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Das größte Abenteuer

/ Wochenration / Lesezeit: ~ 2 min

Das größte Abenteuer

Wem will ich wirklich helfen?

Ich arbeite als Familienhelferin und parallel noch im ambulant betreuten Wohnen, zum Teil mit schwerst psychisch erkrankten Menschen. Schwere Schicksale, vermüllte oder karge Wohnungen, Kinder, die sich an mich klammern, wenn ich gehe, traurige Augen, ungeöffnete Mahnungen, Berge von Aufgaben und ich.

Das ist oft schwer zu ertragen. Wenn ich von den Klienten oder Familien weggehe, kann ich nicht anders als zu beten, zu seufzen, tief durchzuatmen und manchmal eine Träne zu vergießen. Durch diesen Job darf ich aber auch viel lernen, vor allem Selbstverantwortung.

Meine Verantwortung für mich selbst

Nach meiner Elternzeit bin ich die ersten Wochen voll ambitioniert angegangen. Ich wollte Menschen, vor allem Kindern, zu einem nachhaltig besseren Leben verhelfen. Doch während ich mir die Verantwortung für andere aufgeladen habe, habe ich zugleich meine Verantwortung für mich selbst vernachlässigt. Ich bin mir selbst ausgewichen, habe mich abgelenkt und kaum Zugang gespürt.

Mein Glaubensleben blieb fast komplett auf der Strecke, mit meiner Tochter und meinem Mann hatte ich ein paar sehr heftige Auseinandersetzungen und mit Freunden kaum noch Kontakt. Während ich bei der Arbeit alles gab, steuerte ich im direkten Kurs auf ein Versagen in anderen Bereichen meines Lebens zu.

Die Vergangenheit aufarbeiten

Neulich vermutete meine Therapeutin, dass der tiefe Wunsch, Kindern und Familien zu helfen aus meiner eigenen Geschichte heraus resultieren könnte. Dass ich im Grunde meine eigene Kindheit aufarbeiten möchte und stellvertretend bei anderen Familien versuche wiedergutzumachen, was bei mir damals schiefgelaufen ist.

Da ich mich als Kind hilflos und ungesehen fühlte, möchte ich heute umso mehr helfen. Sie riet mir, den Fokus zunächst auf mich selbst zu richten, dem Kind in mir die Hilfe zu geben, die ich unbedingt anderen geben möchte. Wenn ich mir auf Dauer ausweiche und mich für andere verausgabe, bleibt nicht mehr viel übrig, womit ich anderen noch helfen könnte.

Aus der Bahn geworfen

Das hat mich sehr aus der Bahn geworfen, denn ich hatte mir trotz vieler Warnsignale meines Körpers und meiner Psyche vorgenommen, stark zu bleiben und heldenhaft allen Widrigkeiten zum Trotz den Familien zu helfen. Doch um wen geht es dabei in Wahrheit? Steckt hinter dem vermeintlich altruistischen, nächstenliebenden Handeln einfach nur ganz tiefer Schmerz? Angst? Bedeutet stark zu sein wirklich, die Zähne zusammenzubeißen und weiterzumachen, oder sich einzugestehen, dass es einem nicht gut tut und Alternativen auszuloten?

Die Hilfe kommt von Gott, die Verantwortung liegt bei mir

Aktuell stehe ich vor ganz vielen Fragezeichen, aber ich bin auch zuversichtlich, weil ich mich bisher auf dem Heilungsweg immer sehr nah von Gott geführt und begleitet gefühlt habe und vertraue, dass ich alle Herausforderungen mit seiner Kraft in mir überwinden kann. Die Verantwortung liegt bei mir. Es ist so wie bei den Sicherheitsinfos in Flugzeugen: Erst braucht man selbst die Sauerstoffmaske, bevor man anderen Hilfebedürftigen beistehen kann.

Ich nehme jetzt allen Mut zusammen und gehe den Weg der Heilung und tiefen Aufarbeitung meiner Kindheit, denn das Dunkle, der Schmerz will an die Oberfläche. Es will gesehen, mit Liebe gefüllt und geheilt werden. Es fühlt sich an, als wäre das größte Abenteuer meines Lebens gerade erst vor mir.

Dieser Text von Claire Gonzales wurde zuerst auf www.keineinsamerbaum.org veröffentlicht.

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