19.07.2024 / Porträt

Wenn Liebe Grenzen überwindet

Die westdeutsche Theologin Gerlinde zieht aus Liebe und Berufung freiwillig in die DDR – Rückkehr ungewiss. 

Sie ist als junge Westdeutsche reiselustig und neugierig auf die Heimatstadt ihres Vaters: Erfurt. Gerlindes Wunsch, diese Stadt einmal zu besichtigen, zieht Konsequenzen nach sich, von denen die Theologin 1977 noch nichts ahnt. Weil sie ein Visum braucht, schreibt sie eine Familie an, die ihr Vater noch von früher kennt. So bekommt Gerlinde eine Einladung aus dem für sie fremden Teil Deutschlands und kann die DDR besuchen. Am 25. November 1977 bricht sie erstmals gen Osten auf und lernt Familie Breithaupt kennen.  

Da in der Familie gerade ein Geburtstag gefeiert wird, ist auch Sohn Joachim da, der in Rostock studiert. Gerlinde und Joachim tauschen sich über ihr Studium aus. Beide studieren Theologie, sie im Westen, er im Osten. Er bittet sie, ihm ein paar Bücher zu besorgen und so reist Gerlinde wenige Monate später nach Rostock. Ihr Visum erhält sie dieses Mal von Joachims Freunden, bei denen sie auch unterkommt.  

Nach diesem Besuch beginnen Gerlinde und Joachim eine Brieffreundschaft. Sie gehen davon aus, dass es dabei bleiben wird. Denn zwischen dem Leben von Gerlinde und Joachim verläuft die innerdeutsche Grenze, die 1977 noch schwer zu überqueren ist. Zudem weiß Gerlinde, dass Joachim sich von Gott berufen fühlt, als Pfarrer in der DDR zu arbeiten.  

Doch die beiden verlieben sich und es wächst der Wunsch, ihr Leben miteinander zu verbringen. Gerlinde steht vor einer schweren Entscheidung. Freunde und Bekannte im Westen begegnen ihrer Überlegung, in die DDR überzusiedeln, teils mit Unverständnis, teils mit Verwunderung.

Ihre Eltern sind sehr erschrocken und traurig. Doch schließlich akzeptieren sie die Entscheidung ihrer Tochter und legen ihr keine Steine in den Weg. Unterstützung in ihrem Vorhaben erhält Gerlinde auch von einer kommunitären Gemeinschaft, die sie geistlich begleitet.

Ein Bibelvers als Entscheidungshilfe 

Gerlinde macht sich den Entschluss nicht leicht, doch eines Tages kommt ihr eine Begebenheit aus der Bibel in den Sinn und wird für sie zum Wegweiser. 

Darin fragen die Jünger Jesus, was sie dafür bekommen, dass sie ihr altes Leben hinter sich gelassen haben und ihm nun folgen. 

Die Antwort, die Jesus seinen Jüngern gibt, überzeugt Gerlinde: „Und wer Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt um meines Namens willen, der wird’s hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben“ (Matthäus 19,29). 

Dieser Gedanke lässt Gerlinde nicht los. Sie erkennt: „Gott will mir nichts wegnehmen. Wenn ich meinen Weg mit Gott gehen will, dann will er mich beschenken und dieses, was er mir schenkt, ist größer als das, wo ich das Gefühl habe, ich muss jetzt auf vieles verzichten.“ 

Ein unerwartetes Wunder 

Gerlinde beschließt, in die DDR zu gehen, doch bis zu ihrer Einbürgerung muss sie noch einige Hürden überwinden. Um in der DDR eingebürgert zu werden, gelten in den 70ern nämlich strenge Regeln: mehrere Monate Aufnahmelager und Befragungen, vor denen Gerlinde sich fürchtet. 

Denn eins steht fest: Sie will weder lügen noch falsche Motive vorspiegeln. Für sie ist klar: „Die sollen schon wissen, wie ich denke und was ich glaube.“ Doch wer wird ihr glauben, dass sie aus Liebe die Grenze überschreitet? 

Gerlinde und Joachim suchen Hilfe bei der Kirche in Ost und West. Die Kirche kann dem Staat gegenüber vermitteln und das Wunder geschieht. Gerlinde kann ohne Aufnahmelager einreisen und die DDR-Staatsbürgerschaft beantragen.

Ein unvorhergesehener Kulturschock 

Mit der Heirat und der Umsiedlung kommt viel Ungewohntes auf Gerlinde zu. Doch auch für Joachim gibt es Neuerungen, mit denen er nicht gerechnet hat. Zum Beispiel sind beide Städter und leben plötzlich in einem 130-Seelen-Dorf. 

Gerlinde erzählt: „Ich hatte mich sehr auf DDR eingestellt, hatte DDR-Literatur gelesen und hatte mich mit der Kirche in der DDR beschäftigt, womit ich mich aber überhaupt nicht beschäftigt hatte, war mit dem Unterschied Stadt/Land. Ich habe immer nur in Städten gewohnt und plötzlich lebte ich in einem ganz kleinen Dorf. Meinem Mann ging es genauso. Ich glaube, wir sind am Anfang in jeden Fettnapf getreten, den einem das Dorf bieten kann.“ 

Die Lebensgewohnheiten auf dem Land müssen beide Ehepartner zunächst verstehen und erlernen, darunter auch Kleinigkeiten wie das Hoftor zu schließen, Fenster mit Gardinen zu versehen und einen riesigen Garten zu bewirtschaften. 

Mit Interesse werden sie von den Dorfbewohnern beäugt, die ihnen zwar helfen, doch Gerlinde erinnert sich auch: „Die haben immer ganz genau hingesehen, wie unser Garten aussah, und ich glaube, das hat ihnen oft nicht gefallen.“   

Über allem wacht die Stasi 

Nicht nur die Menschen im Dorf wundern sich über ihre Pfarrersleute. Auch die Staatssicherheit hat die beiden im Visier. Sie versucht mehrfach, Joachim Breithaupt anzuwerben.  

Gerlinde erinnert sich: „Die haben sich natürlich gefragt: Warum kommt jemand aus dem Westen in die DDR? Was steckt dahinter? Das kann doch nicht nur die Liebe sein, sonst hätte er ja rübergehen können. Das wollten die rauskriegen und haben gedacht: Naja, vielleicht sind die begeistert vom Sozialismus. Gucken wir, ob wir den Breithaupt anwerben können. Und dann haben sie gemerkt, dass mein Mann sehr kritisch gegenüber der DDR ist.“ 

Ein Pfarrer, der keinen Hehl daraus macht, dass er dem System der DDR kritisch gegenübersteht und trotzdem seiner Kirche bewusst im Osten dienen will – das geht über die Vorstellungskraft der Staatssicherheit hinaus.

Auch Gerlindes Entschluss, in die DDR zu gehen, den bereits ihre Freunde im Westen nicht verstehen konnten, stößt auf Misstrauen. 

Schließlich kommt die Stasi zu dem Schluss, dass die beiden Fluchthelfer sein müssen, und stellt dem Pfarrers-Ehepaar etliche Fallen, die die Breithaupts aber schnell durchschauen. 

Neue Aufgaben in Kindererziehung und Jugendarbeit

Trotz aller Hindernisse macht Gerlinde ihr Vikariat in der DDR und arbeitet später auch als Pfarrerin. In den ersten Jahren unterstützt sie Joachim allerdings nur ehrenamtlich in der Kirchgemeinde und kümmert sich um ihre drei Kinder, die sie – entgegen den Gepflogenheiten – nicht schon als Babys in die Krippe gibt, sondern selbst erziehen und prägen will.  

Später baut Gerlinde gemeinsam mit ihrem Mann Joachim eine überregionale Jugendarbeit auf. Ganz entgegen den Zielen des Staates. Gerlinde berichtet: „Die Hoffnung war ja im Sozialismus: Kirche stirbt mit den Alten aus.“ 

Doch Gott schenkt Gnade. Die Stasi bekommt lange nicht mit, dass “wir wirklich ne große Jugendarbeit aufgebaut haben. Überregional. Dass wir sogar westdeutsche Jugendgruppen eingeladen hatten, mit denen wir gemeinsam Silvesterfreizeiten und zwischendurch Mitarbeiterfreizeiten gemacht haben.”  

Gerlinde und Joachim erleben, wie Gott sie in dieser Zeit vor dem Eingreifen der Stasi beschützt: „Erst gegen Ende der DDR-Zeit haben die das erst wirklich mitgekriegt.” 

Und dann kommt die Wende 

Für das Pfarrehepaar Breithaupt kommt die Wende auf leisen Sohlen. Da sie in einem sehr kleinen Dorf wohnen und keinen eigenen Fernseher haben, sind sie von der Wende und der Grenzöffnung eher überrascht.

Aus dem Fernseher in der Dorfkneipe erfahren sie, was der damalige bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher von der Prager Botschaft aus allen DDR-Bürgern verkündet, die sich in der Botschaft aufhalten und rauswollen: Die DDR-Regierung lässt es zu, dass die Menschen mit Zügen in die Bundesrepublik ausreisen dürfen.

Gerlinde Breithaupt erinnert sich: „Und dann haben wir nur Mund und Augen aufgerissen, als wir sahen, wie Genscher das verkündigt hat, und dann guckte man sich so um im Dorf, und die Männer, die spielten Karten und tranken ihr Bierchen und guckten noch nicht mal hoch oder guckten mal kurz hoch, als plötzlich lauter Jubel aus dem Fernseher kam.“ 

Von der Öffnung der Mauer in der Nacht erfährt Gerlinde erst am nächsten Morgen durch einen Anruf ihrer Mutter.

Heute ist Gerlinde froh, dass die Mauer weg ist und sie wieder alle Freiheiten aus ihrer Jugend hat. Auf die Frage, ob ihr nie Zweifel an ihrer Entscheidung kamen, sagt sie: „Eigentlich nie. Das war für mich so klar, das ist jetzt mein Weg und den gehe ich auch. Wenn man so eine starke innere Gewissheit hat, kommen Zweifel gar nicht auf. Das Einzige, was mir schwergefallen ist, war zu wissen: Ich hab für meine zukünftigen Kinder eine Entscheidung getroffen, die sie vielleicht anders gewollt hätten.“ 

Auch im Rückblick ist Gerlinde dankbar für die Spuren Gottes in ihrem Leben: „Ich möchte diese Zeit nicht missen, weil ich einfach glaube, dass Gott da irgendwas draus macht. Dass wir diesen Weg gegangen sind und diese wachsende Jugendarbeit hatten, war so ein schönes Zeichen, dass es richtig ist, dass wir da sind. Ich bin glücklich über mein Leben und ich fühle mich reich beschenkt von Gott.“ 

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