05.06.2023 / Andacht

Wahrheit befreit zum Neuanfang

Eine Ent-Deckungsreise in Josefs Familiengeschichte.

Der humoristische Dichter und Zeichner Wilhelm Busch hat einmal gesagt: „Wenn über eine dumme Sache endlich Gras gewachsen ist, kommt sicher ein Kamel gelaufen, das alles wieder runterfrisst.“

Die Stunde der Wahrheit

Ähnliches passiert in der Familie von Jakob und seinen zwölf Söhnen. Nach zwanzig Jahren nimmt diese Familiengeschichte eine unglaubliche Wendung: Die zehn ältesten Brüder machen sich inmitten einer schlimmen Hungersnot von Kanaan auf den Weg nach Ägypten, um Korn zu kaufen. Sie sind hungrig und verzweifelt. Die Ängste und Schrecken der letzten Wochen sind durch nichts mehr zu toppen. Könnte man meinen.

Bis sich der zweitmächtigste Mann Ägyptens als der verhasste und totgeglaubte Bruder der zehn Männer ausgibt. Josef! Das beziehungsweise er verschlägt ihnen endgültig die Sprache. Viele Jahre zuvor hatten sie ihn als Sklaven verkauft und wähnten ihn längst nicht mehr am Leben. Jetzt ist offensichtlich Zahltag für ihre Schuld, die immer noch im Raum steht.

Die Brüder sind abhängig von der Gunst Josefs. Er entscheidet über Hunger oder satt zu essen. Jetzt sind sie ihm so ausgeliefert wie er ihnen damals. Wird er sich an ihnen rächen und sie am langen Arm seiner Macht verhungern lassen? Verstehen könnten sie es sogar.

Ein Leben auf Lügen gebaut

Manchmal schleppen wir Menschen eine lange Zeit Schuld mit uns herum und setzen alles daran, sie vor anderen geheim zu halten. Dazu bauen wir unser Leben zunehmend auf einer Lüge auf. Die Maske, hinter der wir sie verstecken, kann in unserem Verhalten seltsame Blüten treiben.

Beispielsweise so, dass wir ein bestimmtes Verhalten an uns selbst ablehnen und es deshalb, meist unbewusst, in unseren Mitmenschen zu bekämpfen versuchen. Eine mögliche Folge kann das häufig unbewusste Ziel moralischer Überlegenheit sein.

Geliebte Opferrolle?

Oft sprechen Menschen mit Dritten über das, was ein anderer ihnen angetan hat. Aber nie mit dem Betroffenen selbst, weil sie gar keine Klärung wollen. Die Rolle des Opfers kann ein großer Gewinn sein: Keine Verantwortung für das eigene Leben und die eigenen Gefühle zu übernehmen.

Aber auch das bindet und kostet Lebenskraft, die mir für meine aktuellen Herausforderungen fehlt. Die Folgen sind dieselben: Vergiftete Beziehungen und fehlende Freiheit, um das eigene Leben zu gestalten und im Sinne Gottes mündig zu werden. Also, ein hoher Preis.

Wahrnehmen, was piekt

Bei der ersten Begegnung mit seinen Brüdern wird Josef wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Vielleicht hat er sich vor seinem inneren Auge noch einmal im Wasserloch bei Dotan gesehen, wo seine Brüder ihn eingesperrt hatten, den Geruch der feuchten Wände in der Nase. Die Angst um sein Leben gespürt, die Abhängigkeit von seinen Brüdern und deren Entscheidungen. Auf jeden Fall ringt er um sein emotionales Gleichgewicht.

Gefühle sind der Motor unseres Handelns und damit ein wichtiger Wegweiser zu unserem Herzen, zu unserem Inneren. Hinter dem, was uns immer wieder piekt und uns vielleicht sogar zu einem Verhalten motiviert, das wir manchmal selbst nicht verstehen, steckt häufig eine tiefe Verletzung.

Ich kann Gott bitten, sie mir bewusst zu machen und habe dann die Wahl: Diese Verletzung zu kultivieren oder sie Jesus hinzuhalten, damit er sie heilt. Er ist der Heiland, der Versöhner.

Je besser ich mein „Gewordensein“ mit allem Guten und auch Schmerzhaften verstehen lerne, desto freier kann ich die Gegenwart leben und die Zukunft gestalten. 

Mut zur Konfrontation

Der eigenen Schuld und den eigenen Verletzungen zu begegnen, erfordert Mut. Auch Josef braucht Mut sowie einen Schutzraum, um seine Maske des harten Machthabers endlich fallen zu lassen. Bei allem Vertrauen, das er in seine engsten Mitarbeiter hatte – jetzt müssen alle den Raum verlassen. Ausnahmslos.

Das, was er jetzt zu sagen hat, geht nur ihn und seine Brüder etwas an. An den Worten von Josef wird für mich deutlich, dass er keine Rache mehr üben will (1. Mose 45,5). Wie hat er es geschafft, den ersten Schritt der Versöhnung zu gehen?

Josef ist frei, nicht mehr aus seinen Verletzungen heraus zu handeln. Offensichtlich hat er auch innerlich einen langen Weg zurückgelegt, seit seine Brüder ihn verraten und verkauft hatten. Einen Weg der inneren Heilung, auf dem er sich selbst mehr auf die Spur gekommen ist. Gleichzeitig wird er sich seiner Berufung bewusst, die Gott ihm gegeben hat. Jetzt kann er sie im Zusammenhang mit dem sehen, was seine Brüder ihm angetan haben (1. Mose 45,8).

Eigene Lügen entlarven

Es berührt mich sehr, dass Josef seine Brüder mehrfach ermutigt, sich keine Sorgen zu machen. Vermutlich weiß er aus eigener Erfahrung, wie schwer es sein kann, den eigenen inneren Stimmen zu begegnen: „Hätte ich mich doch bloß anders verhalten. Wie konnte ich nur?“ „Hätte der andere doch …, dann hätte ich nicht.“ Mir persönlich sind diese Fragen und Selbstvorwürfe bestens vertraut. Sie lassen mich erkennen, dass ich mich getäuscht habe. In mir selbst und in meinem Charakter.  

Selbstlügen wiegen oft schwerer als Lügen gegenüber anderen. Ich muss dabei aber nicht stehenbleiben, sondern kann lernen, diese weniger glanzvollen Seiten meines Charakters als auch zu mir gehörend anzunehmen. Mich in meinem Sosein anzunehmen und damit die Vergebung Gottes für mich.

Die Wahrheit befreit zum Neuanfang

Wenn Menschen sich selbst und einander vergeben, kommt neue Energie ins Leben. Nach der Aussprache lädt Josef seine Familie ein, zu ihm nach Ägypten zu ziehen. Und so bricht Jakob auf seine alten Tage noch einmal mit seinen Söhnen auf und fängt ein neues Leben an.

Interessant finde ich, dass der Pharao sie durch Josef ermutigt, beim Umzug nach Ägypten ihr Hab und Gut in Israel zu lassen. Für mich ist das ein schönes Bild für einen Neuanfang. Um frei für Neues zu werden, muss ich Altes loslassen. Ab jetzt ist die Familie mit leichtem Gepäck unterwegs.

Die Söhne Jakobs hatten das Privileg, dass ihre Aussprache noch zu Lebzeiten aller Beteiligten möglich war. Da, wo Schuld aus dem Weg geräumt wird, entsteht erstmalig oder wieder neu Gemeinschaft.

Das gilt auch für meine Beziehung zu Gott. Wenn er Sie beim Lesen gerade auf etwas aufmerksam macht, das Sie klären sollten – mit ihm oder einem anderen Menschen, dann tun Sie es. Heute! Die Geschichte von Josef zeigt mir, dass Gott alle Macht hat, Gutes daraus entstehen zu lassen.  

Autor/-in: Franziska Decker

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