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© Falco / pixabay.com

07.05.2020 / Interview / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Oliver Jeske

Der Auftrag des Erinnerns

Der Evangelische Bischof von Berlin gedenkt an den 75. Jahrestag des Kriegsendes.

 

Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich am 8. Mai 2020 zum 75. Mal. Ein besonderer Tag des Gedenkens und Erinnerns. Der Evangelische Bischof Dr. Christian Stäblein hält zu diesem Anlass eine Andacht an einem historischen Ort: in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Kurfürstendamm. Die Kirche fiel damals den Bomben zum Opfer, heute ist sie ein weltweit beachtetes Mahnmal gegen den Krieg. In der Turmruine steht ein Kreuz, gefertigt aus den Nägeln der ebenfalls zerstörten Kathedrale im britischen Coventry. Oliver Jeske hat mit Dr. Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz, über dieses Zeichen der Versöhnung und die wichtige Arbeit des Gedenkens gesprochen.

Ein sichtbares Zeichen der Zerstörung

ERF: Bischof Stäblein, am 8. Mai feiern Sie eine Andacht zum Gedenken an den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Dazu haben Sie einen besonderen Ort gewählt – die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Was zeichnet diese Kirche in besonderer Weise als einen Ort des Gedenkens aus?

Christian Stäblein: Diese Kirche ist das Kulturdenkmal schlechthin, das auf die Zerstörungen des Krieges hinweist. Sie ist in der Stadt Berlin das sichtbare Zeichen für die Zerstörung und den Schrecken der Geschichte.

Das Nagelkreuz: Auftrag des Erinnerns und des Friedens

ERF: In der alten Turmruine steht das Nagelkreuz, das auf die Gemeinschaft mit der Kathedrale von Coventry hinweist. Woran knüpfen Sie hier an und welche internationalen Brücken werden dabei geschlagen?

Christian Stäblein: Für diese Nagelkreuz-Gemeinschaft sind wir sehr dankbar. Das Nagelkreuz ist ein Erinnerungszeichen für die furchtbare Zerstörung aber auch für den Auftrag des Friedens, der aus dieser Zerstörung heraus erwachsen ist. Die Nagelkreuz-Gemeinschaft verbindet uns miteinander über die Völker hinweg. Am 8. Mai erinnern wir uns gemeinsam einerseits an die Befreiung vom NS-Regime und andererseits gedenken wir der Opfer und gestehen unsere Schuld und bringen sie vor Gott – gerade wir als Deutsche, die wir eine große Schuld an diesem Geschehen haben.

Wir alle sind Teil einer Verantwortungsgemeinschaft

ERF: Sie sprechen von „unserer Schuld“. Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Kollektivschuld der Deutschen? Was habe ich als Nachkriegs-Geborener unmittelbar mit dem Geschehen des Zweiten Weltkriegs zu tun?

Christian Stäblein: Das habe ich verkürzt formuliert. Es ist mir wichtig, einerseits von der Schuld zu reden, die im Namen des Deutschen Volkes auf sich geladen und begangen wurde und andererseits von der Verantwortung, die daraus folgt. Es gibt zwar keine Kollektivschuld in diesem Sinne – das haben wir in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder miteinander im öffentlichen Diskurs besprochen – aber es gibt unsere konkrete Scham und das beschämte, bestürzte Erinnern. Das ist immer wieder wichtig, um uns unserer Verantwortung bewusst zu werden. In dieser Verantwortungsgemeinschaft stehen wir Nachgeborenen.

Es gibt zwar keine Kollektivschuld in diesem Sinne, aber es gibt unsere konkrete Scham und das beschämte, bestürzte Erinnern. Das ist immer wieder wichtig, um uns unserer Verantwortung bewusst zu werden. – Dr. Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

„Eure Städte sind mit Feuer verbrannt“

ERF: Lassen Sie uns noch einmal auf die Andacht zurückkommen, die sie abends am 8. Mai feiern werden. Sie haben die Andacht unter eine sehr markige Überschrift gestellt. Sie lautet: „Eure Städte sind mit Feuer verbrannt, aber mein Heil bleibt ewiglich und meine Gerechtigkeit wird kein Ende haben.“ Was ist Ihre Botschaft an diesem Abend?

Christian Stäblein: Ich vermute, dass wir diese Verse heute nicht wieder dafür wählen würden, weil es eine Sprachform ist, die wir so nicht mehr verwenden. Aber ich wollte gerne an diese Erinnerungstradition anknüpfen. Denn das sind die Worte der Gedenkglocke, die 1961 angefertigt worden ist. Und das ist das, woran wir auch erinnern wollen: Einerseits die ungeheure Zerstörung dieses Krieges, über Schuld und Scham haben wir eben schon gesprochen und andererseits aber auch das Vertrauen auf Gottes Treue, die über das alles noch hinausgeht.

Die Erinnerungen lebendig halten

ERF: Lassen Sie uns noch einmal über das Problem des Gedenkens sprechen. Wir feiern den 75. Jahrestag des Kriegsendes – das heißt gleichzeitig, dass viele Augenzeugen der Gräuel des Zweiten Weltkriegs nicht mehr leben. Wie versuchen Sie als evangelischer Bischof dennoch das Gedenken an die schlimme Vergangenheit wachzuhalten und welche Lehren können wir daraus ziehen?

Christian Stäblein: Den Berichten der Zeitzeugen zuzuhören hat immer zu unserem Gedenken dazugehört und tut es bis heute. Und je weniger Zeitzeugen noch unter uns sind, wie Sie beschreiben, desto mehr müssen wir auf die, die noch da sind hören. Besonders die Bildungseinrichtungen spielen dabei eine wichtige Rolle. In den letzten Jahrzehnten sind die Zeitzeugen mit der jungen Generation oft in Schulen ins Gespräch gekommen, sodass die Erinnerungen lebendig bleiben.

Den Berichten der Zeitzeugen zuzuhören hat immer zu unserem Gedenken dazugehört und tut es bis heute. Und je weniger Zeitzeugen noch unter uns sind, desto mehr müssen wir auf die, die noch da sind hören. – Dr. Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

Außerdem ist es mir beim Gedenken sehr wichtig, dass wir differenziert erinnern und die Perspektiven nicht vermischen. Es gibt Tätergeschichten und es gibt ganz viele furchtbare Opfergeschichten. Es darf kein Gedenken werden, in dem sich die Täter oder die nachfolgende Generation der Täter einfach „alibimäßig“ in die Opfergeschichten hineinstellen. Dazu müssen wir uns die Fragen stellen: Wie war das mit der Schuld? Wie ist es zu diesen Dingen gekommen? Das ist der Auftrag des Erinnerns, damit dieser Schrecken und diese Gräueltaten nie wieder geschehen.
 

ERF: Herzlichen Dank für das Gespräch.
 

 Oliver Jeske

Oliver Jeske

  |  Redakteur

Sprachlich Hannoveraner, seit einem Vierteljahrhundert in Berlin zu Hause, liebt er Jesus, Tanzen mit seiner Frau, Nordsee-Spaziergänge mit seinen Söhnen und leckeren Fisch. Von Gott ist er fasziniert, weil der ihn immer wieder überrascht und im wahrsten Sinne des Wortes beGEISTert.

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Kommentare (1)

Jörg /

Wie es zu diesen Dingen gekommen ist, wird am Ende des Artikels gefragt. Leider interpretiert man die Antworten heute bewusst falsch und wir befinden uns wieder auf einem Weg, an dessen Ende wir uns mehr

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