Navigation überspringen
© neufeld-verlag

28.11.2010 / Adventsgeschichten / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: André Trocmé

Von Engeln und Eseln: "Der freigelassene Sklave" - Teil 2

In einem kleinen französischen Dorf sind während des Zweiten Weltkrieges ganz besondere Weihnachtsgeschichten enstanden. Eine Lesereise

An den vier Adventwochenenden veröffentlichen wir jeweils eine Geschichte aus dem Buch "Von Engeln und Eseln: Geschichten nicht nur für Weihnachten". Es sind Geschichten, die den Kindern des kleinen Dorfes Chambon-sur-Lignon erzählt wurden, während Europa unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten litt. Die etwa 9.000 Bewohner des Dorfes haben in dieser Zeit fast 5.000 Flüchtlingen geholfen, darunter 3.500 Juden. Die Geschichte des reformierten Pastors André Trocmé enthalten immer wieder Anspielungen und Hinweise auf den Mut, den es vor allem in Zeiten von Terror und Tyrannei braucht. Das Buch ist im Neufeld-Verlag (5. Auflage) erschienen und kostet 12,90€. 


Der freigelassene Sklave

Nach diesem Geständnis gingen der Sklave und sein junger Herr lange Zeit weiter, ohne etwas zu sagen. Sie waren am Tyropeonplatz angekommen und schon an der Werkstatt des Schmiedes Tubalcain vorübergegangen, als das Kind sich anders besann. Es blieb stehen, zwang Thaddäus, umzukehren und ließ ihn in die Werkstatt des Schmiedes eintreten.

»Ich habe nichts, um dich zu bezahlen«, sagte der Knabe mit großer Bestimmtheit zu Tubalcain, »aber ich will, dass du mir und meinem Sklaven einen Dienst erweist: Zerschneide die Ketten, mit denen seine Hände und seine Füße gefesselt sind.«

»Das ist nicht üblich, junger Herr«, wandte Tubalcain ein, »dein Sklave könnte sich leicht aus dem Staub machen.«

»Um so schlimmer, wenn er geht«, antwortete der Knabe. »Ich will keinen Sklaven mehr besitzen. Ich möchte diesen hier freilassen.«

»Mich freilassen!«, rief Thaddäus verblüfft, »aber du hast soeben dein ganzes Vermögen ausgegeben, um mich zu kaufen! Hast du nicht gesagt, ich sei der erste der zahlreichen Diener, denen du eines Tages befehlen würdest?«

»Ich will, dass alle Menschen zu mir kommen«, verbesserte sich der Knabe, »aber das geschieht nicht durch Zwang. Wenn du mein Sklave bleibst, bist du gezwungen, mir zu gehorchen. Auf, zerschneide die Ketten!«, befahl er dem Schmied in einem Ton, der keine Diskussion zuließ. Und Tubalcain gehorchte ihm.

Als die Arbeit beendet war, regte sich Thaddäus nicht von der Stelle. Er wusste nicht, was er mit seiner Freiheit anfangen sollte. »Wohin soll ich gehen?«, fragte er sich. »Ich habe soeben einen Herrn gefunden, meinen ersten Freund auf Erden, und ich bin schon dabei, ihn wieder zu verlieren.« Er betrachtete bestürzt seine Handgelenke und seine Fußknöchel, an denen die Ketten rote Zeichen seiner Schande zurückgelassen hatten.

Aber das Kind war schon weit weg. Durch die Tür sah ihn Thaddäus noch, wie er rannte, lachte, in die Hände klatschte, wie er sich umwandte und ihm zurief: »Auf Wiedersehen, Thaddäus, ich bin so froh, dass du frei bist, vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder!«

Der Adoptivsohn

In dem Augenblick, als das Kind verschwand, wurde es Thaddäus klar, dass er riskierte, ihn niemals wiederzusehen, und er fing an, ihm nachzulaufen. Der Knabe blieb stehen.

»Lass mich nicht allein, ich bitte dich«, rief Thaddäus. »Ich will bei dir bleiben. Ich werde dir gerne dienen.«

Der Junge sagte nichts, reichte aber seine Hand dem Sklaven, und Thaddäus legte seine große Männerhand in die kleine Hand des Jungen, mit dem Vertrauen eines Sohnes zu seinem Vater. »Ich werde dir folgen«, sagte er, »überall, wo du hingehst. «

»In diesem Fall«, sagte das Kind, das nichts in Erstaunen versetzen konnte, »werde ich dich nicht mehr meinen Diener nennen, sondern meinen Freund. Komm, gehen wir und erzählen das alles meinem Vater.«

Und er zog Thaddäus mit sich in die Oberstadt, wo sich die Wohnungen der Reichen und der Tempel Gottes befanden. »Ist er vielleicht der Sohn eines Fürsten, und ist zu mir gekommen in der Verkleidung eines Bauern?«, fragte sich Thaddäus. »Wird er mich seinem Vater vorstellen, nicht als Sklave, sondern als einen Freund?« Von Seiten dieses außerordentlichen Jungen konnte man ja wohl auf alles gefasst sein.

Doch an der nächsten Kreuzung ging der Junge nach rechts und wandte sich dem Tempel Gottes zu. Sie durchquerten den berühmten Vorhof, der von Säulen umgeben ist, stiegen die Stufen hinan, die von der Schönen Tür zum Hof der Frauen führten, dann zum Hof der Männer von Israel.

Sie stiegen noch weitere fünfzehn Stufen hinauf und durchschritten die Tür zum Hof der Priester. Dann umgingen sie den Opferaltar und blieben vor dem Eingang des heiligen Ortes stehen. Im Hintergrund des dunklen Heiligtums sah man den prächtigen Vorhang, der das Allerheiligste verhüllte, in das der Hohepriester selbst nur einmal im Jahr hineingeht, am Tag der Sühne. »Wir sind bei meinem Vater angekommen«, murmelte das Kind, und Thaddäus bemerkte, dass ein seltsames Licht sich auf seinen Gesichtszügen ausbreitete. Jenseits des Vorhangs schien der Junge jemanden wahrzunehmen, den die Augen des Thaddäus nicht sehen konnten. Er sprach mit diesem unsichtbaren Wesen, denn von Zeit zu Zeit bewegten sich seine Lippen.

Dann fing das Kind mit sehr freundlicher und sehr fester Stimme an zu sprechen, so deutlich, dass Thaddäus keines seiner Worte entging: »Vater«, sagte er, »ich bringe dir Thaddäus, meinen Freund. Er hat viel gesündigt, aber er hat auch viel gelitten. Als er in meinem Alter war, hat er den Glauben verloren. Er war entrüstet, weil er glaubte, ich sei durch das Schwert der Soldaten des Königs Herodes umgebracht worden. Aber hier bin ich, mein Vater, ich lebe, denn du hast mich wunderbar den Händen meines Henkers entrissen.

Auf dieselbe Weise, mein Vater, habe ich Thaddäus den Händen des Satans entrissen, der ihn in die Sklaverei geführt hatte. Ich habe ihn gekauft und habe ihn von jeder Verpflichtung gegen mich, gegen jedermann und selbst gegen dich, mein Vater und mein Gott, befreit. Indessen, o mein Vater, hat dieser freie Mann sich freiwillig entschieden, mir zu folgen. Darum bitte ich, dein einziger Sohn, dich, Thaddäus als dein Kind anzunehmen, wie wenn er dein eigener Sohn wäre. Ich möchte, dass er da, wo ich bin, auch bei mir sei, und dass er für immer mein Bruder sei. Ich kann diese Gunst von dir, o mein Vater, verlangen, da ich für ihn das Lösegeld bezahlt habe.«

In der großen Stille, die auf dieses Gebet folgte, ließ sich keine Stimme vom Himmel hören, aber eine wunderbare Dämmerung tat sich im Herzen des Thaddäus auf: Die Zweifel, der Groll, die Spuren von Blut, die der schreckliche Kindermord von Bethlehem in ihm hinterlassen hatten, verschwanden, wie sich die Bilder eines Alptraums verflüchtigen, wenn die Sonne aufgeht.

Die Sonne, die Thaddäus jetzt in ihrer Glorie schaute, das war Gott, dessen strahlende Liebe, väterliche Zärtlichkeit und allgütiges Verzeihen auf ihn hereinbrachen wie die Wellen eines Ozeans aus Licht. Aus seinem Herzen, das von Dankbarkeit geschwellt war wie eine Knospe durch den Saft des Frühlings, kamen ihm die Worte und stiegen auf zu seinen Lippen, die noch niemals hatten beten können: »Mein Vater, ich bin dein Sohn, und doch bin ich nicht würdig, dein Sohn genannt zu werden ...«

Der Sohn

Schreie entrissen Thaddäus seiner Betrachtung. Er schauderte und bemerkte, dass das Kind nicht mehr an seiner Seite war. Er wandte sich um und sah ihn, am Fuß der Stufen, im Hof der Frauen, inmitten einer erregten Gruppe von Schrift- und Rechtsgelehrten, die alle zugleich sprachen.

Er glaubte, sein Freund sei in Gefahr, und wollte ihm zu Hilfe kommen, doch plötzlich blieb er stehen, als er begriff, was der Grund dieser Erregung war. Inmitten der Menge stand ein galiläischer Bauer, aller Wahrscheinlichkeit nach der Vater des kleinen Bauernjungen, und schüttelte ihn gewaltig:

»He, Jesus«, schimpfte er, »mein Kind, wie konntest du so mit uns umgehen? Du bist verschwunden, ohne uns etwas zu sagen, und du hast auch noch den Schatz der drei Weisen verloren, den wir dir ausgehändigt hatten. Ich hatte geglaubt, mit zwölf Jahren verdientest du mein volles Vertrauen. Du hattest uns noch niemals enttäuscht. Jetzt ist es aus mit deinen Studien! Wir nehmen dich wieder mit nach Nazareth. Ich mache einen Zimmermann aus dir, wie ich es bin.«

Die Mutter Jesu umarmte ihn weinend und streichelte sein wirres Haar. »Mein Kleiner«, sagte sie zu ihm, »wir haben dich wiedergefunden. Dein Vater und ich, wir haben dich seit drei Tagen mit großer Angst gesucht.«

Zwischen seinem Vater und seiner Mutter schien der kleine Junge in den Augen des Thaddäus nur noch wie ein richtiger Bub, der am Morgen noch mit dem Brettspiel gespielt und dabei laute Freudenschreie ausgestoßen hatte. Indessen erhob sich, mitten in dem Tumult des Wiederfindens, plötzlich die Stimme des Kindes, so klar und ruhig, dass jedermann respektvoll schwieg:

»Warum habt ihr mich gesucht?«, sagte er zu seinen Eltern. »Habt ihr nicht gewusst, dass ich mich mit den Angelegenheiten meines Vaters beschäftigen muss?«

Die Schriftgelehrten schüttelten den Kopf, Josef erhob die Augen zum Himmel, Maria senkte die ihren zu Boden, aber offensichtlich hatte niemand verstanden, was Jesus sagen wollte. Nur Thaddäus hatte verstanden: »Die Angelegenheiten, von denen Jesus spricht«, sagte er bei sich selbst, während das Kind, von seinen Eltern umgeben, sich gehorsam entfernte, »sind die Angelegenheiten Gottes, mit denen er seinen Sohn betraut hat. Er wird alle Sklaven befreien, indem er für sie das Lösegeld bezahlt.«

In dem Augenblick, als er verschwand, wandte sich Jesus zu Thaddäus um, und sein kindliches Lächeln bedeutete: »Du hast mich verstanden, Thaddäus, mein Freund; eines Tages werde ich wiederkommen, um dich zu suchen.«

Die Erwartung

Thaddäus, der Gekaufte, der Freigelassene, der Bruder des Herrn, der Adoptivsohn Gottes, wartete mit Geduld darauf, dass sein Messias komme, um ihn zu suchen. Er verzichtete auf Listen und Reichtümer, begab sich nach Galiläa und stellte seine Kenntnisse in den Dienst seiner Brüder, indem er in Kapernaum, in der Nähe der Synagoge, ein Schreibgeschäft eröffnete. Für einen Groschen verfasste er Briefe für diejenigen, die es nicht selbst konnten. In Gedanken folgte er seinem kleinen Messias, der ja von Jahr zu Jahr wachsen würde an Weisheit, Gestalt und Gnade.

Doch die Jahre verflossen. Thaddäus war jetzt mehr als vierzig Jahre alt. Wie die gerechten und frommen Männer seiner Generation erwartete er noch die Tröstung Israels und schaute alle jungen Leute, die an seinem Laden vorbeigingen, aufmerksam an und fragte sich: »Ist es dieser?«

Nun saß Thaddäus an einem Tag wie die anderen an seinem Pult und schrieb. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. Thaddäus schaute nicht einmal auf. Eine Stimme, deren Klang er mit Sicherheit wiedererkannte, rief ihn: »Folge mir.« Thaddäus wandte nicht einmal den Kopf um. Er ordnete sorgfältig die Papiere und die Schreibgeräte, die seinen Tisch bedeckten. Er erhob sich, schüttelte seine Kleider aus, gürtete seine Lenden mit einem ledernen Gürtel, ging auf die Straße hinaus, schloss die Tür hinter sich, und ohne zurückzuschauen, folgte er gerne seinem Meister Jesus.

Ihr Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.
Alle Kommentare werden redaktionell geprüft. Wir behalten uns das Kürzen von Kommentaren vor. Ein Recht auf Veröffentlichung besteht nicht.

Kommentare (4)

Ramona /

Eine tolle Geschichte, die zum Nachdenken anregt. Als Kind kam Jesus zu uns, das ist wunderbar.

Knepler /

Danke, lieben Dank. Ich bin einfach tief berührt von dieser Geschichte! Jesus ist unser Retter! In ausweglosen Situationen, wenn wir nicht weiter wissen, ist er da und weist uns den Weg, einen Weg, mehr

Tischi /

Ein wunderschöne Geschichte, die auch für Kinder geeignet ist. Danke!!

Schwalb /

Danke für die anregenden Advent- & Weihnachtsgeschichte - weiter so.!

Das könnte Sie auch interessieren