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© Julia Baumgart / EKD

30.07.2022 / Interview / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Andreas Odrich

„Waffen liefern unkreativ!“

Pazifistin Margot Käßmann: Russische Zivilgesellschaft stärken.

 

„Entrüstet euch – von der bleibenden Kraft des Pazifismus“ mit diesem Titel haben die Theologin Margot Käßmann und der Liedermacher Konstantin Wecker 2015 im Blick auf den seinerzeit hundert Jahre zurückliegenden ersten Weltkrieg ein Buch mit Texten verschiedener Autoren zum Pazifismus zusammengestellt, das der bene!-Verlag anlässlich des Ukrainekrieges Ende Juni nun mit kleinen Ergänzungen neu aufgelegt hat.

„Auch wenn wir für total naiv gehalten werden, darf die Stimme des Pazifismus gerade jetzt nicht verstummen,“ sagt die Theologin Margot Käßmann im Interview mit dem ERF und hält das Liefern von Waffen für „unkreativ“. Andreas Odrich hat mir ihr über Chancen und Begrenzungen pazifistischer Konfliktlösungen gesprochen.


ERF: Am Sonntag des 27.02.2022 gab es eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages, vier Tage nach Beginn des Ukraine-Krieges in seiner jetzigen Form. Der Bundeskanzler verkündete eine Zeitenwende und stellte ein sogenanntes Sondervermögen, eigentlich Schuldenpaket, von 100 Milliarden für Rüstungsausgaben unter großem Applaus der Abgeordneten in Aussicht. Was ist Ihnen in diesem Moment durch den Kopf gegangen – haben Sie sich entrüstet?

Margot Käßmann: Also ich muss sagen, mir hat es tatsächlich die Sprache verschlagen und das ist selten bei mir der Fall, weil eine so gigantische Summe von 100 Milliarden Euro zu investieren für Rüstung und Militär, das ist für mich einfach nicht zukunftsweisend.

Ich habe sieben Enkelkinder. Wenn ich denke, was für ihre Zukunft nötig ist, dann ist es wichtig, die Klimakatastrophe zu bekämpfen, und dass wir in Bildung, Gesundheit, Entwicklung in den armen Ländern des globalen Südens investieren, aber doch nicht so eine Riesensumme für Militär ausgeben, das ist für mich keine positive Zeitenwende.

Vorwurf Naivität

ERF: Wäre es nicht aber umgekehrt naiv, angesichts dessen, wie wir jetzt den Ukraine-Krieg mit all seinen Grausamkeiten erlebt haben, einfach zu sagen von unserer Seite, lass die Waffen ruhen, auch wenn die Ukraine dann überrollt wird, mit allen Konsequenzen, die das hätte, auch was etwa die Menschenrechte anbelangt. Ist das tatsächlich die Lösung?

Margot Käßmann: Mit dem Vorwurf der Naivität setze ich mich seit Jahrzehnten auseinander, und das geht allen Pazifistinnen und Pazifisten so. Ich frage mich, ob es nicht auch naiv ist, zu meinen, wenn wir immer mehr Waffen liefern, immer mehr hochrüsten, immer mehr investieren in Waffensysteme und Kriegsproduktion, dass das dann „die Chance“ für den Frieden wäre.

Jetzt wird unsere Freiheit in der Ukraine verteidigt, vor ein paar Jahren noch wurde sie am Hindukusch verteidigt. Ich muss sagen, ich finde es bedrückend, dass wir das jetzt (den Ukraine-Krieg, Anm. der Redaktion) als Anlass nehmen – der Krieg in Syrien tobt seit elf Jahren, der Krieg im Jemen tobt seit sieben Jahren, wollen wir da überall Waffen an eine Kriegspartei liefern und sagen, damit wird unsere Freiheit verteidigt?

Ich finde es – auch das muss ich sagen – belastend , die ganze Ukraine in die Pflichtschuld zu nehmen, unsere Freiheit zu verteidigen. Da müssen wir uns schon fragen, ja was tun denn wir dafür? Und das möchte ich noch sagen: Wenn uns als Pazifisten vorgeworfen wird, dass wir gemütlich vom warmen Sofa aus argumentieren, was tun denn diejenigen, die jetzt für Waffen plädieren und für schwere Waffen, die geliefert werden – diejenigen sitzen ja auch zu Hause auf dem Sofa und werden nicht an vorderster Front kämpfen.

Auf Diplomatie setzen

ERF: Auf Basis der deutschen Geschichte hätte man annehmen können, dass die anderen europäischen Staaten mit der Haltung der jetzigen Bundesregierung ganz zufrieden sein müssten, dass wir uns nämlich zurückhalten und nicht nach vorne preschen.
Doch das Gegenteil ist der Fall, man erwartet offensichtlich auf der politischen Bühne, auch auf der europäischen, ein konsequenteres mehr nach vorne Agieren Deutschlands, wie ist das zu erklären?

Margot Käßmann: Was heißt, „man erwartet“? Ich würde erwarten, dass unsere Bundesregierung sehr klar sagt, aufgrund der deutschen Geschichte und dem Einmarsch in die Sowjetunion, der sowohl Russland als auch die Ukraine betroffen hat, halten wir eine Position der Zurückhaltung, der Besonnenheit und eine Haltung, die alle Kraft in die Diplomatie setzt, für richtig. Wenn das glasklar vertreten wird, denke ich, würde das von den europäischen Nachbarn auch verstanden werden.

Lösung Waffenstillstand

ERF: Was könnten wir denn jetzt in der aktuellen Situation ganz konkret tun?

Margot Käßmann: Ich bin keine Strategin, die weiß, wie man Kriege beendet und löst. Ich weiß nur, dass Kriege immer durch Waffenstillstand beendet werden müssen. Ich war mal an der Demarkationslinie zwischen Süd- und Nordkorea, einmal von der nördlichen Seite und einmal von der südlichen. Da siehst du die Absurdität. Da ist eine Grenzlinie, schwer bewaffnet von beiden Seiten. Es ist ein Waffenstillstand aber noch kein Friedensabkommen.

Für mich auch als Christin ist das oberste Gebot, die Waffen müssen schweigen. Bertha von Suttner, die wir in unserem Buch auch zitieren, hat gezeigt, was das heißt, wenn wir mehr Waffen liefern: Zerfetzte Menschen und noch mehr Tote. Als Christin muss ich sagen: Selig sind die Frieden stiften.

Das ist für mich das Primat, zu sagen, wir sollten alles tun, einen Waffenstillstand herbeizuführen. Sicher wird es Kompromisse geben müssen. Selbst Henry Kissinger hat im Stern gesagt, zur Not muss man eben auch mit einem Kriegsverbrecher wie Wladimir Putin verhandeln. Aber das oberste Gebot muss doch sein, dass die Waffen schweigen, und dass nicht immer noch mehr Waffen hineingepusht werden, auch wenn wir sicherlich nicht die perfekte Lösung haben.

Zivilgesellschaft stärken

ERF: Aber die Frage ist doch, wie kann Einfluss genommen werden auf die russische Regierung, und nicht zuletzt auch auf Wladimir Putin?

Margot Käßmann: Ich denke, ein Punkt, den wir vielleicht zu wenig in den Vordergrund stellen, ist Einfluss zu nehmen auf die russische Zivilgesellschaft. Es werden jetzt Kontakte abgebrochen, Städtepartnerschaften werden aufgekündigt, Universitätspartnerschaften ebenfalls.

Die russisch-orthodoxe Kirche soll aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen ausgeschlossen werden, das halte ich für falsch. Ich finde, wir sollten alles tun, Gespräche mit den Vernünftigen in Russland zu führen.

Auch diese Kriegspropaganda, mit der Wladimir Putin so massiv agiert, sollten wir unterlaufen, indem wir ganz deutlich machen, dass wir andere Informationen weitergeben können. Und ich finde auch falsch, dass die Verleihung des Friedenspreises in Göttingen verschoben werden sollte an junge Musiker aus Deutschland und Russland, die Musik für den Frieden machen. Es wäre doch gut, diese jungen Leute zu unterstützen.

Es gibt in Russland auch Widerstand gegen Putin. Wir wissen, dass es inzwischen tausende tote russische Soldaten gibt. Da gibt es Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Ehefrauen und Familien, die trauern.

Diesen Widerstand zu unterstützen, und die Propaganda zu unterlaufen, das finde ich wichtig, weil wir auch weiter mit Russland leben werden. Russland wird auch weiter ein Land in unserer Nachbarschaft sein, und wir müssen schauen, was wir alles tun können, um eine Veränderung voranzubringen.

Jede Mutter will Frieden

ERF: Wessen Krieg ist das derzeit aus Ihrer Sicht: Der Krieg Wladimir Putins, der Krieg bestimmter Oligarchen, oder der Krieg „der Russen“, wie manche inzwischen angesichts der Berichte über Erschießungen und Vergewaltigungen an der ukrainischen Zivilbevölkerung durch russische Soldaten auch sagen?

Margot Käßmann: Das ist doch nicht der Krieg „der Russen“, das muss ich ausdrücklich sagen. Jede Mutter in jedem Land der Welt, und das ist doch auch sehr schön in alten Texten z.B. von Käthe Kollwitz zu sehen, möchte doch ihren Sohn geschützt wissen. Jede Familie möchte in Frieden, in Ruhe, mit Nahrung, Obdach, Gesundheitsversorgung ihrer Arbeit nachgehen können, um die nächste Generation zu versorgen.

Es ist schon Wladimir Putin mit seinem Großmachtdenken. Was mich sehr belastet, ist, dass die russische-orthodoxe Kirche, jedenfalls Patriarch Kyrill, damit konform geht, und alle Friedensappelle der Bibel, also „Schwerter zu Pflugscharen“, „Sie sollen nicht mehr lernen Krieg, zu führen“, „Steckt das Schwert an seinen Ort“, ignoriert, um einer nationalistischen These willen.

Ich finde das schon sehr bedrückend. Das ist nicht der Krieg „der Russen“, das sollten wir uns deutlich machen. Sondern das ist der Krieg von Allmachtsphantasien eines alten Mannes, der meint, irgendein Zarenreich wieder auferstehen zu lassen. Ich finde, wir sollten uns davon nicht verführen lassen, Menschen gegen Menschen auszuspielen.

Versäumnis der Kirchen

ERF: Kommen wir auf die kirchliche Ebene und was möglicherweise die Kirchen für einen Einfluss haben. Da spielt Ihr Erfahrungsschatz als ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und Bischöfin sicherlich eine Rolle, weil sie da ein Stück näher dran sein konnten.
Sie sagten gerade, bitte nicht den Kontakt zur russisch- orthodoxen Kirche abreißen lassen, oder sie gar ausschließen aus dem
Ökumenischen Rat der Kirchen. Inwieweit ist es denn möglich, an den Patriarchen heranzukommen, um ihn von einer anderen Haltung zu überzeugen?

Margot Käßmann: Das ist sehr schwierig. Der Patriarch war viele Jahre in der Zeit, in der ich auch im Zentralausschuss des Europäischen Rates der Kirchen war, ebenfalls dort Mitglied. Wir wussten alle, was er für eine Haltung hat, und es gab eine sehr große Zurückhaltung, den Patriarchen zu kritisieren.

Als ich Ratsvorsitzende der EKD wurde, hat die russisch-orthodoxe Kirche die Beziehung zur EKD abgebrochen, weil die Wahl einer Frau Anpassung an den westlichen Zeitgeist sei, und da musste ich mich schon energisch durchsetzen, und sagen, ich schreibe zurück, weil es dann hieß, vielleicht muss doch ein Mann einem Mann zurückschreiben.

Ich finde, da haben wir als Kirchen auch versäumt, diese nationalistischen Tendenzen der russisch-orthodoxen Kirche in den Gesprächen kritisch und glasklar zu hinterfragen. Wir sind doch Brüder im Geiste, und diese klaren Gespräche müssten wir eigentlich führen, wenn wir sagen, wir sind eine ökumenische Bewegung. Die ganzen hehren Ziele und Worte, wenn die wahr sein sollen, dann muss es auch klare und offene, konfliktreiche Gespräche geben.

Glasklare Worte nötig

ERF: Eine Basis dafür könnte sein, dass sich in Karlsruhe Ende August, Anfang September der Ökumenische Rat der Kirchen trifft. Sie sagen, man sollte auf Dialog setzen, statt die russisch-orthodoxe Kirche auszuschließen. Was erhoffen Sie sich von diesem weltweiten Treffen christlicher Leiterinnen und Leiter?

Margot Käßmann: Wenn dieses Treffen mutig ist, dann wird es auch glasklare Worte finden, die den Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilen und die die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche zur Diskussion stellen. Und es muss sagen, eine Kirche, die Waffen segnet, muss sich fragen, ob sie dem Auftrag von Jesus Christus nachkommt, Frieden in die Welt zu bringen.

Die Teilnehmenden sollten aber auch die eigene Rolle hinterfragen. Es geht nicht darum, immer mit dem Finger auf die einen Schuldigen zu zeigen, sondern wir müssen uns auch fragen, was ist denn unsere Rolle?

Beispielsweise frage ich: müssen kirchliche Synoden in Deutschland erklären, dass sie die Lieferung schwerer Waffen befürworten? Ich hatte gehofft, dass wir gelernt haben, dass Kirchen nicht Waffen zu segnen haben, sondern immer zum Frieden zu rufen haben.

Gordischen Knoten durchschlagen

ERF: Das könnte fast ein Schlusswort sein. Dennoch habe ich das Gefühl, dass wir trotz christlichen Glaubens und christlicher Ethik bei der Gestaltung der Zukunft unserer Kinder und Enkel einen gordischen Knoten zu durchschlagen haben. Aktuell wird gerade diskutiert, dass man befürchtet, dass die Volksrepublik China versuchen könnte, Taiwan zu überfallen. Es wird also nicht besser, sondern schlimmer.

Margot Käßmann: Pazifisten versuchen, langfristig zu denken und deshalb beobachten wir schon seit Jahren die stetige Aufrüstung gerade auch im asiatischen Raum, die enorm ist, und an der enorm verdient wird. Die Aktien von Rheinmetall beispielsweise oder von Heckler & Koch gehen gerade durch die Decke.

Wir müssen uns fragen, ob das das Ziel ist. Langfristig müssen wir sagen, dass wir alles tun müssen, um Abrüstung herbeizuführen, auch atomare Abrüstung, damit diese Bedrohung der ganzen Welt aufhört. Ich habe keine Lösung ad hoc für den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.

Aber es gibt ja Friedenspläne, beispielsweise durch Italien, die sehr klare Vorgaben haben, wie die OSZE und die UNO eingebunden werden können, dass multilateral viele Staaten dieser Welt sich einbringen zu einer Friedenslösung, und dass die Lösung, die jetzt immer auf dem Tisch liegt, Waffen zu liefern, nicht sehr kreativ ist.
 

ERF: Frau Käßmann, vielen Dank für das Gespräch.
 

 Andreas Odrich

Andreas Odrich

  |  Redakteur

Er verantwortet die ERF Plus-Sendereihe „Das Gespräch“. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist begeisterter Opa von drei Enkeln. Der Glaube ist für ihn festes Fundament und weiter Horizont zugleich.

Ihr Kommentar

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Kommentare (3)

Ulrich H. /

Ich war neulich das erste Mal mit Frau Käsmann einer Meinung, ob man jemanden, der aus der Kirche ausgetreten ist, die Kirche für eine kirchliche Trauung zur Verfügung stellt (ihre Antwort war nein). mehr

Ronit R. /

Sicher bringt Frau Käßmann interessante und anregende Aspekte zum Thema: Ukrainekrieg vor, jedoch fragt man sich, wenn man ihrer Argumentationslinie folgt, ob sie die militärische Verteidigung eines mehr

Günther B. /

Die Margot Käßmann habe ich immer gemocht. Leider ist ihre Sicht in diesem konkreten Fall unrealistisch.... es gibt eine Doku über Winston Churchill, wie er damals dem "Herrn Hitler" entgegen mehr

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