21.12.2015 / Wort zum Tag

Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt

Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen.

Jesaja 58,10

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Von Rainer Maria Rilke wird erzählt, wie er regelmäßig bei einer Bettlerin vorbeikam. Er gab ihr nie etwas, seine Begleiterin gab ihr häufig ein Geldstück. Auf die Frage, warum er nichts gebe, meinte er: „Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.“ Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße Rose mit, legte sie in die offene Hand der Bettlerin und wollte weitergehen.

Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach seiner Hand, küsste sie und ging mit der Rose davon.

Erst nach acht Tagen sass sie wieder am gewohnten Platz. Sie war stumm wie vorher, zeigte wieder nur ihre Bedürftigkeit durch die ausgestreckte Hand. „Aber wovon hat sie denn all die Tage nur gelebt?“, frage Rilkes Begleiterin. Er antwortete: „Von der Rose.“

Eine seltsame Geschichte. Sie veranschaulicht, dass Hilfe mehr sein kann, als Almosen geben.

Im heutigen Wort zum Tag aus Jesaja 58 heißt es: Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Nur Luther übersetzt hier sehr gut mit ‚Herz’. Das zeigt, worum es geht. Das hebräische Wort ist næfæš. Es bedeutet Seele, Leben, Kehle, meint also das ganze existenzielle Sein. Damit soll ich dem Hungrigen begegnen und der Seele des Elenden, wie es wörtlich heißt. Es geht also nicht um eine Begegnung von oben herab, mitleidig, herablassend. Es geht um eine Begegnung auf Augenhöhe von meinem Leben zum Leben des anderen.

Das Elend der Welt, der Flüchtlinge droht mich zu erdrücken. Es wirft Fragen auf. Wo bin ich gefragt? Schalte ich einfach ab und resigniere? Oder stürze ich mich in Aktivität? Der ganze Abschnitt in Jesaja 58 warnt vor einer erstarrten Frömmigkeit. Zwar fragen die Menschen hier nach Gott und seinem Willen, aber sie leben nicht danach , sondern nach ihren eigenen Vorstellungen.

Wir sollen nach Gottes Willen fragen. Aber Voraussetzung ist, dass wir bereit sind, nach seinem Willen auch zu leben. Und vor allem: dass wir bereit sind, ihm zu gehorchen. Ich bin nicht für das ganze Elend der Welt zuständig. Ich bin von Natur aus nicht barmherzig. Aber ich kann täglich Gottes Erbarmen empfangen und dies dann weitergeben.

Bei Jesus sehen wir, wie er den Menschen begegnet ist. Er sah den Menschen und den Hunger nach Liebe und Anerkennung genauso wie den Hunger nach Brot. Wenn wir ihm folgen und gehorchen, gilt uns die Verheißung, wie er Licht zu werden: dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Das klingt doch verlockend!

Autor/-in: Pfarrerin Dagmar Rohrbach