkeit und meine Schuld einsehen und vor Gott eingestehen. Ist das geschehen, kann ich Gott in einem nächsten Schritt bitten, dass er mich innerlich verändert und erneuert. Das ist das Geniale an der biblischen Botschaft: Gottes Kraft und seine Möglichkeiten treffen auf meine Ohnmacht und meine Unfähigkeit. Wenn wir das erkennen, ist schon viel gewonnen.

Gott schenkt die Veränderung, die für ein besseres Leben nötig ist

Die Bibel nennt diesen Erkenntnisprozess „Buße tun“ oder „zu Gott umkehren“. Jesus hat die Menschen seiner Zeit dazu aufgefordert und auch sonst finden sich viele, teils bewegende Texte, die die Menschen zu diesem Schritt bewegen möchten:

„Jesus kam nach Galiläa, um dort Gottes Botschaft zu verkünden: ‚Jetzt ist die Zeit gekommen, Gottes Reich ist nahe. Kehrt um zu Gott und glaubt an die rettende Botschaft!‘‘ (Markus 1,15)

„Lasst euch in eurem Denken verändern und euch innerlich ganz neu ausrichten. Zieht das neue Leben an, wie ihr neue Kleider anzieht. Ihr seid nun zu neuen Menschen geworden, die Gott selbst nach seinem Bild geschaffen hat. Belügt einander also nicht länger, sondern sagt die Wahrheit. Wenn ihr zornig seid, dann ladet nicht Schuld auf euch, indem ihr unversöhnlich bleibt. Redet nicht schlecht voneinander, sondern habt ein gutes Wort für jeden, der es braucht. Mit Bitterkeit, Wutausbrüchen und Zorn sollt ihr nichts mehr zu tun haben. Schreit einander nicht an, redet nicht schlecht über andere und vermeidet jede Feindseligkeit. Seid vielmehr freundlich und barmherzig und vergebt einander, so wie Gott euch durch Jesus Christus vergeben hat“ (Epheser 4,23-32, in Ausschnitten).

Diese innere, von Gott bewirkte Veränderung des Einzelnen ist dann nach biblischem Verständnis auch der Ausgangspunkt für einer gerechtere Welt. Friede und Gerechtigkeit sollen im Kleinen beginnen, bei mir. In meiner Familie, in meiner Nachbarschaft, in meinem Verein, an meinem Arbeitsplatz. Je mehr Menschen diesen Veränderungsprozess dann ebenfalls erleben, desto stärker können Frieden und Gerechtigkeit auch in die Gesellschaft hineingetragen werden.

Die Schlüsselrolle für diese Dynamik spielt Jesus Christus. Durch sein Leben, sein Sterben am Kreuz und seine Auferstehung hat er die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Gerechtigkeit am Ende doch kein Traum bleiben muss. Durch ihn wird sie im Kleinen und im Großen letztlich Wirklichkeit.

Leben zwischen Versagen und Hoffen

Noch sehen wir allerdings nicht viel von der Erfüllung dieses Traums. Im Gegenteil: Selbst in Kirchen kommt es zu heftigen Streitereien und Verleumdungen. Die europäische Geschichte ist voll von Ungerechtigkeiten, die von Menschen ausgegangen sind, die im Namen des christlichen Glaubens gehandelt haben. Selbst ins Kleine und Persönliche heruntergebrochen, bleibt das Leben bruchstückhaft. Auch ein Christ tut anderen unrecht und bleibt hinter Gottes Maßstäben für eine gerechte Welt zurück.

Das erlebte auch Martin Luther. Gemeinsam mit seiner Frau hat er sich ein Leben lang für Arme und Bedürftige eingesetzt, hat versucht, Frieden zu stiften und Menschen besucht, die an der Pest erkrankt waren. Trotzdem ist er an manchen Punkten seines Lebens als Theologe und einflussreiche Persönlichkeit weit über das Ziel eines gerechten Lebens hinausgeschossen. Das wird bei seinen späteren abwertenden Worten über das jüdische Volk sichtbar oder darin, wie er mit anderen theologischen Standpunkten umgegangen ist.

Ich denke, Luther war sich dieser Schuld zumindest teilweise bewusst. Denn nach seinem Tod fand man einen Zettel in einer seiner Taschen, auf dem stand: „Wir sind Bettler, das ist wahr“. Umgekehrt erlebte er auch immer wieder, wie seine Zeitgenossen ihm Unrecht getan haben, indem sie etwas böswillige Gerüchte über seine Ehe in den Umlauf gebracht haben.

Das Gebet als Schlüsselrolle

Was bleibt also für diese „Zwischenzeit“, in der jeder einzelne Unrecht beobachtet, Unrecht erlebt und selbst ungerecht handelt? Das Gebet spielt hier die entscheidende Rolle. Im Gespräch mit Gott kann ich über das Unrecht klagen, das ich und andere erleiden. Ich kann ihn um sein Eingreifen flehen.

Ich kann ihn um die Kraft bitten, die ich persönlich brauche, um mich nicht unterkriegen zu lassen, wenn ich all die verstörenden, düsteren und entmutigenden Bilder sehe, die die Ungerechtigkeit weltweit oder im engsten Familienkreis malt. Und nicht zuletzt kann ich um Vergebung für die Dinge bitten, die ich selbst falsch gemacht habe.

Bei Martin Luther gehörte das Gebet wahrscheinlich auch aus diesem Grund fest zu seinem Tagesablauf. Man sagt dem vielbeschäftigen Mann nach, dass er seinen Tag jeweils mit einer ausgedehnten Gebetszeit begonnen hat. Folgendes Gebet, das ihm zugeschrieben wird, ist ein schönes Beispiel dafür:

Siehe, Herr, ich bin ein leeres Gefäß, das bedarf sehr, dass man es fülle. Mein Herr, fülle es. Ich bin schwach im Glauben; stärke mich. Ich bin kalt in der Liebe. Wärme mich und mache mich heiß, dass meine Liebe herausfließe auf meinen Nächsten. Ich habe keinen festen, starken Glauben, ich zweifle zuzeiten und kann dir nicht völlig vertrauen. Ach Herr, hilf mir, mehre mir den Glauben und das Vertrauen. Alles, was ich habe, ist in dir beschlossen. Ich bin arm, du bist reich und bist gekommen, dich der Armen zu erbarmen. Ich bin ein Sünder, du bist gerecht. Hier bei mir ist die Krankheit der Sünde, in dir aber ist die Fülle der Gerechtigkeit. Darum bleibe ich bei dir, dir muss ich nicht geben: von dir kann ich nehmen.*
Martin Luther

*Aus: Heute mit Luther beten. Eine Sammlung mit Luthergebeten für die Gegenwart, hrsg. v. Frieder Schulz, Gütersloher Verlagshaus, 1978; WA 10 I, S. 438

Als Getröstete glauben, hoffen, lieben

Das Leben auf dieser Erde wird also eines bleiben, dass schmerzlich zwischen dem Wunsch nach Gerechtigkeit und der Realität zerrissen wird. Die Bibel umschreibt diese Zerrissenheit mit dem Bild eines geistlichen Kampfes zwischen Gut und Böse, in dem wir als Menschen und besonders als Christen stehen. Dieser Kampf ist ein stetiges Ringen darum, in der Spur Gottes zu bleiben, selbst das Gute zu tun und sich nicht entmutigen zu lassen, wenn scheinbar doch das Böse siegt.

Auch das drückt Jesus wunderschön in einer seiner Ansprachen – der sogenannten Bergpredigt - an seine Zuhörer aus. Mit einem Zitat daraus möchte ich diesen Artikel abschließen. Viele Menschen haben über die Jahrhunderte Trost in diesen Worten gefunden. Sie können und dürfen auch uns trösten, wenn die Not der Welt uns zu erdrücken scheint und wir uns selbst ganz klein angesichts aller Ungerechtigkeit vorkommen:

„Glücklich sind, die erkennen, wie arm sie vor Gott sind, denn ihnen gehört sein himmlisches Reich. Glücklich sind, die über diese Welt trauern, denn sie werden Trost finden. Glücklich sind, die auf Frieden bedacht sind, denn sie werden die ganze Erde besitzen. Glücklich sind, die Hunger und Durst nach Gerechtigkeit haben, denn sie sollen satt werden. Glücklich sind, die Barmherzigkeit üben, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren. Glücklich sind, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott sehen. Glücklich sind, die Frieden stiften, denn Gott wird sie seine Kinder nennen.“ (Matthäus 5,3-9)
 

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Redakteurin, Autorin und begeisterte Theologin. Ihre Faszination für die Weisheit und Bedeutung biblischer Texte möchte sie gerne anderen zugänglich machen.  In der Sendereihe "Das Gespräch" spricht sie am liebsten mit Gästen über theologische und gesellschaftlich relevante Themen. Sie liebt Bücher und lebt mit ihrer Familie in Mittelhessen.

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Kommentare (1)

Rüdiger H. /

Moin.
Danke für diesen, in meinen Augen, sehr lesenswerten Artikel, er hat viel von meinen inneren Konflikten offenbart und mir geholfen etwas liebevoller mit anderen und auch mir zu sein.

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