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Auf den Pfaden der Erinnerung

Dorothee Döbler über Psalm 126,1.

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.

Psalm 126,1

Je älter ich werde, umso stärker steigt der Wunsch in mir auf, Orte zu besuchen, die ich aus der Kindheit kenne. Meine Geschwister und ich haben über viele Jahre fast alle Ferien bei meiner Großmutter verbracht. Sie wohnte in einem kleinen Ort im Münsterland.

“Ob ich dort überhaupt noch etwas von früher wiedererkenne?”, habe ich mich gefragt. Meine Großmutter konnte mir nicht mehr helfen. Sie war schon lange verstorben. Aber meine Mutter war sofort bereit, auf diesen Ausflug mitzukommen. Und so wurde es für uns beide eine Reise in die Vergangenheit. So vieles hatte sich verändert: hier neue Straßen, dort eine Fußgängerzone, viele neue Häuser standen zwischen den alten. Und doch: hier und da blitzte die Erinnerung auf. In diesem Hinterhof der Metzgerei, da führte doch eine Treppe zur Wohnung der Großmutter. Tatsächlich: diese Treppe existierte wirklich noch. Natürlich stand auch die Kirche an ihrem alten Platz. Das Glockenläuten am Samstag verriet uns Kindern, dass Hochzeit gefeiert wurde. Und wenn das Brautpaar aus der Kirche trat, warfen sie Bonbons für die Kinder. So war es damals üblich. Und ich war natürlich dabei. Der kleine Tante-Emma-Laden war auch noch da. Da durfte ich mir jede Woche ein Micky-Maus-Heft kaufen. Aber er stand leer. So ein kleiner Laden lohnt heute wohl nicht mehr.

Immer wieder hielt ich bei unserem Rundgang inne und hing meinen Gedanken nach. Wenn es mir bei einer Rückkehr an einen Ort der Kindheit schon so wehmütig wird, wie mag es dann erst Menschen gehen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden? Menschen, die die Hoffnung schon aufgegeben haben, jemals zurückkehren zu können? Die Bibel erzählt die Geschichte eines ganzen Volkes, des Volkes Juda, das aus Israel nach Babylon in die Verbannung geschickt wurde. 70 Jahre sollte es dauern, bis der persische König sie wieder zurückziehen ließ. 70 lange Jahre - keiner lebte mehr von denen, die seinerzeit verschleppt worden waren.

Trotzdem war es für die Rückkehrenden wie ein Traum: „Als der HERR die Gefangenen Zions zurückführte, waren wir wie Träumende.“ So heißt es in einem Lied, das sie über ihre Rückkehr geschrieben haben, und das uns in einem Psalm überliefert ist. Da wurde unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel. Der HERR hat Großes an uns getan - so heißt es weiter in dem Psalm. Endlich wieder in der Heimat! Was das bedeutet, kann nur jemand verstehen, der auch seine Heimat verloren hat! Nein, meine Heimat musste ich nie verlassen. Aber bei dem Besuch in dem Ort meiner Großmutter habe ich etwas wiedergefunden, was tief in meinem Herzen war: die Erinnerung an wundervolle Zeiten, die meine Großmutter mir geschenkt hat. Und darum ist auch mein Mund voll Lachen und meine Zunge voll Jubel: Danke Gott, dass du mir diese Kindheit geschenkt hast!

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