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© Hannah Busing / unsplash.com

13.07.2024 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Theresa Folger

Glaube zwischen Liturgie und charismatischer Spontanität

Mein Weg zu einem „Glauben der Mitte“

Sonntagmorgen, in einer mittelgroßen Gemeinde am Ortsrand: Menschen beten laut singend oder weinend Gott an, es werden Fahnen geschwenkt und manche Besucher fallend vom Geist erfüllt zu Boden. In einem anderen Gottesdienst in derselben Stadt trägt zeitgleich ein Priester das Kreuz zum Altar. Die Menschen erheben sich, während die Orgelmusik durch das Kirchengebäude hallt.

Welche dieser Schilderungen fühlt sich für dich vertrauter an? Je nachdem, wie du geprägt bist, wird dir vermutlich die eine Gottesdienstform mehr als die andere zusagen – oder auch keine von beiden, weil deine Gemeinde wiederum ganz anders ist.

Deine geistliche Prägung beeinflusst auch deine Beziehung zu Menschen, die ihren christlichen Glauben ganz anders leben als du.

Wie kannst du mit der Spannung umgehen, die aus einem unterschiedlichen Glaubensverständnis oder unterschiedlicher Glaubenspraxis herrührt?

Dazu möchte dir ein wenig aus meiner eigenen geistlichen Geschichte erzählen. Denn ich selbst habe diese Spannung erlebt. Erst als junge Erwachsene habe ich begriffen, dass ein gereifter Glaube auch Vielfalt und Offenheit zulassen kann und individuell sehr unterschiedlich aussieht.

Wir sind die Besten…

Ich bin im evangelisch-säkular geprägten Niedersachsen in einem kleinen evangelikalen Gemeindebund aufgewachsen. Ich liebte unsere Lobpreisband, die Jugendfreizeiten und die herzliche Atmosphäre untereinander. An die schönen Gemeindeausflüge mit vielen Familien erinnere ich mich bis heute.

Als Jugendliche verbrachte ich viel Zeit in den Gemeinderäumen, denn auch unter der Woche fanden viele Veranstaltungen statt. Zungenrede, Prophetie und Heilungsgebete waren normaler Bestandteil unserer Gottesdienste.

Zwar gab es so einiges an Lehre in meiner Gemeinde, mit dem ich meine Schwierigkeiten hatte, aber ich dachte, ich dürfe als „guter Christ“ unsere Art zu glauben nicht in Frage stellen. Das wiederum brachte mich in einen inneren Zwiespalt und führte zu einem konstant schlechten Gewissen.

Trotzdem meinte ich genau zu wissen, was einen echten Christen ausmacht – er hatte nämlich genau so zu sein, wie es bei uns gelehrt und gelebt wurde. In meiner Wahrnehmung war unsere Gemeinde stets etwas heiliger als die Gemeinden um uns herum, und nur wir hatten die volle Wahrheit des befreienden Evangeliums ergriffen. Auf die anderen Gemeinden sah ich fast ein wenig herunter.

Ein echter Katholik!

Dann kam meine Studienzeit, die mich ins erzkatholische Passau führte. Dort machte ich mich sofort auf die Suche nach einer Gemeinde, die genauso war wie meine. Doch ich wurde nicht fündig. Die dortigen Baptisten sagten mir nicht zu, die evangelische Kirche hatte nur etwa ein Dutzend Besucher über 80 Jahre, und eine große geistliche Bewegung in der Nähe von Passau war mir nicht ganz koscher.

Also schloss ich mich der SMD an (einem Netzwerk von Christen in Schule, Hochschule und Beruf). Wir waren damals etwa 20 Leute, mit allen möglichen Glaubenshintergründen. Unter ihnen: ein Katholik! Was machte der denn hier?

Für mich waren Katholiken damals genau das Gegenteil von dem, was meiner Überzeugung nach einen echten Christen ausmachte.

Und spätestens seit der Reformation war doch klar, dass die Katholiken auf dem Holzweg waren. Heute bin ich zutiefst dankbar, dass ich Johannes kennenlernen durfte. Denn er wurde mir zu einem echten Vorbild tiefer Frömmigkeit. Er war konservativ, bescheiden und unaufdringlich. Er betete nicht ekstatisch und proklamatorisch, sondern still und leise. Er bekreuzigte sich beim Vaterunser und sah seine Berufung darin, Priester zu werden.

Und obwohl die Art, wie er sein Christsein lebte, das Gegenteil von dem war, was ich gelehrt wurde und was ich kannte, nahm ich ihm die Ernsthaftigkeit seines Glaubens ab. Denn er war authentisch.

Geistliches Neuland

Als ich ein Jahr lang vis-à-vis zum Passauer Dom wohnte, wollte ich die katholische Messe besuchen. Zunächst überwog die Angst – durfte ich das überhaupt? War der theologische Graben zwischen unseren Überzeugungen nicht viel zu groß?

Und wie sollte ich damit umgehen, wenn Gebete an die Gottesmutter gerichtet oder das Abendmahl gefeiert wurde, von dem ich als Nicht-Katholikin ausgeschlossen war? Aber ich war neugierig und wagte den Schritt trotzdem. Und betrat damit völliges Neuland.

Schon der Beginn des Gottesdienstes mit dem feierlichen Einzug des Kreuzes bewegte mich sehr.

 Entgegen meinen vorigen Überzeugungen hatte ich den Eindruck, dass hier Menschen saßen, die tiefgläubig waren und Gott aufrichtig ehrten.

Ja, wir legten die Bibel teilweise sehr unterschiedlich aus, und mit manchen Teilen der Liturgie konnte ich innerlich nicht mitgehen.

Dennoch beeindruckte mich vor allem der Respekt, den diese Menschen vor Gott hatten. Meine Heimatgemeinde hatte jegliche feierliche Traditionen zugunsten vermeintlich echter geistlicher Freiheit abgelegt, und sogar das Glaubensbekenntnis oder das Vaterunser kamen äußerst selten vor.

Anfangs blätterte ich hektisch im Gesangbuch hin und her, doch je öfter ich kam, desto vertrauter wurden mir die Worte der Liturgie. Und noch eins geschah: Meine Berührungsängste mit anderen Konfessionen wurden kleiner.

Horizonterweiterung

Zu meinem Studium gehörten auch Auslandsaufenthalte, und so hatte ich die Möglichkeit, noch weiter über den Tellerrand zu schauen. In Montreal besuchte ich eine chinesische Gemeinde, die englischsprachige Gottesdienste anbot. Es war eine dynamische, multikulturelle Community, die mir mit Offenheit und Freundlichkeit begegnete.

In Sevilla fand ich eine kleine evangelikale Gemeinde, die ihre Räume von innen schwarz gestrichen und im Discostil eingerichtet hatte, da sie vor allem für junge Menschen einladend sein wollte. Sie tauften ihre Schäfchen im Meer und feierten diesen Tag am Strand mit Fastfood-Mittagessen. Und in Paris ging ich eine kleine, feine Baptistengemeinde, die im säkular geprägten Frankreich eher eine Ausnahme war und Menschen aus unterschiedlichsten Hintergründen willkommen hieß.

Niemand hat die Weisheit mit Löffeln gefressen

All diese Glaubensgemeinschaften setzten andere Schwerpunkte in der Lehre und Ausdrucksform, als ich es kannte. Über viele Punkte ließe sich vortrefflich streiten.

Doch waren diese Menschen deshalb weniger erlöst als ich? Reisten sie „zweiter Klasse“ in den Himmel, weil sie den Glauben anders lebten, als ich es gewohnt war? Oder war ich diejenige, die ihre geistliche Prägung – und vor allem auch ihre Vorurteile und Berührungsängste – hinterfragen musste?

Damit meine ich nicht, dass ich alles über Bord werfen sollte, wie ich Christsein bisher verstanden hatte – und auch nicht, dass ich künftig alles unkritisch als „gleich gültig“ stehen lassen wollte.

Ich erkannte aber, dass die persönliche Beziehung zu Jesus im Zentrum des Glaubens steht und dass die Art und Weise, diese zu gestalten, sehr unterschiedlich aussehen kann. Jede christliche Gemeinschaft und jeder Gläubige befinden sich auf einem geistlichen Weg. Auf dem Weg mit Jesus und in seiner Nachfolge.

Niemand von uns hat „die Weisheit mit Löffeln gefressen“. Paulus beschreibt das in Philipper 3,12 (GNB): „Ich meine nicht, dass ich schon vollkommen bin und das Ziel erreicht habe. Ich laufe aber auf das Ziel zu, um es zu ergreifen, nachdem Jesus Christus von mir Besitz ergriffen hat.“

Meine Heimatgemeinde mit ihrer Ausrichtung stellte nicht die bessere Art des Christseins dar, sondern nur eine bestimmte, sehr charismatische Form.

Doch durch die Scheuklappen, die sich bei mir im Lauf der Zeit entwickelt hatten, war ich gar nicht in der Lage gewesen, mich auf andere Ausdrucksformen des Glaubens überhaupt einzulassen.

Keine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ unter Christen

Dadurch hatte sich bei mir dieses „Zwei-Klassen-Denken“ entwickelt: Gläubiger versus echter, wiedergeborener Christ. So hatte ich zum Beispiel aus meiner Kindheit die Annahme mitgenommen, dass man erst in Sprachen beten muss, um tatsächlich gerettet zu sein. (Da ich selbst nicht in Zungen reden konnte, löste das regelmäßig Panikattacken bei mir aus.) Doch finde ich dahingehend keinen Hinweis in der Bibel. Die Zungenrede kann ein Zeichen für die Präsenz des Heiligen Geistes sein, ist aber keine Voraussetzung dafür.

Eine ähnliche Frage, was man alles tun muss, um wahrhaft gerettet zu sein, finden wir in Apostelgeschichte 15. Dort geht es um die Frage, was einen echten Nachfolger Christi ausmacht: „Und einige kamen herab von Judäa und lehrten die Brüder: Wenn ihr euch nicht beschneiden lasst nach der Ordnung des Mose, könnt ihr nicht selig werden.“ (Apostelgeschichte 15,1)

Die Frage nach der Beschneidung auch von Menschen nichtjüdischer Herkunft war ein bedeutender Streitpunkt unter den ersten Christen. Petrus hielt daraufhin eine Rede (Verse 7-9), in der er deutlich machte, dass allein die innere Hinwendung zu Jesus für den Glauben entscheidend ist. Weder Beschneidung noch Sprachengebet noch sonstige äußere Zeichen sind darüber hinaus notwendig, um von Gott angenommen zu sein.

Ein „Glaube der Mitte“

Während eines Auslandseinsatzes mit OM, an dem Teilnehmer aus zahlreichen Nationen teilnahmen, wurde uns immer wieder gesagt:

Die Art, wie die anderen leben und glauben, ist nicht schlechter. Sie ist nur anders.

Dieser Satz hat sich bei mir eingeprägt. Und er bedeutet für meinen Glauben, dass ich mich auf den Kern des Evangeliums fokussiere und nach außen hin Platz für verschiedene Ausdrucksformen, Interpretationen und Zweifel lasse. Ich würde ihn als einen „Glauben der Mitte“ bezeichnen.

Der Kern dieses Glaubens steht in Römer 10,9: „Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet.“  Die Anerkennung der Rettung allein durch Jesus ist für mich der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens.

Darüber hinaus teile ich andere Menschen nicht mehr gedanklich in „mehr“ oder „weniger erlöst“ ein, weil sie die Bibel an bestimmten Stellen anders auslegen als ich. Unterschiede im Glaubensverständnis laden mich zur Reflexion ein, ohne dass wir unbedingt auf einen gemeinsamen Nenner kommen müssen.

Je weiter diese Überzeugungen auseinander gehen, umso schwieriger kann es sein, den Glauben gemeinsam zu leben. Das ist jedoch kein neues Phänomen. Schon die Epheser waren mit diesem Problem konfrontiert. Paulus schreibt ihnen diesbezüglich: „Habt Geduld und sucht in Liebe miteinander auszukommen. Bemüht euch darum, die Einheit zu bewahren, die der Geist Gottes euch geschenkt hat. Der Frieden, der von Gott kommt, soll euch alle miteinander verbinden!“ (Epheser 4,2-3, GNB)

Was sagt die Bibel zum „richtigen“ Gottesdienst?

Was die Gottesdienstform angeht, so hat diese viel mit kultureller, persönlicher und geistlicher Prägung zu tun. Schauen wir einmal an, was in der Bibel zum Abhalten von Gottesdiensten steht: Paulus ermutigt die Gläubigen, miteinander in Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern zu sprechen und zu singen (Epheser 5:19-20).

Er sagt, dass jeder etwas zum Gottesdienst beitragen kann, sei es ein Lied, eine Lehre oder eine Prophetie. (Ausgenommen die Frauen, doch das ist ein anderer Streitpunkt, zu dem man ganze Bücher füllen könnte und auf den ich hier nicht näher eingehen möchte.)

Außerdem betont Paulus, dass alles zur Erbauung der anderen und „anständig und ordentlich“ geschehen soll (1. Korinther 14:26-40). Das Abendmahl soll in der rechten Haltung eingenommen werden (1. Korinther 11:17-34). An Timotheus schreibt er über die Bedeutung der Predigt: „Verkündige das Wort, tritt dafür ein, es sei gelegen oder ungelegen; überführe, tadle, ermahne mit aller Langmut und Belehrung! (2. Timotheus 4:2, SCH2000).

Diese Anweisungen und Regeln sollen einen ordentlichen, respektvollen und erbaulichen Gottesdienst gewährleisten, der die Gemeinde im Glauben stärkt und Gott ehrt. Doch ob dies in Form einer Liturgie oder ohne erfolgt, mit alten oder neuen Liedern, mit Orgel oder E-Gitarre, das steht hier nicht.

Die Gottesdienstform und das Glaubensverständnis haben sich im Lauf der Jahrhunderte immer wieder verändert und weiter ausdifferenziert. Ich vermute, dass uns heute auch ein neutestamentlicher Gottesdienst in seiner Form erst einmal fremd wäre.

Wie also umgehen mit anderen geistlichen Ausdrucksformen oder anderem Lehrverständnis? Paulus gibt uns in 1. Thessalonicher 5 dazu einen guten Rat: Dort fordert er die Gläubigen dazu auf, eine unterscheidende Haltung gegenüber den Lehren und prophetischen Reden in der Gemeinde einzunehmen. Sie sollen alles prüfen, was sie hören und erleben, um sicherzustellen, dass es mit der Wahrheit des Evangeliums übereinstimmt. Nur das, was gut und wahr ist, soll beibehalten werden.

Diese Aufforderung „Prüft alles, aber das Gute behaltet“ (1. Thessalonicher 5,21) kann auch unser Leitfaden sein.  

Fazit

Mich hat es sehr befreit zu verstehen, dass es nicht die eine, richtige Ausdrucksform des christlichen Glaubens gibt, und dass ich auch das, was ich gelernt habe, hinterfragen darf.

Daher möchte ich auch dich ermutigen, offen für unterschiedliche Ausdrucksformen des Glaubens zu sein – seien es liturgische Feiern, Taizé-Gebete oder charismatische Anbetung. Selbst wenn dir nicht alles entspricht, sieh es nicht als Bedrohung deines Glaubens an, sondern als Einladung zur Reflexion.

Jeder Mensch ist einzigartig, und ebenso einzigartig sind auch die Zugänge, die wir zu Gott finden. Neben unserer Persönlichkeit spielt hier auch unsere familiäre und kulturelle Prägung eine große Rolle. Entscheidend ist einzig und allein die Herzenshaltung. Und die ist nicht daran festzumachen, ob jemand sich bekreuzigt oder fahnenschwenkend durch den Gottesdienstsaal läuft.

Wie geht es dir mit diesem Thema? Schreib gerne einen Kommentar dazu – öffentlich oder persönlich.

 Theresa Folger

Theresa Folger

  |  Redakteurin

Theresa Folger ist Diplomkulturwirtin und erfahrene Redakteurin Bereich mentale Gesundheit. Sie ist überzeugt: Persönlicher Glaube und Persönlichkeitsentwicklung gehen oft Hand in Hand. Daheim hört sie den Messias von Händel und probiert nebenbei Vollwert-Backrezepte aus.

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Kommentare (1)

Clarissa /

Vielen Dank für diesen so ehrlichen Artikel. Sie sprechen mir aus dem Herzen! Ich habe ähnliches erlebt allerdings aus der Sicht einer Katholikin. Ich habe auch schon sehr viele unterschiedlichen mehr

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