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© Nathan Dumlao / unsplash.com

09.10.2023 / Andacht / Lesezeit: ~ 2 min

Autor/-in: Horst Kretschi

Eine wünschenswerte Enttäuschung

Warum es gut sein kann, enttäuscht zu werden. Eine Andacht.

„Ich liebe die Menschheit, es sind die Menschen, die ich nicht ausstehen kann!“ Das sagt Linus in der Comic-Reihe Charlie Brown. Diesen Satz kann ich für mich so umformulieren: „Ich liebe Jesus Christus, es sind manche Christen, die mich irritieren!“

Und das hat Gründe. Als Jugendlicher begann ich, die Jugendgruppe einer christlichen Gemeinde zu besuchen. Dort wurde – wenig überraschend – viel über Jesus, die Bibel und den christlichen Glauben gesprochen. Ich stellte fest: Jesus war definitiv der, an den ich glauben wollte. Und so wurde auch ich Teil der Jugendgruppe und der christlichen Gemeinde.

Ernüchtert vom Verhalten anderer Christen

Schon bald musste ich aber auch feststellen, dass das, was in der christlichen Gemeinde erzählt wurde, und das, was gelebt wurde, nicht immer zusammenpassten. Das führte bei mir zur Ernüchterung. Wie konnte sich diese Person denn nur so verhalten? Sie war doch Teil der christlichen Gemeinschaft!

Ich war irgendwie frustriert, hielt aber dennoch an Jesus fest. Der konnte ja nichts dafür, dass es Menschen gab, die ihren Glauben, sagen wir mal, recht eigenwillig lebten.

Im Laufe der Zeit fiel mein Idealbild einer christlichen Gemeinschaft immer mehr in sich zusammen. Was mir half, waren Bücher. Zum Beispiel die des Briten Adrian Plass, der die Schwächen der christlichen Gemeinschaft auf sehr humorvolle Art beleuchtet. Spannend fand ich, dass Plass sich nicht ausnahm und auch über seine eigenen Defizite und sein eigenes Versagen schrieb.

Das begründete in mir den Verdacht, dass auch ich andere Menschen enttäuschte, obwohl ich doch so vorbildlich christlich leben wollte.

Eine heilsame Enttäuschung

Dann las ich das Buch „Gemeinsames Leben“ des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer.

Bonhoeffer schreibt darin: „Unzählige Male ist eine ganze christliche Gemeinschaft daran zerbrochen, dass sie aus einem Wunschbild heraus lebte. […] Es ist aber Gottes Gnade, die alle derartigen Träume rasch zum Scheitern bringt. Die große Enttäuschung über die Anderen, über die Christen im Allgemeinen und, wenn es gut geht, auch über uns selbst, muss uns überwältigen, so gewiss Gott uns zur Erkenntnis echter christlicher Gemeinschaft führen will.“

Bonhoeffer sieht die Enttäuschung über die christliche Gemeinschaft als heilsam an, weil sie die Chance in sich birgt, von einer Illusion hin zur „Erkenntnis echter christlicher Gemeinschaft“ zu kommen.

Vor allem ist es ihm wichtig, dass ich nicht nur über die anderen enttäuscht bin, sondern mich selbst auch kritisch hinterfrage, um – so sehe ich es – zum Kern der christlichen Gemeinschaft zu kommen.

Der wahre Kern christlicher Gemeinschaft

Der Evangelist Johannes formuliert den Kern der christlichen Gemeinschaft so: „Denn Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3,16).

Diese Liebe gilt auch mir und sie ist an keine Voraussetzungen gebunden. Und aus dieser Liebe entsteht auch die Gemeinschaft mit anderen Christen. Denn, so argumentiert Johannes in einem seiner Briefe: „Wir haben erkannt, dass Gott uns liebt, und wir vertrauen fest auf diese Liebe. Wir lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat“ (1. Johannesbrief, 4,16.19).

Heute sehe ich es so: Ich bin Teil der christlichen Gemeinschaft und werde es bleiben wegen Jesus und seiner Liebe zu mir.

Daran erinnere ich mich, wenn ich mal wieder von anderen oder auch von mir selbst enttäuscht bin! Wir sind eine Gemeinschaft von Gott geliebter Menschen, trotz aller Fehler.
 

 Horst Kretschi

Horst Kretschi

  |  Redaktionskoordinator

Horst Kretschi ist Redaktionskoordinator im ERF. Der gebürtige Hesse hat Geschichte, Philosophie und Theologie studiert, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er ist sehr heimatverbunden und würde nie aus Butzbach wegziehen. Auf seinem Blog "Horst spielt" rezensiert er regelmäßig Gesellschaftsspiele für Erwachsene und Familien. 

Ihr Kommentar

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Kommentare (2)

Veronika G. /

Danke für Ihren Text, da haben Sie wohl recht und es ist gut immer wieder darauf gestoßen zu werden, dass die "Anderen" nicht idealisiert sein wollen und man selbst auch dazu stehen kann, - ja mehr

Werner K. /

Lieber Herr Kretschi, mit dieser Andacht haben Sie mir aus dem Herzen gesprochen!
Danke.

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