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© Penguin Verlag

27.01.2024 / Buchrezension / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Rebecca Schneebeli

Schuld, die unverzeihlich ist

Hanna Aden erzählt in „I love you, Fräulein Lena“ anhand des Schicksals einer Pastorentochter vom Alltag in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges.

„Wenn ihr je in Not geratet, dann sucht nach dem nächsten Pfarrhaus. Klopft an die Tür und sagt, dass ihr Pastorentöchter seid. Vielleicht hilft man euch dort.“ Mit diesen Worten beginnt der Roman „I love you, Fräulein Lena“ von Hanna Aden. Darin greift sie Erfahrungen ihrer eigenen Großmutter fiktional auf.

Die Geschichte beginnt im Frühjahr 1945. Die 19-jährige Lena Buth und ihre jüngere Schwester Margot sind aus Pommern geflohen. In Niebüll klopfen sie an das Pfarrhaus, hungrig und erschöpft. Sie haben Glück, dürfen bleiben und der Pfarrfrau im Haushalt helfen. Nach den Schrecken der Flucht beginnt für die beiden Mädchen ein neuer Lebensabschnitt, der neue Herausforderungen bereithält.

Die Bewohner im nordfriesischen Niebüll behandeln die Flüchtlinge mit Argwohn. Dass Lena aufgrund ihrer Englischkenntnisse ausgerechnet eine Stelle als Dolmetscherin bei den britischen Besatzern erhält, hilft da wenig, gibt ihr aber eine neue und ungewohnte Freiheit. Sie, das Pastorenmädchen aus Greifenberg, darf ein Automobil steuern und hat plötzlich eine wichtige Position.

Doch dann kehrt ein Dorfbewohner aus dem Krieg zurück, den Lena von der Flucht kennt. In ihrer Not hatte sie ihm den Mantel gestohlen. Als sie aus Angst, ertappt zu werden, den Mantel durchsucht, findet sie in dessen Untiefen einen Hinweis auf ein dunkles Geheimnis des Mannes. Lena ist hin und hergerissen. Soll sie das Kriegsverbrechen zur Anzeige bringen? Und wenn sie es tut, verliert sie dann ihre neue Heimat?

Vortreffliche Figurenbeschreibung

Ich scheue mich meist davor, Bücher von Autoren zu rezensieren, die ich persönlich kenne. In diesem Fall bin ich froh, dass ich es trotzdem getan habe. Ansonsten wäre mir ein großartiges Buch entgangen, das meine Erwartungen weit übertroffen hat.

Hanna Aden schafft es vortrefflich, die angespannte Stimmung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Worte zu fassen.

Alle Figuren sind so lebensecht, dass man sogar mit dem SS-Mann Joachim Baumgärtner hin und wieder Mitleid verspürt.

Besonders verbunden habe ich mich der Protagonistin Lena gefühlt. Lena ist ein Mensch voll tiefem Glauben, aber mit einem ebenso starken Gerechtigkeitsbedürfnis und Lebenshunger. Ihre inneren Kämpfe, das Richtige zu tun, konnte ich in jeder Situation nachvollziehen, weil ihre Fragen ebenso gut die meinen hätten sein können, wäre ich je in einer Lage wie der ihren gewesen.

Aber auch die anderen Figuren erweckt Hanna Aden in ihrem Buch zum Leben: Den nachdenklichen Kriegsversehrten Rainer Weber und dessen naiv-trotzige Verlobte Gisela, die resolute Frau Weber und die sensible Margot.

Einfühlsam beschreibt Hanna Aden, wie all diese Menschen mit den Nachwirkungen des Krieges zu kämpfen haben. Rainer mit seiner Scham, auf Krücken angewiesen zu sein, und den Schuldgefühlen, die Kameraden im Stich gelassen zu haben. Lena mit dem Wissen, dass sie die deutlich weniger angepasste Kriegs-Lena, die auch mal Regeln gebrochen hat, irgendwie vermisst.

Subtext zeichnet damalige Sprachlosigkeit nach

Besonders ist an Hanna Adens Schreibstil, dass sie es durch gezielt eingesetzten Subtext schafft, die Erlebnisse der beiden Mädchen auf der Flucht real werden zu lassen, obwohl und weil sie gerade nicht benannt werden. Dies macht die Sprachlosigkeit über das, was sie durchlitten haben, greifbar.

So erfahre ich als Leserin nur am Rande, dass die 14-jährige Margot auf der Flucht von Soldaten missbraucht oder zumindest sexuell bedrängt wurde. Nie sprechen die Schwestern darüber und doch spürt man bereits auf den ersten Seiten, dass Margot auf der Flucht Schlimmes erlebt hat. Auch bei den anderen Figuren ist die Sprachlosigkeit über die Kriegserfahrungen spürbar.

Handfeste Glaubens- und Gewissensfragen

Das Hauptthema des Romans „Kann so etwas wie der Holocaust vergeben werden?“ schwingt schon ganz früh mit, lange bevor es zum ersten Mal offen zur Sprache kommt und schließlich zum größten Dilemma wird, mit dem Lena konfrontiert ist.

Denn das Buch ist keines, das nur davon erzählt, wie schwierig es zu Kriegsende für viele Deutsche war, die Schrecken der vergangenen Jahre zu verarbeiten und sich ein neues Leben aufzubauen; es stellt auch die Frage, wie es so weit kommen konnte. Wie nicht nur der Nationalsozialismus und der Krieg, sondern auch ein Kriegsverbrechen wie der Holocaust möglich werden konnte.

Hanna Adens Figuren reden so über diese Frage, als würden sich tatsächlich Menschen von damals darüber austauschen. Damit schafft die Autorin es, den Leser nicht aus der Sicht unserer heutigen Zeit zu belehren. Dies tut sie mit einem so klaren Bezug zum christlichen Glauben, wie ich es noch nie in einem Publikumsverlag gelesen habe.

Die Szenen, in denen Lena ihren Glauben im Kontext des damaligen Geschehens reflektiert, gehören mit zu den besten über den christlichen Glauben, die ich je in einem Roman gelesen habe.

So ehrlich, so schlicht und mit einer solchen geistlichen Tiefe. Hier gibt es kein frommes Blabla und ich werde als Leser nie angepredigt.

Kann etwas wie der Holocaust vergeben werden?

Ich erlebe die Welt durch Lenas Augen und dazu gehört auch ihr Glaube und die Frage: „Kann Gott so etwas wie den Holocaust vergeben?“ Großartig ist, wie intensiv Lena hier um eine Antwort ringt. Als sie sich im Roman fragt: „Wie sollte Gott etwas vergeben, was auf diese furchtbare Weise über alles hinausging, was Menschen sich vorstellen konnten?“, fällt es auch mir schwer, darauf eine Antwort zu finden.

An vielen Stellen im Roman lief mir ein Schauer über den Rücken, weil die Fragen, die Hanna Aden aufwirft, so wichtig und gleichzeitig so schwer zu beantworten sind. Lena entscheidet sich nicht für Vergebung, aber auch nicht dafür, den Täter anzuprangern.

Damit bleibt der Roman in dieser Frage herrlich offen. Danke dafür! Gerade das lässt Raum, nach dem Lesen selbst nach Antworten auf diese Frage zu forschen.

Neben allem eine großartige Liebesgeschichte

Ebenso sensibel schildert Hanna Aden auch Lenas Gefühle, sowohl für Rainer, den Kriegsversehrten, als auch für ihren Vorgesetzten Lieutenant Nigel Harris. Sie setzt hier auf kleine Gesten, die das Erleben der Figuren umso realistischer machen.

Auch die Beziehungen der anderen Figuren zueinander beschreibt Hanna Aden lebensnah. Beim Lesen habe ich Rainers Verlobte Gisela gleichsam bemitleidet wie verachtet. Sie setzt so offensichtlich auf Manipulation, um Rainer an sich zu binden, dass deren Beziehung einfach scheitern muss.

Die Liebe der resoluten Frau Weber zu ihren Kindern, die Geschwisterbeziehung zwischen Rainer und seinen Schwestern, ja, sogar, die übergriffige Art, mit der Joachim Baumgärtner der jungen Margot begegnet; all das ist wie aus dem Leben gegriffen.

Es geht an ganz vielen Stellen im Buch um Beziehungen und auch um Liebe. Die Liebe der Schwestern zueinander, die gegenseitige Unterstützung der Menschen im Ort, aber auch um die zart aufkeimende Liebe zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann.

Tatsächlich ist das Buch damit auch eine großartige Liebesgeschichte und ich hoffe in der Fortsetzung zu erfahren, wie es mit Lena und Rainer in Niebüll weitergeht.

Fazit

Wem würde ich das Buch empfehlen? Jedem, der gerne gute Romane liest. Ja, das Buch behandelt eine schwierige Thematik und es ist gut, wenn man bereit ist, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.

Gleichsam überwiegen die herzerwärmenden Szenen deutlich. Hanna Aden verwebt das Kriegsende, den damaligen Umgang mit dem Holocaust und das Erwachsenwerden einer jungen Frau auf so geschickte Weise in einer Geschichte, dass das Buch trotz all seiner beklemmenden Szenen immer wieder Hoffnung ausstrahlt.

Dadurch ist es auch für Menschen geeignet, die sonst keine Bücher über den Krieg lesen. Dies ist ein großer Verdienst der Autorin und ihres behutsamen Schreibstils. Eine klare Leseempfehlung!
 

 Rebecca Schneebeli

Rebecca Schneebeli

  |  Redakteurin

Rebecca Schneebeli ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet nebenberuflich als freie Lektorin und Autorin. Die Arbeit mit Büchern ist auch im ERF ihr Steckenpferd. Ihr Interesse gilt hier vor allem dem Bereich Lebenshilfe, Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungspflege. Mit Artikeln zu relevanten Lebensthemen möchte sie Menschen ermutigen.

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