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© Levi Meir Clancy / unsplash.com

09.07.2024 / Interview / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

„Antisemitismus lässt ein Land verrohen“

Warum DEIN e.V. zu einem Tag der Solidarität mit Israel und gegen Antisemitismus aufruft. Ein Interview.

Der Münchener Verein DEIN e.V. hat für den 10. Juli 2024 zu einem Tag der Solidarität mit Israel aufgerufen. Die Veranstalter wollen damit ein Zeichen gegen Antisemitismus und für die Demokratie in Deutschland setzen. Leo Sucharewicz, jüdischer Politologe und Initiator der Idee, spricht im Interview über die Hintergründe des Aktionstages und was er sich von den Menschen in Deutschland im Blick auf den erstarkten Antisemitismus wünscht.
 

ERF: Herr Sucharewicz, Sie sind Vorstandsvorsitzender von DEIN e.V. Wofür steht diese Abkürzung und was ist der Schwerpunkt Ihrer Arbeit?

Leo Sucharewicz: DEIN steht für „Demokratie und Information“. Ich bin der festen Überzeugung, dass Demokratie aus Information gemacht wird. Der Faktor Information wird in der öffentlichen Diskussion über Demokratie unterschätzt, beziehungsweise er liegt unter dem Radar von Medien, Politikern und Gesellschaft. Denn leider muss man sagen: Wer zuerst informiert, hat Recht. Wer manipuliert und zuerst informiert, der hat leider auch Recht.

Der Schwerpunkt von DEIN e.V. liegt darin, dass wir uns bemühen, massive Geschichtsverzerrungen zu korrigieren, zum Beispiel im Hinblick auf die Staatsgründung Israels 1948. Wir verstehen uns als Korrektiv, auch in der aktuellen Politik und im Tagesgeschehen.

Große Zustimmung zum Tag der Solidarität

ERF: Ein Schwerpunkt von DEIN e.V. liegt im Bereich Antisemitismus. Aktuell haben Sie für den 10. Juli 2024 einen Solidaritätstag mit Israel ausgerufen. Wie kam es zu dieser Idee?

Leo Sucharewicz: Nach dem 7. Oktober ist etwas wirklich Unglaubliches im negativen Sinne passiert. Was die Terrororganisation Hamas angerichtet hat, war an Bestialität nicht zu überbieten. Einen Tag später zeigte man in Berlin und andernorts auf den Straßen Jubel über dieses bestialische Verbrechen. Kurze Zeit später waren die Vergewaltigungen, die Folter, die Entführungen fast schon vergessen und eine beispiellose Propaganda-Kampagne beherrschte die Diskussion. Plötzlich wurde Israel verurteilt. Das ist eine absurde Verdrehung von Wahrheit und Wirklichkeit.

Das hat etwas sichtbar gemacht, das nicht nur dieses entsetzliche Verbrechen am 7. Oktober betrifft, sondern was sich in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten schleichend gezeigt und eingenistet hat. Antisemiten aller Couleur haben sich tatsächlich erdreistet, die Verbrechen der Hamas als Anlass zu nehmen, um Juden oder Israel zu beschuldigen.

Das war der Anlass für den Solidaritätstag. Es zeigte sich, dass wir damit einen öffentlichen Nerv treffen. Wir haben Tausende von E-Mails und Feedbacks bekommen, die sagten, dass ein solcher Tag der Solidarität mit Juden und Israel in Deutschland längst überfällig und eine gute Idee sei.
 

ERF: Über 130 Institutionen und Organisationen aus Politik, Wissenschaft, Kultur, Sport, Gesellschaft und aus kirchlichen Einrichtungen beteiligen sich an diesem Aktionstag. Hat Sie das große Interesse überrascht?

Leo Sucharewicz: Ja und Nein. Es hat mich sehr gefreut! Überrascht hat es mich nicht wirklich, weil ich als Politikwissenschaftler gespürt habe, dass viele Menschen in Deutschland mit den gewalttägigen Demonstrationen von Palästinensern, Islamisten und Linksextremen unzufrieden sind. Deswegen habe ich erwartet, dass es einen überwiegend positiven Zuspruch gibt. Dass er allerdings so gewaltig sein würde, sodass wir das Gefühl haben, eine offene Tür einzurennen – damit habe ich nicht gerechnet.

Gegen eine Täter-Opfer-Verdrehung nach dem 7. Oktober

ERF: Man kann sowohl als Privatperson als auch als Institution auf ganz verschiedene Art und Weise am Solidaritätstag für Israel mitmachen. Können Sie im Vorfeld schon von einer geplanten Aktion berichten, die sie besonders freut oder ermutigt?

Aktionsgrafik
Tag der Solidarität mit Juden und Israel

Leo Sucharewicz: Die Aktionen finden bundesweit statt. Am 10. Juli sollen sich möglichst viele Menschen mit „Schalom“ begrüßen. Ich hoffe ernsthaft, dass es Millionen Menschen sein werden. Es geht also nicht nur um Events, es geht auch um eine kollektive Beteiligung, um eine individuelle Beteiligung.

Aber um ein Beispiel herauszugreifen: In München wird es eine Kundgebung am Jakobsplatz geben, an der auch Uschi Glas als Rednerin teilnimmt. Sie wird eindeutig Stellung beziehen gegen diese unerträgliche Umkehrung von Täter und Opfer, wie wir sie in manchen Medien beobachtet haben oder wie das einige Studenten bei Unibesetzungen an die Wand schmieren.
 

ERF: DEIN e.V. möchte, dass der 10. Juli ein fester jährlicher Gedenktag in Deutschland wird. Haben Sie nicht die Befürchtung, dass der Tag neben dem 9. November oder dem Holocaust-Gedenktag nur zu einem weiteren Tag werden würde, an dem jedes Jahr die gleichen Worthülsen wiederholt werden, sich de facto aber nichts ändert?

Leo Sucharewicz: Dieses Risiko besteht, das ist völlig richtig. Es ist allerdings ein kleines Risiko, das wir ohne Weiteres eingehen wollen. Das Judentum existiert seit 5000 Jahren. Da hat sich einiges angesammelt, was diskussions- und erinnerungswürdig ist – sowohl an positiven wie auch an fürchterlichen Dingen. Auf Englisch sagt man „Jews are news“, also auf Deutsch in etwa „Wo es Juden gibt, gibt es Nachrichten“. Deswegen wird es immer eine aktuelle Begründung geben, um auch im Jahr 2028 oder 2045 einen Solidaritätstag mit Israel in Deutschland stattfinden zu lassen.

Palästinensischen Terror als solchen benennen

ERF: Es gibt viele Menschen in Deutschland, die den erstarkenden Antisemitismus furchtbar finden, gleichzeitig aber nicht mit Israels militärischem Vorgehen im Gazastreifen einverstanden sind. Diese Menschen haben vielleicht Bedenken, dass ihre Teilnahme am Solidaritätstag dahin gehend missverstanden werden könnte, dass sie das Vorgehen Israels im Gazastreifen billigen. Was würden Sie jemandem sagen, der diese Sorge äußert – kann oder soll er trotzdem an dem Aktionstag mitmachen?

Leo Sucharewicz: Er sollte unbedingt daran teilnehmen! Wissen Sie, es ist alles eine Frage der Wahrnehmung. Es ist einfach, sich ein wenig moralisierend zu irgendeiner Haltung durchzuringen, wenn man in Deutschland lebt, in diesem noch immer relativ gesicherten, noch immer demokratischen Land. Aber wenn man betroffen ist, dann ist es eine ganz andere Situation.

Wer diese Bedenken hat, soll sich einen Moment vorstellen, dass in Deutschland Zehntausende Menschen an einem Tag bestialisch ermordet und Tausende entführt werden, darunter Kleinkinder und Säuglinge. Das entspräche den Proportionen der Bevölkerungszahlen, hätte der 7. Oktober in Deutschland stattgefunden.

Die israelische Armee ist die zivilisierteste weltweit. Das sage ich ohne Übertreibung. Ich war selbst Soldat und Teil der israelischen Streitkräfte IDF. Übergriffe werden bestraft, weil sie der Ethik und Moral der IDF widersprechen. Es gibt keine andere Möglichkeit, die Geiseln zu befreien und die Terroristen zu besiegen, als in Gaza einzumarschieren. Die Hamas versteckt sich hinter Zivilisten und sieht die Opfer im Krieg als notwendigen Blutzoll. Die Kämpfer der Hamas sind bestialische Terroristen, verbreiten aber hoch professionell ihre Propaganda.
 

ERF: Die Abgrenzung gegen den Islamismus ist wichtig. Wie kann aber umgekehrt verhindert werden, dass ein Tag der Solidarität mit Israel zu einem „Anti-Palästinenser-Tag“ wird?

Leo Sucharewicz: Der 10. Juli soll ein Tag gegen palästinensischen Terror sein. Es gibt ja nicht nur die PLO oder die Hamas oder die Hisbollah. Es gibt noch weitere palästinensische Terrororganisationen, die das Geschehen bestimmen. Dabei sollte der Protest nicht zu einer Palästinenser-Phobie verleiten.

Aber man muss auch sehen, dass es diesen Terror gibt. Es gab den Anschlag auf die Münchener Olympiade 1972. Es gab die Zusammenarbeit zwischen der PLO und der RAF 1977 in Deutschland.

Die palästinensische Propaganda ist ein Faktum. Jeden Tag verbreiten sich dadurch Unwahrheiten. Nach Umfragen unterstützen 80 Prozent der Menschen in Gaza die Hamas. Viele Geiseln wurden bei privaten Familien gefangen gehalten, die dafür gut entlohnt wurden.

Seit Jahrzehnten werden palästinensische Kinder zu Hass, zu Gewalt, zum sogenannten Märtyrertum erzogen. Man würde sie vor einem übergeordneten Gericht vielleicht nicht schuldig sprechen, weil sie manipuliert worden sind. Aber das Ergebnis dieser Manipulation ist trotzdem eine Tatsache.

Einsatz gegen Antisemitismus schützt vor Verrohung der Gesellschaft

ERF: Viele jüdische Menschen in Deutschland sind zurzeit zurückhaltend, ihre Identität zum Beispiel durch einen Davidstern oder eine Kippa öffentlich zu zeigen. Begibt man sich möglicherweise in Gefahr, wenn man am 10. Juli als Privatperson seine Solidarität mit Israel offen zeigt?

Leo Sucharewicz: Diese Gefahr ist begrenzt, wenn man morgens zur Arbeit geht und seine Kollegen mit „Schalom“ begrüßt. Aber rein theoretisch ist es mit einem Risiko verbunden, wenn man seine Solidarität mit Israel öffentlich zeigt.

Aber wer eigentlich in Gefahr ist, das ist die Demokratie in Deutschland. Viele Menschen sind eingeschüchtert angesichts von Messerattacken und ähnlichen Vorfällen. Aber die Frage, die man sich stellen müsste, ist, ob man dieser Bedrohung nachgeben will und sich damit abfinden will. Wenn man das tut, ist es das Ende einer freien Demokratie.
 

ERF: Sehen Sie hier den oft zitierten Zusammenhang zwischen dem Einsatz gegen Antisemitismus und dem Einsatz für Demokratie?

Leo Sucharewicz: Absolut! Die Geschichte erteilt uns allen eine eindeutige Lektion: Wo es zu Pogromen kam, wo es zu antisemitischen Ausschreitungen kam, egal ob staatlich gelenkt oder nicht, war das der Beginn von totalitären, autokratischen oder diktatorischen Systemen.
 

ERF: Was könnte man denn tun, um dem Antisemitismus in Deutschland und Europa den Boden zu entziehen?

Leo Sucharewicz: Das ist eine sehr große Frage. Man müsste bei den Medien anfangen, weil sie doch tendenziell einseitig berichten. In ARD und ZDF sehen Sie beispielsweise sehr, sehr viele Interviews mit einzelnen Palästinensern in Gaza und verschwindend wenige Interviews mit israelischen Familien. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt ist, dass man diesen obszönen und vulgären Antisemitismus an den Unis, auf den Straßen oder im Kulturbetrieb staatlicherseits und institutionell begegnet und ihn verbietet. Denn diese Art von „Protest“ führt zu einer Verrohung der ganzen deutschen Gesellschaft. Wenn eine Gesellschaft so etwas zulässt, dann verändert sich das Land.

Gemeinsam die Demokratie schützen

ERF: Sie schreiben in einem Statement, dass der 10. Juli auch die Zeit für einen Aufbruch in eine neue Normalität markieren soll, „in der die Vergangenheit nicht vergessen, aber entpathologisiert wird“. Damit sprechen Sie die deutsche Erinnerungskultur des Holocausts an. Was müsste sich Ihrer Meinung nach dabei verändern?

Leo Sucharewicz: Die meisten Juden machen bei der Begegnung mit nicht jüdischen Mitmenschen in Deutschland folgende Erfahrung: Sobald das Thema Israel oder Judentum aufkommt, verändert sich das Gesicht, die Mimik des Gegenübers irgendwo im Bereich zwischen Versteinerung und Mitleid. Es gibt ein bestimmtes Reaktionsmuster, wenn jemand sagt, „Ich bin Jude“. Es ist etwas ganz anderes, wenn jemand sagt, „Ich bin Schwede und komme aus Uppsala“. Die Zeit ist zu weit fortgeschritten für dieses pathologische, fast krankhafte Beziehungsmuster zwischen Juden und Deutschen.

Der Holocaust ist eine der bittersten und wichtigsten Lektionen der Geschichte. Ich würde sogar sagen, es ist die wichtigste Lektion, die die Geschichte für zivilisierte Menschen, für Demokratien und freiheitlich orientierte Gesellschaften bereitstellt. Der Holocaust darf nicht vergessen werden und man muss daraus lernen.

Trotzdem leben wir im Jahr 2024 und es gibt inzwischen andere Bedrohungen. Die gemeinsame Ethik von Juden und Christen ist heute beispielsweise durch eine mögliche Islamisierung bedroht. Wir müssen gemeinsam den Blick in die Gegenwart lenken und sehen, wie wir die Demokratie und christlich – jüdische Werte gemeinsam schützen können.
 

ERF: Noch einmal zurück zum geplanten Tag der Solidarität mit Israel. Was werden Sie selbst am 10. Juli machen?

Leo Sucharewicz (lacht): Ich werde in München sein und als Fan von Uschi Glas ganz laut applaudieren. Vielleicht werde ich auch selbst eine kurze Rede halten.
 

ERF: Was wünschen Sie sich, wenn der 10. Juli vorbei ist?

Leo Sucharewicz: Ich wünsche mir, dass sich Millionen Menschen in Deutschland zur Demokratie bekennen, und zwar nicht zu einer weichgespülten, sondern zu einer sogenannten wehrhaften Demokratie. Dazu zugehört unweigerlich der Kampf gegen Antisemitismus.

Ich wünsche mir, dass sich Millionen Deutsche von einer zu einseitigen, antisemitischen und antiisraelischen Sichtweise auf den Konflikt intellektuell emanzipieren und die verantwortlichen Medienmacher klar auf einseitige Berichte aufmerksam machen. Zum Beispiel, wenn das ZDF die Nachricht bringt, dass Israel einen Palästinenser getötet hat, ohne dabei zu erwähnen, dass es ein Attentäter war, der zuvor in Jerusalem wild um sich geschossen hat. 
 

ERF: Was wünschen Sie als Jude sich von Christen und Christinnen in Deutschland mit Blick auf die jüdische Bevölkerung in Deutschland und mit Blick auf Israel?

Leo Sucharewicz: Von Christen wünsche ich mir Solidarität. Begründete, brüderliche, schwesterliche Solidarität. Ich wünsche mir, dass wir endlich die Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Christen in den Vordergrund stellen. Diese Gemeinsamkeiten gehen über das Alte Testament hinaus. Sie reichen bis hin zur gemeinsamen Ethik, bis hin zu den ureigensten Werten unserer Gesellschaft. 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch!

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Redakteurin, Autorin und begeisterte Theologin. Ihre Faszination für die Weisheit und Bedeutung biblischer Texte möchte sie gerne anderen zugänglich machen.  In der Sendereihe "Das Gespräch" spricht sie am liebsten mit Gästen über theologische und gesellschaftlich relevante Themen. Sie liebt Bücher und lebt mit ihrer Familie in Mittelhessen.

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Kommentare (1)

Nicole /

Super Beitrag!!!Weiter so!!!!

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