10.08.2021 / Andacht

Zweifellos glücklich?

Wer nie an sich selbst zweifelt, ist geistlich nicht gesund.

Es sind harte Worte, die Jesus der religiösen Elite der damaligen Zeit an den Kopf wirft: Scheinheilige! Verblendete Führer! Narren! Übertünchte Gräber! Wie Peitschenhiebe saust ein gezielter Vorwurf nach dem anderen auf die stolzen Männer herab und überführt sie öffentlich ihres pharisäerhaften Verhaltens (Matthäus 23).

Als Zuhörer hält man unweigerlich den Atem an und fragt sich, wie lange das gut geht. Man möchte Jesus am liebsten zur Seite nehmen und sagen: „Beruhige Dich! Du bringst Dich selbst in Gefahr! Siehst Du denn nicht, dass die Pharisäer vor Zorn kochen? Das bringt doch nichts!“ Gebracht hat es tatsächlich nichts. Der Großteil der Geistlichen hat sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen und hat den Plan, Jesus aus dem Weg zu räumen, nur um so konsequenter verfolgt.

Wenn der eigene Glaube über jeden Zweifel erhaben ist

Warum war der Rabbi aus Nazareth den meisten der frommen Gesetzeslehrer ein solcher Dorn im Auge? Sie hätten sich doch einfach freuen können, dass da jemand dem Volk neues Interesse am Glauben einhaucht. Das Problem war, dass Jesus das so ganz anders tat, als sie es gewohnt waren und für richtig hielten. Die Pharisäer störten sich daran, dass Jesus sich mit Menschen abgab, die überhaupt nicht anständig, rechtschaffen oder zumindest im weitesten Sinne gläubig waren. Es stieß ihnen sauer auf, dass er sich nicht an die religiösen Vorschriften hielt, die ihnen selbst alles bedeuteten.

Jesus stellte das ganze berechenbare System in Frage, das sie sich zurecht gelegt hatten, um „richtig“ zu leben und zu glauben. Er kratzte an ihrem Fundament und warf ihnen vor, dass sie mit ihrer ganzen frommen Praxis letztlich an Gott vorbeileben. Jesus tat das nicht aus Lieblosigkeit, sondern er wollte diesen klugen und hingebungsvollen Menschen die Augen öffnen für die traurige Wahrheit: Ihr seid auf dem falschen Dampfer! Wenn ihr wirklich so leben wollt, wie Gott es möchte und auch anderen zeigen wollt, wie das geht, dann müsst ihr eure Einstellung und euer Verhalten ändern. Dann werdet auch ihr zu einer echten Beziehung zu Gott finden und verstehen, wie groß seine Liebe und Barmherzigkeit ist.

Tragischer Weise lassen sich die meisten Pharisäer durch nichts von dem, was Jesus ihnen sagt und in ihrer Gegenwart tut, in ihrem Denken und Verhalten in Frage stellen. Viele von diesen Männern, die es mit ihrem Glauben so aufrichtig und ernst meinen, scheinen über jeden Zweifel erhaben und halten stur an ihrer Vorstellung von Gott und einem ethisch korrekten Leben fest. Mit fast 2.000 Jahren Abstand kann man darüber nur traurig den Kopf schütteln.

Ein vorbildliches Leben, aber geistlich tot?

Ich frage mich manchmal, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich einer der Pharisäer gewesen wäre. Hätte ich mich von Jesus in Frage stellen lassen? Zumindest von einem von ihnen – Nikodemus – wissen wir, dass er das tatsächlich getan hat. Oder hätte ich – wie die meisten von ihnen – mit Wut oder mit irgendeiner Form von Rechthaberei oder Aktivismus reagiert und den nagenden Zweifel, dass Jesu‘ Kritik an mir berechtigt ist, im Keim zu ersticken versucht?

Wenn ich dieses Gedankenspiel weiterführe, wird mir bewusst: Ich muss dafür gar nicht in die Vergangenheit reisen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Jesus mir mit seinen Worten auch heute an irgendeiner Stelle den Spiegel vorhält oder den Finger auf einen wunden Punkt legt. „Den kleine Pharisäer in mir“ nannte ein Studienkollege dieses Phänomen einmal.

Als Menschen neigen wir schnell dazu, unsere Sicht der Dinge als die einzig richtige wahrzunehmen. Das gilt auch in moralisch-ethischen Fragen, in Gesprächen um religiöse Ansichten, den richtigen theologischen Standpunkt oder bei der Herangehensweise an bestimmte Themen, die Gemeinde und Gesellschaft betreffen. Wer nahe an Jesus und seinem Auftrag dran bleiben will oder wer wissen möchte, was es mit diesem Jesus und seiner Botschaft auf sich hat, dem oder der bleibt deswegen gar nichts anderes übrig, als sich immer wieder von Jesus in Frage stellen zu lassen. Das ist unangenehm. Auch ich freue mich darüber in der Regel nicht.

Wer nahe an Jesus und seinem Auftrag dran bleiben will oder wer wissen möchte, was es mit diesem Jesus und seiner Botschaft auf sich hat, dem oder der bleibt deswegen gar nichts anderes übrig, als sich immer wieder von Jesus in Frage stellen zu lassen.

Aber was ist die Alternative? Ein Heuchler zu sein oder – bildlich gesprochen – ein frisch getünchtes Grab, das äußerlich zwar toll aussieht, innerlich aber leer und tot ist? Davor möchte Jesus seine Jüngerinnen und Jünger und Menschen, die auf der Suche nach Gott sind, bewahren. Ich hoffe, ich bin bereit, mich im Zweifelsfall von ihm hinterfragen zu lassen.

Autor/-in: Hanna Willhelm

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