02.09.2015 / Porträt

Zurück im KZ

Israel Yaoz hat den Holocaust überlebt. Er fragt sich oft: Warum ausgerechnet ich?

Israel Yaoz (Foto: ERF Medien)

Es ist die Nacht vom 14. auf den 15. April 1945. „Überall ringsherum wurde geschossen. Ich wusste nicht, woher die Schüsse kamen, ich hörte die Kanoneneinschläge, die Flugzeuge über mir.“ Israel Yaoz hat Todesangst. Der Sechzehnjährige rennt aus der Baracke, läuft über den Platz und verkriecht sich in einem Loch. „Das war das letzte Mal  in meinem Leben, dass ich geweint habe. Inzwischen, viele Jahre später, habe ich meine Frau begraben, ich habe meinen Sohn verloren, aber in diesem Loch damals war es das letzte Mal, dass ich geweint habe. Seither habe ich keine Tränen mehr. Ich war mir sicher, dass ich ermordet werden würde.“

Zum Zeitpunkt unseres Interviews ist Israel Yaos 87 Jahre alt († 2018). Nach vielen Jahren kommt er wieder zurück in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Damals in dieser beängstigenden Nacht 1945 wurde er von den Engländern befreit. Seither ist viel Zeit vergangen. Er geht über das Gelände. Nur Gedenktafeln erinnern noch an das Grauen, das er damals an diesem Ort erlebte. Er hält inne, erinnert sich: „Bei den Apellen standen wir manchmal stundenlang im Schnee, im Regen und in der Kälte bei fünf Grad unter null. Immer wieder sind Menschen einfach tot umgefallen, weil sie vorher schon am Rande ihrer Kräfte waren, aber dennoch zum Apell erscheinen mussten. All das war reiner Sadismus.“ Er war damals ein Teenager, doch die Bilder haben sich in seine Seele eingebrannt. 

Mit dem Kindertransport in die vermeintliche Sicherheit nach Holland

Israel Yaoz ist aktiv bei Dienste in Israel. Seit 1975 vermittelt die Organisation junge Christen zwischen 18 und 30 Jahren in Sozialeinrichtungen in Israel, um alte, kranke und behinderte Menschen zu pflegen und zu betreuen. Durch diese Hilfe möchten die Volontäre und Mitarbeiter Brücken der Verständigung schaffen. Sie wollen Vorurteile, Unwissenheit und Missverständnisse abbauen. Ein Interview mit Israel Yaoz finden Sie im Brückenbauer-Magazin.

Israel Yaoz wird 1928 in Gelsenkirchen geboren. Er ist der Älteste von fünf Kindern in einem sehr frommen ostjüdischen Haushalt. Sein Vater betreibt eine Agentur für eine Textilfirma, aber ab 1933 wird die Firma immer mehr boykottiert. 1938 muss er die Firma endgültig schließen. Da die Lage immer schwieriger wird, ringen sich die Eltern zu einem schweren Entschluss durch. Sie setzen ihre beiden ältesten Kinder in den Zug nach Holland – ohne Papiere, ohne Ziel. Die beiden haben nur ihre Zugtickets. „Ich war zehn und meine Schwester achteinhalb. Wir saßen nebeneinander mit dem Bisschen, das wir in einem Tornisten hatten, und wussten nicht, wohin es ging. Kurz vor der Grenze bei Kleve sind niederländische Schüler eingestiegen. Sie waren so alt wie wir. Sie sind wohl jeden Tag mit dem Zug zur Schule gefahren und zwischen diesen Schülern fielen wir nicht weiter auf, auch nicht, als die SS ihre Kontrollen durchführte.“

Die beiden Geschwister kommen in Holland in ein Waisenhaus. Wenig später werden sie in unterschiedliche jüdisch-holländische Pflegefamilien vermittelt. Sie werden getrennt. Damals fühlen sich viele Juden in Holland noch sicher, auch die jüdischen Pflegeeltern, die Israel Yaoz aufnehmen. Das allerdings stellt sich als Trugschluss heraus. Ab 1942 fährt jede Woche ein Transport mit 1000 Juden Richtung Osten. Die Schulklasse von Israel Yaoz wird immer kleiner. Ein Kind nach dem anderen verschwindet. Am 12. Januar 1944 wird schließlich auch Israel Yaoz zusammen mit seinen Pflegeeltern in das Konzentrationslager Bergen-Belsen abtransportiert. Was ihn dort erwartet, ahnt der damals Fünfzehnjährige noch nicht:

Es hieß damals nur, es ginge zur Arbeit und man dachte noch, die Deutschen sind so nett, die Familien mitzuschicken, damit die Männer nicht alleine sind. Sobald andere Gedanken aufkamen, sagte man: ‚Setze keine Gerüchte in die Welt, das kann nicht wahr sein.‘ – Israel Yaoz

Mehr als 70.000 Menschen lassen ihr Leben in Bergen-Belsen unter ihnen auch die Pflegeeltern von Israel. Gaskammern gibt es dort zwar keine, dafür treiben Krankheit und Hunger mehrere tausend Menschen in den Tod. „Man wusste nie, was von einem Tag auf den nächsten Tag passieren würde. Diese Unsicherheit, das war das Schlimmste und auch der Hunger. Die Gedanken kreisten fast ausschließlich um den Hunger“, erinnert sich Israel Yaoz.

Eine Schale Zucker kostet ihn beinahe das Leben

Kapos waren KZ-Häftlinge, die von der Lagerleitung dazu ernannt wurden, die anderen Häftlinge zu überwachen. Als Bezahlung bekamen sie verschiedene Annehmlichkeiten wie zum Beispiel Alkohol. Viele von ihnen waren mindestens genauso brutal wie die SS-Leute. Israel Yaoz erzählt von Kapos, die andere Mithäftlinge aufgehängt haben, nur weil sie Kohlblätter vom schmutzigen Boden aufgehoben haben.

Eines Tages wird Israel Yaoz eingeteilt, die Kohlsuppe für die Häftlinge aus der SS-Küche zu holen und die leeren Töpfe wieder zurückzubringen. Als er in der Küche steht, ist er überraschenderweise allein im Raum. Vor ihm steht eine Schüssel mit Zucker. Er schaut sich um und schnappt blitzschnell das Gefäß. Er wickelt es in eine Decke und macht sich auf den Rückweg. „Als ich zur Straße kam, standen da zwei Kapos. Einer davon erwischte mich und fragte: ‚Was hast du da unter der Decke?‘. Ich wollte das Corpus Delicti sofort wegwerfen, aber dann habe ich ihm den Zucker doch gezeigt. Da sagte der Mann völlig unerwartet: ‚Geh weiter!‘. Ich kam zu einem zweiten Kapo, der fragte: ‘Was hast du da?“, aber der erste sagte wieder: ‚Geh weiter!‘. Ich konnte es kaum glauben. Manch einer wurde wegen weit weniger umgebracht. Und ich kam lebend wieder zurück zu meiner Baracke. Ab da konnte ich jeden Tag einen Löffel Zucker in meine dünne Suppe tun, was mir zuletzt das Leben gerettet hat.“

15 Monate nachdem er in Bergen-Belsen angekommen ist, wird er aus dem KZ befreit. Von seiner Familie hat niemand überlebt. Israel Yaoz kehrt zunächst nach Holland zurück und kann dort die Schule abschließen. Über den Umweg Frankreich kommt er drei Jahre später schließlich nach Israel. Er will den Staat mitaufbauen. Er heiratet und bekommt drei Söhne. Mit Deutschen hat er lange Zeit nichts mehr zu tun, bis er anfängt als Reiseleiter zu arbeiten.

Die Bürde eines Holocaust-Überlebenden

Damals ist er noch einer der wenigen Reiseleiter, die Deutsch können. Und so bekommt er eines Tages eine Besuchergruppe zugeteilt, die nur aus Deutschen besteht. Das sind die ersten Deutschen, denen er seit seiner Zeit im KZ begegnet. Er erinnert sich noch gut daran: „Das waren Jugendliche, die 1961 nach Israel gekommen sind, um zu helfen. Sie kamen mit einer ausgestreckten Hand, und so eine ausgestreckte Hand konnte ich doch nicht einfach ausschlagen. Sie wollten eine Brücke bauen. In der Bibel steht ja, dass der Sohn nicht die Sünden des Vaters mittragen soll, sondern jeder soll für seine eigenen Übertretungen bestraft werden (Hesekiel 18,20). Das bedeutet für mich: Keiner lebt mehr von denen, die gesündigt haben. Warum sollte also die neue Generation für etwas büßen, was sie nie getan hat?“

Keiner lebt mehr von denen, die gesündigt haben. Warum sollte also die neue Generation für etwas büßen, was sie nie getan hat?“ – Israel Yaoz

Bis heute ist er als Reiseleiter unterwegs, um Brücken zu bauen zwischen Deutschen und Israelis. Außerdem ist er unterwegs als Überlebender. Aber Überlebender zu sein, sei nicht so leicht, so Israel Yaoz. Oft habe er sich gefragt, warum ausgerechnet er es geschafft hat? „Ich war 1942 in Amsterdam auf einer jüdischen Oberschule. Wir waren 32 Kinder in der Klasse, acht Mädchen, davon haben vier überlebt, und von den 24 Burschen bin ich der einzige. Meine Mitschüler kamen alle aus Familien mit drei oder vier Kindern, und ich wüsste auch nicht nur ein Elternteil oder eines der Geschwister, das überlebt hätte. Da ist dann schon die Frage: ‚Wer bin ich?‘, begleitet von dem Schuldgefühl, dass ich überlebt habe.“ Bis heute hat er für sich keine Antwort auf dieses Warum gefunden, aber er empfindet es als ein Vermächtnis, das weitergegeben werden muss: „Wir Überlebende haben noch eine Aufgabe – nicht geschrieben mit Tinte, sondern mit Blut!“


Ein TV-Beitrag über Israel Yaoz aus unserer Sendung Gott sei Dank:

Autor/-in: Simone Merz

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