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© Thirdman / pexels.com

07.02.2024 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Delia Helfenbein

Vorsicht: Machtmissbrauch

Wie man Machtmissbrauch erkennt und wie gute Leitung in Kirche und Gemeinde aussieht.

Ist dir aufgefallen, dass Kinder unheimlich gern „Vater, Mutter, Kind“ spielen? Ich erinnere mich gut an dieses Spiel. Ich hatte viel Spaß dabei, meinen kleinen Cousin herumzukommandieren – ich war schließlich die ältere und deshalb ganz klar die Mutter. Für ein paar Stunden musste er auf mich hören und wir taten, wozu ich Lust hatte.

Wahrscheinlich ist genau das der Reiz dieses Spiels: Bestimmen dürfen. Als Kind wünscht man sich, selbst entscheiden zu können, was man tut und was nicht. Denn oft bestimmen das die Eltern und andere Erwachsene. So ist das bei der Kindererziehung. Eltern entscheiden über ihre Kinder, sie haben Macht über sie.

Nicht nur in der Kindheit ist das so. Auch als Erwachsene gibt es Menschen, die Macht über mich haben. Da sind zum Beispiel mein Chef und mein Gemeindeleiter: Beide üben an unterschiedlichen Stellen Macht über mich aus.

Mein Gemeindeleiter trifft zwar im Gegensatz zu meinem Chef keine Entscheidungen für mich, dennoch werde ich als Christin durch das beeinflusst, was ein geistlicher Leiter und Vorbild gutheißt oder eben auch nicht.

Was ist Macht und wann wird sie gefährlich?

Macht hat theoretisch jeder, der Einfluss hat. Denn ohne Macht ist man im wahrsten Sinne des Wortes ohnmächtig. Deshalb ist Macht auch nichts Schlechtes. Sie ist sogar nötig, um etwas zu bewegen. Gefährlich wird es jedoch, wenn Macht gebraucht wird, um damit anderen zu schaden.

Thomas Härry - Fotograf Tom Pingel
Autor Thomas Härry ist es wichtig, über Machtmissbrauch aufzuklären. (Copyright: Tom Pingel Fotografie)

Der Autor und Theologe Thomas Härry erklärt im Interview, wann man von Machtmissbrauch spricht, nämlich wenn eine Person mit ihrer Macht emotionalen, verbalen oder physischen Druck ausübt und Mittel verwendet, um andere zu manipulieren. Der Wille desjenigen in der Machtposition wird dann demjenigen in der geringeren Position aufgedrängt.

Eine leichte Form von Machtmissbrauch hat Thomas Härry in der Arbeitswelt erlebt: Ihm wurde mit grenzwertigen Argumenten und Mitteln nahegelegt, seine Stelle zu wechseln. Aber auch die andere Seite kennt er: In seiner Zeit als Pastor hat er selbst gemerkt, wie leicht es passieren kann, dass er verbalen Druck auf Menschen ausübt, die er leitet. Er hat sich hier von anderen korrigieren und helfen lassen.

Der Wille Gottes als Rechtfertigung für manipulatives Verhalten

Wenn Macht von Leitenden in einer christlichen Gemeinde missbraucht wird, kommt laut Härry oft noch ein zusätzliches Machtmittel hinzu: Die manipulierenden Leiter rechtfertigen ihre Mittel mit dem Willen Gottes. Um den eigenen Machtwillen zu kaschieren, wird dann mit Gottes Willen argumentiert.

Ein extremes Beispiel hierfür: In einer Gemeinde gilt es als falsch, sich in der „bösen Welt“ aufzuhalten. Alles Unchristliche soll vermieden werden. Wenn der Pastor zusätzlich in Predigten Strafen für diejenigen androht, die Kontakt zu andersgläubigen Menschen haben, ist das ein Fall von geistlichem Machtmissbrauch.

Gefährlich ist hierbei, dass Leiter, die mit dem Willen Gottes argumentieren, oft den Anschein erwecken, als würde es ihnen ausschließlich um Gott gehen.

Auch sie selbst realisieren nicht immer, dass ihr Verhalten und die Rechtfertigung missbräuchlich sind. Das macht das Ganze komplex.

Wie kann Machtmissbrauch verhindert werden?

Thomas Härry erklärt, dass beim religiösen Machtmissbrauch immer zwei Dinge eine Rolle spielen: die Person selbst und die Strukturen um sie herum. Wenn zum Beispiel ein Pfarrer unter Druck steht, sich gestresst fühlt oder eine narzisstische Neigung hat, kann etwas in ihm „geweckt“ werden, was zu missbräuchlichem Verhalten führt.

Wenn dann noch die Strukturen in der Kirche so aufgebaut sind, dass der Pfarrer allein an der Spitze steht, von kaum jemandem hinterfragt wird und keine Rechenschaft für seine Entscheidungen abgeben muss, tragen diese Faktoren zum Entstehen von Machtmissbrauch bei.

Deshalb sind sowohl die eigene Leitung als auch die Struktur der Organisation entscheidend, um Machtmissbrauch vorzubeugen.

Es ist für Leitende nötig, mit den Schwachstellen in der eigenen Persönlichkeit, mit seelischen Nöten und Bedürfnissen gut umzugehen.

Thomas Härry ist davon überzeugt, dass jeder Leiter Neigungen in sich trägt, die zu missbräuchlichem Verhalten führen - auch, wenn das niemals die Absicht ist. Umso wichtiger ist es, ehrlich mit sich selbst über die eigenen Schwachstellen zu sein und sie gut zu verwalten.

Gute Strukturen ermöglichen eine gesunde Leitung

Thomas Härry ist Befürworter von Strukturen, die eine gesunde Leitung ermöglichen. Das fängt schon damit an, dass die Leitungsperson in einem transparenten Auswahlverfahren ihre Position erhält. Zum Beispiel indem der Pastor durch eine Abstimmung von den Gemeindemitgliedern gewählt wird.

Auch sollte die Leitung einer Kirche oder Organisation nie bei einer Person allein liegen. Es sollten immer weitere Menschen in Entscheidungen involviert sein. Thomas Härry vergleicht hier einen einsamen Leiter an der Spitze mit einem Diktator.

Damit das nicht passiert, sollte ein Pastor nie allein über alles die Macht haben. Es sollte ein Team geben, das gemeinsam Einfluss nimmt.

Zusätzlich muss die Rolle des Leiters klar definiert sein: Der Pastor selbst sollte seine Rolle und deren Grenzen kennen. Es muss ihm und den Gemeindegliedern klar sein, wofür er zuständig ist und wofür nicht. Alle sollten wissen, was sein Aufgaben- und Verantwortungsbereich ist und was nicht.

Rechenschaftsstrukturen helfen ergänzend, eine gesunde Leitung sicherzustellen. Feedback zwischen Leitung und Geleiteten ermöglicht einen offenen Austausch über das, was gut läuft, und über Dinge, die verändert werden sollten.

Auch von persönlichen Rechenschaftsbeziehungen wie etwa Supervision profitieren Leitenden: Hier können sie mit ausgewählten Rechenschaftspartnern vertraulich über ihre Rolle als Leiter reden und darin unterstützt werden.

Gute Leitung erkennt man an ihren guten Früchten

Wenn die Leitung einer Kirche oder Gemeinde gut funktioniert, erkennt man das. Thomas Härry ist überzeugt, dass die Leiter selbst und auch die geführten Menschen unter gesunder Leitung aufblühen.

Wenn Gutes in Bewegung kommt durch die Leitung, zum Beispiel Angebote, die die einzelnen Gemeindemitglieder fördern, oder hilfreiche Arbeitsprozesse ins Leben gerufen werden, zum Beispiel das Teilen einer Aufgabe, dann ist die Leitung gesund. Dann gelangen Menschen zu mehr Freiheit, Fröhlichkeit, Mut und Stärke.  

Gute Leiter nutzen ihre Macht, damit die Menschen unter ihrem Einfluss wachsen und mündiger werden.

Gute Leiter blühen auf in ihrer Leitung und übernehmen Verantwortung für sich selbst, für ihr eigenes Tun und für die Menschen, die sie leiten.

Wenn all das nicht der Fall ist und ein Leiter seine Macht ausnutzt, um Menschen zu manipulieren, sich zu profilieren und damit eine Angstkultur in einem Team oder der Gemeinde entsteht, emotionale Grenzen überschritten werden, es zu körperlichen Grenzverletzungen kommt, sollte das ernst genommen werden.

Thomas Härry ermutigt dazu, Machtmissbrauch zur Sprache zu bringen. Betroffenen von religiösem Machtmissbrauch rät er, sich jemandem anzuvertrauen und klar zu benennen, wo eine Leitungspersonen manipuliert oder unter Druck setzt. Dafür gibt es Opferberatungsstellen.

Leitende und Organisationen hält Thomas Härry dazu an, wachsam zu sein, gesunde Strukturen zu etablieren und Personen ernst zu nehmen, die auf einen Machtmissbrauch innerhalb der eigenen Kirche oder Organisation hinweisen. Die Augen hiervor zu verschließen, schadet langfristig nur.

Geistlicher Missbrauch passiert nicht von heute auf morgen

Religiöser Machtmissbrauch ist ein ernstes Thema, das adressiert werden sollte. Was mir klar wird: Machtmissbrauch entsteht nicht einfach so von heute auf morgen. Wie Thomas Härry erklärt, nimmt sich kein Pastor vor, seine Macht zu missbrauchen. Und kaum eine Kirche oder Organisation schafft bewusst Strukturen, die ein missbräuchliches Verhalten der Leitenden ermöglichen.

Wenn es zum Machtmissbrauch kommt, spielen viele Faktoren eine Rolle. Vieles kommt zusammen. Umso wichtiger ist es, die einzelnen Faktoren zu kennen und wachsam dafür zu sein, ob nicht der ein oder andere Punkt in der eigenen Gemeinde vorhanden ist.

Das Gute ist: Durch Wachsamkeit, Sensibilität für das Thema und das Kennen der Faktoren kann ich mich und andere vor geistlichem Machtmissbrauch schützen. Denn ich bin nicht machtlos in der Position der Geleiteten: Ich kann und sollte aufmerksam machen auf Missstände, bevor diese zum Machtmissbrauch führen, und dadurch Dinge zum Positiven verändern.
 

 Delia Helfenbein

Delia Helfenbein

  |  Redakteurin

Delia Helfenbein ist Volontärin bei ERF Plus mit dem Schwerpunkt auf der Musikredaktion. Die gebürtige Hessin hat in Mainz Amerikanistik und Filmwissenschaft studiert und liebt es, hinter dem Mikro zu stehen – nicht nur als Sprecherin, sondern auch als Singer-Songwriterin.

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