18.07.2024 / Zum Schwerpunktthema

Wer teilt, bleibt nicht allein

Sie ist ihr Leben lang Single – und trotzdem nicht einsam: Ingrid Heinzelmaier über ihren Lebensweg mit der Einsamkeit.

Wie sehr die Einsamkeit an meiner Seele nagen kann, habe ich als Teenager entdeckt. In mir gähnte eine schmerzhafte Leere. Drängende Fragen standen am Tor meiner Seele: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Wozu bin ich da? Der französische Physiker und Philosoph Blaise Pascal beschrieb diese Erfahrung mit dem Bild vom „existentiellen Vakuum“ im Inneren des Menschen, das nur der Allmächtige füllen kann.

Gott sei Dank ist mir damals ein internationales Team von jungen Menschen begegnet. Sie waren in meine Heimatstadt gekommen, um Leute wie mich anzusprechen auf einen Gott, der mit mir in eine Beziehung kommen will. Während eines Gebets am Telefon machte es innerlich Klick. Um es mit dem Bild von Pascal zu beschreiben: Seither bewohnt Jesus mit seinem Geist diesen leeren Raum in mir. Seine kostbare Gegenwart hat die Ureinsamkeit aus mir vertrieben.

So habe ich erfahren: Gott persönlich kennenlernen ist das Erste, was ein Mensch braucht, um nicht an existenzieller Einsamkeit zu erkranken. Diese Liebesbeziehung zu Gott hat mich verändert. Sie hat auch dazu beigetragen, dass ich in menschlichen Beziehungen ein Gegenüber sein kann.

Ich muss nicht für mich allein bleiben

Trotzdem bin ich mein Leben lang Single geblieben. Sozusagen eine Eva ohne Adam, aber eine Frau mit Jesus im Herzen. Ich habe gelernt, meinen Weg als Alleinstehende anzunehmen als Gottes besten Willen für mich jetzt.

Mehr noch: Weil mein Leben bei ihm einen Anker hat, muss ich nicht für mich allein bleiben. Ich kann Aufmerksamkeit, Zeit und Liebe mit anderen teilen. Diese Fähigkeit zum Teilen hat auch meine Beziehungen geprägt: in der Nachbarschaft, in der christlichen Gemeinde, am Arbeitsplatz und in einer Wohngemeinschaft. Wer teilt, bleibt nicht allein.

Macht Einsamkeit krank?

Der Arzt und Bestsellerautor Manfred Spitzer nennt Einsamkeit eine unerkannte Krankheit, die schmerzhaft sein und sogar zum Tod führen kann.[1]

Meine Erfahrung dazu ist: Manchmal ist Einsamkeit notwendig. Ohne sie kann ich kein selbständiger Mensch werden. Kleine Kinder leben in einer engen Symbiose mit ihrer Mutter. Aber schon nach ein wenigen Jahren ertönt das trotzige „Nein!“ Jeder muss sich abnabeln. Jeder muss das Alleinsein schmecken und die damit verbundene Einsamkeit kennenlernen. Auch Adam hat Gott zuerst allein geschaffen. Dann schenkt er ihm seine Eva. Gemeinschaft findet, wer zuvor allein war.

Wo allerdings Einsamkeit das Herz zu lähmen droht, sollte ich etwas unternehmen. Wenn dieses starke Gefühl die Herrschaft bekommt über meine Seele, kann es gefährlich krank machen.

Wege aus der Einsamkeit

Ausbrechen aus der Einsamkeit – wie fange ich damit an? In Situationen, wo die Einsamkeit bei mir anklopft, frage ich gerne Gott im Gebet, was jetzt dran ist. Der Aufbruch fängt dann oft mit kleinen Dingen an. Mit einem freundlich erwiderten Lächeln in der Nachbarschaft. Bei der nächsten Begegnung kann es ein kleines Gespräch geben. Irgendwann trinken wir zusammen eine Tasse Tee. Dann teile ich ein spannendes Video per Handy, einen lesenswerten Impuls oder einen hörenswerten Radiobeitrag. All das kann in mehr Kontakt und Gemeinschaft münden.

In den Pandemiejahren sind viele von uns unsicher geworden, wie wir miteinander teilen können, ohne uns zu nahe zu kommen. Aber statt zu Wohnzimmerbesuchen konnten wir uns verabreden zu Spaziergängen im Freien, zu einem Videocall oder schlicht und einfach zu einem längeren Telefonat.

Für mich gehört das zu den bereichernden Erfahrungen aus der Pandemiezeit: Ich kann mich auch über Entfernung hinweg mit anderen austauschen über das, was mein und ihr Leben reich macht. Und wir können miteinander beten.

Das Teilen von Gottes Gegenwart braucht nicht unbedingt physische Nähe. Wo es möglich ist, will ich sie aber suchen. Es tut mir von Herzen weh, wenn Christen lieber zu Hause einen Gottesdienst am Bildschirm erleben als in Gemeinschaft mit anderen. Denn für uns alle gilt: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“

Es gibt Dinge, die wir nur in Präsenz erleben können. Zum Beispiel einander wahrnehmen, wertschätzen und uns auch mal freundschaftlich umarmen. Gott hat Sie und mich nicht für „Social Distancing“ geschaffen, sondern auf Gemeinschaft hin angelegt. Zunächst für die mit ihm.

Derselbe Gott hat mich auch gemeinschaftsfähig gemacht für Beziehungen mit anderen. Mir fliegt das nicht immer zu. Aber wenn ich bereit bleibe zu teilen, öffnen sich Wege dahin. Ich bin überzeugt: Wer teilt, bleibt nicht allein.

[1] Manfred Spitzer: Einsamkeit, die unerkannte Krankheit. Droemer, 2018
 

Autor/-in: Ingrid Heinzelmaier

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