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29.09.2022 / Zum Schwerpunktthema / Lesezeit: ~ 2 min

Autor/-in: Susanne Ospelkaus

Sichtbar!

Was meint die Bibel, wenn Sie Gott als „gerechten Richter“ bezeichnet?

Aristoteles und die Gerechtigkeit

Es war eins seiner liebsten Themen: Gerechtigkeit. Aristoteles sezierte, analysierte und interpretierte, was Gerechtigkeit für eine Gesellschaft bedeuteten. Er unterschied zwischen ausgleichende und wiederherstellende Gerechtigkeit. Justitia, Göttin der Gerechtigkeit, verschließt die Augen, um unvoreingenommen zu sein, und hält eine Waage, um Schuld zu messen. Diese Gerechtigkeitsvorstellung prägte Europa und die westliche Welt. Sie ist gut, weil es keine Bessere gibt.

Schwierig ist es, dieses Bild direkt auf biblische Texte anzuwenden. Welches Gerechtigkeitsverständnis hatten Juden in der Antike? Was verbanden sie mit Gerechtigkeit und dem Gericht Gottes?

Es ist angerichtet

Seltsam, dass sich in der Bibel Texte über Menschen finden, die sich auf das Gericht Gottes freuen. Es sich sogar herbeisehnen. Sie richten sich geradezu her. In unserem Sprachgebrauch nutzen wir auch Sätze wie: „Das Essen ist angerichtet“ oder „Ich habe mich für das Fest hergerichtet.“ Das ist durch und durch positiv gemeint.

Ist es ebenso feierlich und würdevoll, wenn Gott Recht spricht?

Gott ist ein Vater den Waisen und ein Richter der Witwen.
Psalm 68,5

Unsere Vorstellung von Richtern lässt sich kaum in Bezug zu Witwen setzen. Ein Richter urteilt über Straftaten. Der, der das Recht gebrochen hat, steht im Zentrum jeder Verhandlung. Um diese Person drehen sich Beweise, Motive, Folgen der Tat, Schuld und Reue.

Viel zu oft beklagen Opfer, dass sie vergessen werden. Wieso werden die Täter bei einem Verbrechen genannt und nicht die Opfer? „Ihr seid nicht vergessen“ hieß die Initiative, die Angehörige der Terroropfer von Hanau gestartet haben – Gökhan, Sedat, Said, Fatih …

Ein sehender Richter

Neben Gerechtigkeit ist es der sehnlichste Wunsch von Betroffenen, dass die Opfer nie vergessen werden, dass sie sichtbar bleiben.

Eine Witwe war in der Antike eine rechtlose Person, ohne Schutz und ohne Versorgung. Unsichtbar. (Noch heute stehen Witwen in einigen Ländern außerhalb der Gesellschaft.)

Der biblische Text widmet sich einer Frau. Sie wird in ihrer Schutzlosigkeit gesehen. Gott richtet sie. Er richtet sie auf! Er ist nicht wie die blinde Justitia.

Es ist kompliziert

Gewalt, Krieg und Terror hinterlassen so viel Schmerz. Welche Gerichte könnten das Ausgleichen? Selbst wenn Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof stehen, wird kein Urteil das Leid mindern. Trotzdem braucht unsere Gesellschaft diese Institutionen, die Gesetze und die Rechtsbarkeit. Wir brauchen eine Justitia, die sich nicht beirren oder bestechen lässt. Als Christen hoffen wir, dass es irgendwann eine endgültige, wiederherstellende Gerechtigkeit gibt.

Versöhnung vor Gericht

Ruanda oder Kolumbien führten nach den Gewaltexzessen unter der Bevölkerung Versöhnungsprozesse statt Gerichtsprozesse ein. Häufig waren Opfer zugleich Täter und Täter Opfer. Wie sollte ein Ausgleich gelingen? Wie könnte man Recht sprechen, wenn eine komplette Bevölkerung betroffen ist? Bei einem Versöhnungsprozess kam die gesamte Dorfgemeinschaft zusammen. Es half den Opfern, wenn sie öffentlich über das Erlebte sprechen durften, anklagen, schreien und weinen. Die Täter mussten zuhören. Ob sie Reue zeigten oder nicht, für Opfer war es eine Erleichterung, in die Öffentlichkeit zu gehen.

Nichts wird vergessen sein. Jeder wird gesehen. Jeder wird gehört. Gottes Gerechtigkeit dürfen wir als Wiederherstellung für alle Opfer wahrnehmen. Ein Richtfest der Würde!

 Susanne Ospelkaus

Susanne Ospelkaus

  |  Freie Mitarbeiterin

Susanne Ospelkaus, Jahrgang 1976, Mutter von zwei Söhnen. Sie ist gelernte Ergotherapeutin, arbeitet jetzt als Autorin und Dozentin für pflegerische und pädagogische Berufe. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hat sie wieder geheiratet und lebt mit ihrer Familie östlich von München.

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