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© Hugo Fergusson / unsplash.com

12.09.2013 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Joachim Bär

„Wir predigen das halbe Evangelium“

Ruanda und der Wert des Kreuzes.

Nach dem Völkermord in Ruanda 1994 war die Medizinerin und Psychiaterin Dr. Rhiannon Lloyd eine der ersten, die in eigens entworfenen Kursen versuchte, Versöhnung zwischen Opfern und Tätern möglich zu machen. Es folgten Versöhnungskurse in Südafrika, in der Demokratischen Republik Kongo und auf Sri Lanka. Ein Interview über Leid, Wunder und die alles umfassende Kraft des Kreuzes.
 

ERF: Dr. Lloyd, es gibt so viele verschiedene Völker weltweit, was immer wieder zu Problemen führt. Zum Beispiel der Völkermord in Ruanda 1994. Was war der treibende Mechanismus hinter dem Konflikt?

Rhiannon Lloyd: In jedem Land, in dem ich gearbeitet habe, gab es eine Geschichte von Unrecht und Leid. Manchmal über mehrere Generationen hinweg. Und mitunter führt das zu einem solch schrecklichen Ereignis wie in Ruanda. Dort leben hauptsächlich Angehörige der beiden Stämme Tutsi und Hutu.

Vor langer Zeit war eine Tutsi-Monarchie an der Macht, die oft ungerecht herrschte, selbst gegenüber den eigenen Leuten. Diese Situation wurde durch die Kolonialmächte weiter begünstigt, die ebenfalls die Tutsi bevorzugten. Sie gewährten ihnen Bildung und Stellen in Leitungspositionen, was erhebliche Missgunst bei der Hutu-Mehrheit auslöste.
 

ERF: Wie begann der Völkermord letztlich?

Rhiannon Lloyd: Eine Revolution 1959 bewirkte, dass sich die Kolonialmächte zurückzogen. In der darauffolgenden Zeit befand sich das Land in der Macht der Hutu. Aufgrund der vorangegangenen Geschichte kam es zu einigen Massakern an den Tutsi. Viele flüchteten. Aber nach 30 Jahren im Exil hatten viele Tutsi den Wunsch, in ihr Heimatland zurückzukehren, da sie nirgendwo willkommen waren. Doch die Einstellung der Hutu-Regierung war: Die Tutsi sollten nie wieder zurückkommen und über uns herrschen. Es scheint, dass die Regierung zu dieser Zeit bereits damit begann, einen Völkermord zu planen.
 

Rhiannon Lloyd bietet bis heute Versöhnungskurse weltweit an, zuletzt im April und Mai 2012 auf Sri Lanka und im Mai 2013 erneut in Ruanda. (Bild: privat)

ERF: Nur zwölf Wochen nach dem Völkermord sind Sie nach Ruanda gereist, um Versöhnungsarbeit zu leisten. Offen gefragt: War das für die Menschen nicht zu früh, um den Mördern ihrer Familie zu vergeben?

Rhiannon Lloyd: Ich hörte, dass manche Leute über Vergebung sprachen. Aber das führte zu Wut und der Frage: “Wie könnt ihr es wagen? Seht ihr nicht, dass meine ganze Familie getötet wurde?”

Ich wollte nicht über Vergebung sprechen. Zuerst musste ich ihnen Hoffnung schenken, da ich diese nirgendwo finden konnte. Ich fragte Gott: Kannst du in dieser Situation Hoffnung erkennen? Und Gott zeigte mir eine Bibelstelle in Römer 15,13: „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und mit Frieden im Glauben, dass ihr überströmt in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes!“ Gott ist der Gott der Hoffnung und wo immer er ist, gibt es Hoffnung.
 

ERF: Welche Art von Hoffnung haben Sie zu dieser Zeit in Ruanda entdeckt?

Rhiannon Lloyd: Ich habe Gott gefragt: “Was ist die Quelle deiner Hoffnung? Und wie kann ich Hoffnung haben?“ Er erinnerte mich an das Kreuz und daran, dass Jesus bereits alles getan hatte, was notwendig war, um dieses Land zu heilen. Unsere Aufgabe als Christen war es daher, uns dieses Sühneopfer am Kreuz zu Eigen zu machen und auf diese Situation anzuwenden. Zu dieser Zeit wusste ich nicht, wie ich das genau tun sollte. Aber ich spürte, dass Gott mir mitteilte: „Mein Heiliger Geist ist immer noch hier, um zu wirken. Ich habe ihn nicht abberufen.“
 

ERF: Also haben Sie die Menschen an das Kreuz erinnert. Das klingt ziemlich theoretisch. Was genau haben Sie versucht?

Rhiannon Lloyd: Ich stellte mir die Frage, wie wir die Menschen zusammenbringen können. Dann habe ich zwei Tage in einer Pfingstkirche gearbeitet, wo ich die schrecklichsten Geschichten hörte. Mein Übersetzer schrieb sie alle an eine Wandtafel. Ich war entsetzt und fragte Gott: Was mache ich mit diesen schrecklichen Dingen? Als ich die Frage formuliert hatte, kam bereits die Antwort: „Sie müssen zum Kreuz kommen. Das ist der Ort, wo alle Sünden der Welt weggenommen wurden.”

Ich habe verstanden, dass sich alle tragischen Umstände des menschlichen Lebens am Kreuz befinden.

Ich stellte die Leute dort vor die Frage: „Möchtet ihr diese Dinge für den Rest eures Lebens in euren Herzen behalten? Ich kenne nur einen Ort, zu dem ihr sie bringen könnt.“ Mein Blick fiel auf einen roten Stift. Ich nahm ihn, ging an die Wandtafel und zeichnete, ohne etwas zu sagen, ein großes Kreuz durch die Geschichten.
 

ERF: Wie sind sie dazu gekommen, solch schreckliche Ereignisse direkt mit dem Kreuz zu verbinden?

Rhiannon Lloyd: Einige Zeit bevor ich nach Ruanda ging, erzählte mir eine Frau, dass sie als Kind mehrmals von verschiedenen Männern vergewaltigt wurde. Sie litt sehr darunter. Im Rückblick scheint es eine leere Worthülse gewesen zu sein, aber ich sagte zu ihr: “Gib das alles an Jesus ab, denn er versteht es.“ Sie antwortete: „Nein, er versteht das nicht. Er wurde niemals wie eine Frau vergewaltigt. Wie kann er dann meine Schmerzen verstehen?” Ich hatte absolut keine Antwort auf diese Frage, aber ich sagte: „Lass uns zu Gott beten und darauf warten, was er uns dazu sagen möchte.“ Ich geriet in Panik, aber ich spürte, wie Gott mir sagte: “Das Kreuz war ein Ort der Übertragung, nicht der Identifikation.“
 

ERF: Was meinen Sie damit?

Rhiannon Lloyd: Jesus ließ sich einst am Jordan taufen wie alle anderen auch. Er machte sich in gewisser Weise einem Sünder gleich, er identifizierte sich mit ihnen. Aber am Kreuz identifizierte er sich nicht nur mit Sünde. Er wurde zur Sünde. Das können wir in 2. Korinther 5 lesen. Die Sünde der ganzen Welt wurde auf Jesus übertragen.

Ich habe später erfahren, dass das hebräische Wort für Bosheit, “awon”, eigentlich Sünde und alle daraus resultierenden Konsequenzen bedeutet. So habe ich verstanden, dass sich alle tragischen Umstände des menschlichen Lebens am Kreuz befinden. Jede Sünde und deren Folgen wurde auf Jesus übertragen.


ERF: Was haben Sie dieser Frau gesagt?

Rhiannon Lloyd: Ich sagte: „Es stimmt, es gibt einige Dinge, die Jesus nicht erleiden musste. Doch am Kreuz trug er all unseren Kummer und alle Folgen von Sünde.“ Sie antwortete: „Okay, das kann ich verstehen.” Daraufhin forderte ich sie auf: „Gib ihm nun die Schmerzen. Schütte ihm dein Herz aus.“ Und sie weinte, fiel auf den Boden und bat Jesus, ihr alles abzunehmen, was sie erlebt hatte.

Jesus ist für mehr gestorben ist als nur persönliche Sünden.

Am nächsten Morgen erzählte sie mir, dass sie einen Frieden fühle, den sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Ein Jahr später schrieb sie mir per E-Mail, dass sie heiraten wird. Vorher hätte ich nie geglaubt, dass sie überhaupt jemals wieder eine Beziehung mit einem Mann haben könnte.

 

ERF: Also sagen Sie, dass Jesus für mehr gestorben ist als nur die persönlichen Sünden?

Rhiannon Lloyd: Ja, vor allem in Ruanda war die Tatsache, dass Jesus auch mein Leid trägt, sehr wichtig. Ich habe es bereits in meinem eigenen Leben erfahren, dass ich ihm meinen Kummer anvertrauen konnte. Ich bin mit 16 Christ geworden. Zu diesem Zeitpunkt habe ich ihm meine Sünden übergeben. Aber niemand hat mir gesagt, dass ich ihm auch mein Leid geben kann. Und ich hatte viel davon in meiner Familie erlebt, als ich aufgewachsen bin. Als ich nach Ruanda ging und all diese schrecklichen Dinge sah, dachte ich: „Sie müssen zum Kreuz kommen.“
 

ERF: Bringt die westliche Theologie das Kreuz zu stark mit persönlichen Sünden in Verbindung?

Rhiannon Lloyd: Ja. Außerdem glaube ich, dass wir nur das halbe Evangelium in unseren Gemeinden predigen. Wir haben den Menschen erklärt, was sie mit ihren Sünden tun können – aber nicht, was sie mit ihrem Kummer tun sollen. Wir sagen: Vergiss dein Leid. Aber niemand kann seine Schmerzen vergessen, sofern wir sie nicht von Gott heilen lassen.

Selwyn Hughes, der lange im Bereich Seelsorge und Heilung gearbeitet hat, sagte einmal: „Eine unverarbeitete Erinnerung kann man niemals begraben, sie bleibt lebendig.“ Für mich ist der einzige Weg, wie wir Dinge wirklich vergessen und hinter uns lassen können der Weg zum Kreuz. Dort können wir sie loslassen.

Das Sühneopfer am Kreuz ist daher für zweierlei ausschlaggebend: für unsere Fähigkeit anderen zu vergeben als auch Vergebung von Gott zu erhalten. Das Sühneopfer Jesu ist groß genug, um alle Folgen von Schuld abzudecken. Sogar groß genug für weltgeschichtliche Ereignisse.
 

ERF: Wo in der Bibel finden Sie dieses ganzheitliche Verständnis des Kreuzes?

Rhiannon Lloyd: Ich glaube, dass es Gottes ursprünglicher Plan ist, dass jeder Aspekt unseres Lebens von seiner Ehre durchdrungen ist: unsere Beziehungen, unsere Regierungen und mehr. Aber wir haben die Ehre Gottes verfehlt. Wir haben gesündigt und in unserem Leben kommt Gottes Herrlichkeit nicht mehr zum Ausdruck, wie es in Römer 3 heißt. Am Kreuz hat Jesus für diese Verfehlung des eigentlichen Plans gesühnt. Jesus machte es möglich, dass eines Tages alles wieder mit ihm versöhnt wird. Das erfahren wir in Kolosser 1,20. Das ist überwältigend!

Wir haben den Menschen erklärt, was sie mit ihren Sünden tun können – aber nicht, was sie mit ihrem Kummer tun sollen.

In 2. Korinther 5 lesen wir auch über den Dienst der Versöhnung. Es heißt dort, dass Gott in Jesus die Welt mit sich selbst versöhnt hat – den ganzen Kosmos, das ist das Wort, das hier gebraucht wird. Der gesamte Kosmos wird heil. Und ich sehe meine Arbeit als einen klitzekleinen Teil davon, was er tut.
 

ERF: Was passierte noch mit Menschen, die diesen Zugang zum Kreuz begriffen haben?

Rhiannon Lloyd: Da war zum Beispiel eine Frau, deren gesamte Großfamilie bis auf drei Angehörige ermordet wurde. Zudem wurde sie mehrmals vergewaltigt. Sie konnte ihr Haus nicht mehr verlassen. Sie war so verletzt. Die Frau wurde ermutigt, an einem unserer Kurse teilzunehmen.

Ein ihr unbekannter Mann nagelte in diesem Workshop seine Schuld an das gleiche Kreuz. Es stellte sich heraus: Er war derjenige, der ihre Familie getötet hatte. Am nächsten Tag bekannte er das. Sie sagte darauf hin: “Ich habe gestern mein ganzes Leid ans Kreuz gebracht.“ Und sie ging zu diesem Mann, umarmte ihn und vergab ihm. Sie arbeiten nun vor Ort zusammen. Das ist kein Einzelfall. Wir haben mehrere Teams in Ruanda, die sowohl aus den Tätern und als auch aus den Überlebenden zusammengesetzt sind.
 

ERF: Wenn Christen diesen mehr ganzheitlichen Ansatz des Kreuzes begreifen würden – was könnte in dieser Welt passieren?

Rhiannon Lloyd: Ich erzähle Ihnen, was in einem weiteren Land passiert ist. Der Nordosten Kongos befindet sich bereits zehn Jahre im Bürgerkrieg. Nach einem Monat kontinuierlichen 24 Stunden-Gebets haben wir einen Kurs für die Polizeichefs und das Militär angeboten. Innerhalb einer Woche wurde der Krieg in diesem Teil des Kongo beendet.

Die gesamte Region hat sich verändert, weil die Kirche die ganze Botschaft des Kreuzes wiederentdeckt hat. Wenn wir uns als Christen wieder dieser Wahrheit des Kreuzes besinnen, dann werden die Menschen wissen wollen, was wir erlebt haben. Und sie werden die gleiche Arznei haben wollen.


ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

 Joachim Bär

Joachim Bär

Joachim Bär war Unit Lead von erf.de und hat die übergreifenden Themen der redaktionellen Angebote des ERF koordiniert. Er ist Theologe und Redakteur, verheiratet und hat zwei Kinder.

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Kommentare (2)

Maria /

Ein sehr wertvoller Beitrag. Danke!

Ursula H. /

Ihre Aussagen noch einmal bis in die letzte Konsequenz durchzudenken, lässt mich verstummen vor so unfaßbar großen Entschluss Gottes, sein Werk am Leben zu erhalten aus unendlicher Liebe - ich werde mehr

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