17.03.2020 / Kommentar

„Was das Coronavirus mit uns macht“

Die Pandemie zeigt, was uns als Gesellschaft trägt bzw. nicht trägt. Ein Kommentar von Seelsorger Michael Stollwerk.

Pfarrer Dr. Michael Stollwerk (Foto: Lothar Rühl)

Szene in einer Apotheke in Hessen Anfang März. Gerade ist eine Lieferung Desinfektionsmittel eingetroffen. Sechs Einheiten stehen zur Verfügung. Unvorsichtigerweise gibt eine Mitarbeiterin die entsprechende Information in Gegenwart eines Kunden weiter. Der ältere Herr besteht sofort darauf, den gesamten verfügbaren Vorrat zu kaufen. Die Einwände der leitenden Pharmazeutin, warum dies aus versorgungstechnischen Gründen nicht möglich sei, will er nicht gelten lassen. Aggressiv versucht er, sein „Kaufrecht“ durchsetzen. Erst als die Apothekerin ankündigt, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen, verlässt er schimpfend und fluchend die Apotheke.

Ein unbeteiligter Passant meint: „In Zeiten wie diesen erkennt man den Charakter eines Menschen.“ – Ob dem wirklich so ist, sei dahin gestellt.
Deutlich wird auf jeden Fall:

Wir haben derzeit noch einmal mehr und anderes zu verlieren als unsere Gesundheit. Es geht um nicht weniger als unsere Würde und die Fähigkeit eine Krise solidarisch zu bewältigen. – Pfarrer Dr. Michael Stollwerk

Die Pandemie zeigt, was uns als Gesellschaft trägt bzw. nicht trägt

Hier sind wir als Christen gefordert. Denn in Anlehnung an das bonmot des Passanten in der Apotheke könnte man auch formulieren: „In Zeiten wie diesen erkennt man den Glauben einer Kirche.“ – Was sich positiv festhalten lässt: Das Krisenmanagement der Kirchgemeinden funktioniert. Landauf landab werden reaktionsschnell Beschlüsse gefasst, Sicherheitsvorschriften erstellt und überzeugend umgesetzt.
Was ich jedoch schmerzlich vermisse, ist der spezifisch christliche Zugang zum Phänomen einer Pandemie und so etwas wie ein geistlicher Masterplan.

Kirchliches Handeln kann sich doch nicht darin erschöpfen, Veranstaltungen abzusagen, Gottesdienste in Frage zu stellen und Pfarrer vor „aufsuchender Seelsorge“ zu warnen! Ein Reformator wie Huldrych Zwingli, der in Pestzeiten die Kranken in Zürich besuchte, sich dabei ansteckte und durch Gottes Gnade sowie die aufopfernde Pflege seiner Frau wieder Genesung fand, wird sich im Grabe herum drehen.
Wo bleibt die nüchterne theologische Reflektion des Geschehens? Wo bleiben in Analogie zu den Volksklagepsalmen im Alten Testament die Aufrufe zum kollektiven Gebet? Ob diese nun im stillen Kämmerlein oder in der Kirche stattfinden, ist sekundär. Aber gebetet muss werden! Unbedingt! Und mit viel Herzblut! – Oder ist unser Bekenntnis zum allmächtigen und barmherzigen Gott nur noch ein Lippenbekenntnis?

Nun hat unsere Bundesregierung und auch die Kirchen selbst mit ihrem aktuellen Beschluss die Verkündigung des Evangeliums und den Dienst der Pfarrer auf dieselbe Stufe wie Gastronomie, Eventagenturen und Museen gestellt! Ich sehe unsere Bedeutung aber nicht auf einer Stufe mit kulturellen Veranstaltungen (nice to have), sondern unter der Kategorie der Notversorgung wie Apotheker, Mediziner und Krankenhäuser (it`s a must!). Es ist also ein Skandal und ein völliger Ausverkauf des geistlichen Selbstverständnisses der Kirchen, der hier überstürzt hingenommen wird.

Sollen unsere Mitmenschen, Jung und Alt, wirklich auf sich selbst zurückgeworfen bleiben in ihrer Angst vor Ansteckung? Das kann es doch wohl nicht sein. Nehmen wir uns ein Beispiel an den tapferen Ärzten und Pflegekräften. Solange sie ihre Patienten behandeln, ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit als Kirchen und Freikirchen ihnen den Zuspruch des Evangeliums zu vermitteln – und zwar in „Vollmacht und Gelassenheit“.

Wir können als Christen vor dem Coronavirus natürlich geistlich kapitulieren. Gezwungen dazu sind wir aber nicht! Zumal es unserem Auftrag fundamental widerspricht. – Pfarrer Dr. Michael Stollwerk

Paulus ermutigte seinen Mitarbeiter Timotheus einmal mit den Worten: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2 Timotheus 1,7). Dieser Geist setzt Phantasie im Umgang mit der Coronabedrohung frei. Ein Beispiel hierfür setzen die Sozialdiakone der reformierten Kirche Stäfa (Kanton Zürich/Schweiz). Sie nutzen durch Absagen freigewordene Zeitkontingente dafür, Einkäufe und Besorgungen für Menschen aus Risikogruppen anzubieten. Andernorts gibt es Überlegungen, mit Laptops ausgestatteten Senioren die Möglichkeit zum Skypen zu eröffnen, um deren zunehmender Isolierung vorzubeugen.

Es gäbe viele Möglichkeiten dem Coronavirus seelsorglich und diakonisch die Stirn zu bieten.
Der machtvollste Ansatz aber liegt im Gebet. Das wissen auch Menschen, die dem Glauben ansonsten eher fern stehen. So meinte ein Arzt lapidar: „Wenn wir Ärzte unseren Job tun und Sie als Pfarrer den Ihren, geht es dem Virus an den Kragen.“ Also, liebe Mitchristen, tun wir gefälligst unseren „Gebetsjob!“ Es wird von uns erwartet.

In der schönen reformierten Kirche Stäfa am Zürichsee gibt es seit Anfang der Woche Desinfektionsmittel, Stifte und ein Fürbitte Buch, dem verunsicherte Menschen Ihre Ängste, Frustrationen aber auch Zuversicht anvertrauen können. (Vorausgesetzt das Desinfektionsmittel wird nicht von Zeitgenossen wie dem eingangs erwähnten Herr aus Mittelhessen geklaut!).

Beten wir für unsere Mitmenschen und für die ganze Welt! Damit das Coronavirus nicht weiter mit uns machen kann, was er will und uns am Ende noch jede Würde nimmt.

Bleiben Sie behütet
 

 

Michael Stollwerk
Pfr. Dr. of Ministry*


*Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

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