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03.12.2007 / / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Andreas Meißner

"Lasst doch endlich los!"

Wir haben als Familie und mit unseren Kindern einiges durchgemacht. Wir hofften, dass speziell nach den monatelangen Krankenhausaufenthalten unseres Sohnes mit all den Operationen wegen seiner Osteosarkomerkrankung und der Beinamputation, nach den vielen Chemotherapien und deren Nebenwirkungen sein und unser Leben wieder normaler werden würde. Eine Zeit lang schien es auch so. Mit Kontrolluntersuchungen und Prothesenversorgung kann man als Eltern umgehen lernen. Mit Ängsten vor erneuter Erkrankung mit der Zeit auch. Aber dann kam etwas völlig Unbekanntes auf uns zu, als uns unser Sohn immer mehr entglitt.

Wir haben als Familie und mit unseren Kindern einiges durchgemacht. Wir hofften, dass speziell nach den monatelangen Krankenhausaufenthalten unseres Sohnes mit all den Operationen wegen seiner Osteosarkomerkrankung und der Beinamputation, nach den vielen Chemotherapien und deren Nebenwirkungen sein und unser Leben wieder normaler werden würde. Eine Zeit lang schien es auch so. Mit Kontrolluntersuchungen und Prothesenversorgung kann man als Eltern umgehen lernen. Mit Ängsten vor erneuter Erkrankung mit der Zeit auch. Aber dann kam etwas völlig Unbekanntes auf uns zu, als uns unser Sohn immer mehr entglitt.

Trotz vieler Versuche, mit ihm zu reden, schafften wir es nicht (mehr), an ihn heranzukommen. Oft wich er aus, kam meist später von der Schule nach Hause. Teilweise wirkte er ziemlich abwesend und schlief auch mehr und länger als sonst. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Auf alle Nachfragen schwieg er beharrlich.

Bis wir durch Zufall die Tüte mit Cannabisblättern bei ihm entdeckten. Darauf angesprochen, verharmloste er das ganze Problem. "Das machen viele." - "Davon wird man nicht drogenabhängig!" Solche und ähnliche Argumente sollten uns in Sicherheit wiegen.

Das kann doch nicht wahr sein

Aber wir wurden nicht ruhiger. Im Gegenteil! Als wir - wieder durch einen Zufall - erfuhren, dass er auch seine Schule geschmissen hatte, reagierten wir als Eltern leicht panisch. Wie sollte das mit ihm weitergehen? Keine abgeschlossene Schulausbildung - wie sollte er eine Lehre machen? Wie später sein Auskommen verdienen? Aus dieser Besorgnis heraus, die für andere Eltern vielleicht gut nachvollziehbar ist, drängten wir ihn immer mehr, seine schlechten Kontakte aufzugeben, regelmäßig wieder zum Unterricht zu gehen und auch so sein Leben zu ordnen. Das Ergebnis: Es wurde immer schlimmer!

Ohnmächtig

Jetzt hatten wir alles Mögliche versucht. In Strenge, mit Liebe, mit Überredungsversuchen. Nichts hatte geholfen. Und auch das regelmäßige Beten um Besserung half augenscheinlich nicht weiter.

Hatte Gott uns vergessen? War er überlastet mit größeren Problemen in der Weltpolitik oder beim Klimawandel? Wir hatten doch in vielen Jahren als Familie gelernt, ihm zu vertrauen und mit seiner Hilfe zu rechnen! Entzog er uns jetzt seine Gunst? Ließ er uns tatsächlich hängen? Mit unserem Sohn wurde es immer schlimmer. Wir waren ratlos, fühlten uns machtlos und ohnmächtig.

Ratschläge

Und dann kam der Abend, an dem wir uns bei Freunden eingeladen hatten. Wir wollten mit ihnen über unsere Probleme sprechen. Da sie erfahrene Seelsorger sind, hörten sie gut zu. Was dann kam, war ein Durchbruch für unser Denken. Mit Hilfe von guten Beispielen machten sie uns klar, dass wir unseren - erwachsenen - Sohn noch nicht losgelassen hatten. Immer wieder hätten wir versucht sein Leben zu regeln, zu steuern und zu planen. Wir übernahmen seine Schulden, hatten ihn zu einer Gerichtsverhandlung begleitet, versuchten ihn, morgens zu wecken, damit er in die Gänge kam. Immer wieder, so erklärten sie uns, hätten wir ihn wie in einer Hängematte liegend, angestoßen, damit er in Bewegung blieb. So brauchte er selber nicht aktiv zu werden. Er hatte ja uns, die ihn immer wieder anstießen. "Überlasst ihn einfach seinen eigenen Entscheidungen!", rieten sie uns.

"Aber wenn er dann keine Ausbildung macht, keinen Beruf lernt?" "Dann wird er lernen müssen, mit den Konsequenzen zu leben," war ihre Antwort. Langsam dämmerte uns, dass es vielleicht die Lösung für unsere Probleme sein könnte.

Wende

Zu Hause gelang es uns dann, ganz ruhig und klar mit ihm zu reden. Zuerst erklärten wir ihm, dass wir in Zukunft jede seiner Entscheidungen völlig akzeptieren würden. Ob er eine Ausbildung machen würde oder nicht, wir würden ihm nicht mehr reinreden. Er sei erwachsen und wir wollten das in Zukunft wirklich anerkennen. Er saß uns gegenüber, redete nicht viel. Dann stellten wir ihm allerdings noch vor, dass jeder in unserer Familie seinen Anteil zu den Kosten beitragen würde. Und wenn er in Zukunft weiter bei uns wohnen wollte, er sich dann ebenfalls finanziell beteiligen müsse...

Einige Tage später zog er aus. In den nächsten Monaten hörten wir nur selten und in Bruchstücken von ihm. Er fand bei Bekannten für eine Zeit Unterschlupf, doch allzu lange dauerte es nicht und er musste sich einen neuen Unterschlupf suchen.

Für uns als Eltern war es schwer, aber wir lernten, ihn wirklich loszulassen - und als Christen ihn Gott zu überlassen. Wir hatten alles versucht und unser Kontingent an Möglichkeiten war erschöpft. Hier konnte nur noch Gott selbst eingreifen und sein Herz verändern. Das war unser Glaube und darum beteten wir täglich. Immer mehr. Und immer wieder.

Wunder

Zwei Jahre später bekam unser Sohn vom Arbeitsamt die Chance, in einer anderen Stadt ein Studium zu beginnen. Das dazu notwendige Abitur konnte er auf einem Extraweg nachweisen. Als wir unseren Jungen erstmals in seiner dortigen Unterkunft besuchten, staunten wir über die Ordnung in seinem Zimmer, seinen Schränken und sogar im Kühlschrank waren alle Dosen beschriftet! Wir erkannten seinen Lebensstil fast nicht wieder. Unser Verhältnis wurde dann immer enger und nach und nach kam verlorenes Vertrauen zurück. Jetzt - Jahre danach, genießen wir jeden Kontakt mit ihm. Natürlich lebt er in manchen Dingen anders als wir, aber wir haben gelernt, seine Entscheidungen zu akzeptieren. Und auch er selbst hat gelernt, mit den Konsequenzen seiner eigenen Entscheidungen zu leben.

Umdenken - aus eingefahrenen Gleisen ausbrechen, Neuland begehen - ist meist ein schmerzhafter Prozess. Aber mit Gottes Hilfe auch eine wunderbare und spannende Reise. Wir danken Gott für die Hilfe, die er uns immer wieder gegeben hat. Diese Vater-Kind-Beziehung zwischen Gott und mir selbst war schon immer bezeichnend in meinem Leben, weil mein "Vater im Himmel" schon immer wusste, was wichtig und gut für mich ist. "Danke, Gott, dass du uns geholfen hast!"

Als wir zu Weihnachten unsere Geschenke auspackten, waren auch nette Botschaften für meine Frau und mich dabei. Auf ihrer Karte bedankte sich unser Junge für die vielen Gespräche, meist per Telefon, die er besonders in letzter Zeit mit seiner Mutter geführt hatte. Und auf meiner Karte sicherte er mir zu, dass er seine Kinder später mal genauso erziehen wolle, wie er es bei uns gesehen hätte. Da kullerten dann doch einige Freudentränen die Wange herab.

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