18.09.2010 / Interview

Vom Massai zum Weltbankberater

Ein Massai erklärt, was eine einzige Patenschaft bewirken kann und wie Bildung aus der Armut heraushilft.

Eine Karriere wie aus dem Bilderbuch: Ein kleiner Junge wächst als Hirtennomade in der Steppe Kenias auf und bekommt durch eine Patenschaft die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Es folgen ein Uni-Abschluss, ein Doktortitel, eine Stelle als Professor und später als Weltbankberater. Heute arbeitet Dr. Ole Ronkei bei dem internationalen Kinderhilfswerk Compassion und ist selbst im Auftrag für die Armen unterwegs. In unserem Interview erklärt er, was eine einzige Patenschaft bewirken kann und wie Bildung Menschen aus der Armut hilft.


ERF.de: Dr. Ole Ronkei, Sie sind als Massai in der Steppe Afrikas aufgewachsen und der Erstgeborene eines Stammesältesten, eines Laiboni. Was bedeutet das?

Dr. Ole Ronkei: Ein Laiboni ist der spirituelle, politische und medizinische Leiter innerhalb der unterschiedlichen Massai-Gruppen. Sowohl mein Großvater als auch mein Vater waren Laiboni und wäre ich nicht zur Schule gegangen, hätte ich als Nachfolger den Platz meines Vaters eingenommen.
 

ERF.de: Sie sind dann als Kind ins Internat gegangen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Dr. Ole Ronkei: Um das Internat zu besuchen, musste ich das ländliche Nomadenleben verlassen und in die Stadt ziehen. Dabei waren vor allem die ersten drei Monate eine große Herausforderung. Ich hatte starkes Heimweh und musste mich an vieles gewöhnen, z. B. an das Essen, das mein Magen einfach nicht vertrug. Dazu kam, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Schuhe trug, was mir ebenfalls Probleme bereitete. Trotzdem war das Internat für mich als Kind die beste akademische Umgebung, da ich mich vollständig auf das Lernen konzentrieren konnte.
 

ERF.de: Sie haben Ihre schulische und akademische Ausbildung mit sehr viel Ehrgeiz durchgezogen. Wie passen Massai-Kultur und Karriere zusammen?

Dr. Ole Ronkei: Die Motivation zu lernen und mein Massai-Hintergrund scheinen nur auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen. Meine Motivation kam zum einen durch die Schule selbst, in der ich gute Noten erzielte. Zum anderen motivierte mich gerade mein Hintergrund als Massai. Mir wurde bewusst, dass ich einer von sehr wenigen war, die überhaupt die Chance bekamen, eine Schule zu besuchen.

Die Herausforderung bestand vielmehr darin, dass meine Familie nicht verstand, was ich tat. Sie selbst hatten nie eine Schule besucht und kannten lediglich die Highschool. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem eine Gruppe Ältester auf mich zukam. Sie wussten von der Schule nur, dass ein Kind die Klasse wiederholen muss, wenn es die Prüfung nicht schafft. Also kamen sie, um mir zu sagen, dass sie mich auch ohne Schulbildung akzeptierten und ich nach Hause kommen solle. Sie glaubten, ich würde die Klassen Jahr für Jahr wiederholen und verstanden nicht, dass ich mit der Uni Schule auf einem höheren Niveau weitermachte. Heute haben sich die Dinge jedoch verändert. Es gibt ein klareres Verständnis von Bildung.
 

ERF.de: Wie offen sind die Massai gegenüber dem christlichen Glauben?

Dr. Ole Ronkei: Das Glaubenssystem der Massai ist fast identisch mit dem, was wir im Alten Testament finden. Ich fand damals durch den Religionsunterricht heraus, dass die Brandopfer-Bestimmungen der Bibel identisch waren mit denen der Massai. Man hätte meinen können, die Massai würden die Bibel lesen. Dadurch wuchs mein Interesse. Nachdem ich die Dinge mit meinem Großvater und meinem Religionslehrer diskutiert hatte, traf ich meine eigene Entscheidung für Christus. Meine Familie hatten damit kein Problem, gerade weil sich die Massai-Kultur und das Christentum nicht ausschließen, sondern ergänzen. Das einzige, was du einem Massai erklären musst, ist die Rolle von Christus. Die Massai glauben nicht, dass ein Vermittler zwischen Gott und Mensch nötig ist. Haben sie das aber einmal verstanden, dann sind sie diejenigen, die am leichtesten Christen werden.
 

ERF.de: Sie haben lange in den USA gelebt und kamen danach zurück nach Afrika. Welche Aspekte der Massai-Kultur sehen sie als erstrebenswert für westliche Kulturen?

Dr. Ole Ronkei: Etwas, das man von den Massai lernen kann, ist der Sinn für Gemeinschaft. Wenn eine Person ein Problem hat, packen alle gemeinsam an. Als ich beispielsweise zur Schule gehen sollte, brachte jeder Bewohner etwas Geld, je nachdem, was er geben konnte. Das wurde zusammengelegt, sodass ich die Schule besuchen konnte.
Eine weitere Sache sind Ehen. Hingegen der Meinung vieler sind die Ehen nicht vollständig arrangiert. Es läuft so, dass ich mir ein Mädchen aussuche und mit ihr rede, um zu sehen, ob sie mich mag oder nicht. Erst danach wird der Rest zwischen meiner Familie und ihrer erledigt. Das hat den Vorteil, dass beide Clans gemeinsam nach einer Lösung suchen, wenn es Probleme gibt. Beide Familien sind involviert, sodass die Ehe größere Chancen hat, auf Dauer zu halten.
 

ERF.de: Sie haben während Ihrer Karriere auch Tiefen durchgemacht. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Dr. Ole Ronkei: Während meiner ganzen Schulzeit war ich stets unter den Besten, sodass ich sehr selbstsicher davon ausging, einmal an der Uni zu landen. Ich bestand auch meine Abschlussprüfung, verpasste aber die Zulassung zur Uni in Nairobi um nur einen Punkt. Kenia hatte zu der Zeit nur eine nationale Universität, sodass von 24.000 Schülern, die die Prüfung ablegten, nur 2.000 zur Uni zugelassen werden konnten. Als ich die Ergebnisse der Abschlussprüfung bekam, war ich am Boden zerstört. Ich hatte alle Erwartungen darauf gesetzt. Dann wurde mir jedoch bewusst, was ich auf dem Internat gelernt hatte. Wir sollten uns von den äußeren Umständen nicht runterziehen lassen. Dieses Wissen weckte mich nach einer Woche wieder auf.
 

ERF.de: Hat Ihnen Ihr Glaube geholfen, diesen Niederschlag zu verkraften?

Dr. Ole Ronkei: Ja, mein Glaube war einer der Faktoren, die mich aus dieser Phase geholt haben. Ich habe zu der Zeit in einer Missionsgruppe namens „The Navigators“ mitgearbeitet, was mir sehr geholfen hat. Hinzu kamen das Wertesystem, mit dem ich aufgewachsen bin, der Gehorsam, den ich im Internat gelernt hatte und mein Massai-Hintergrund. Das waren alles Faktoren, die dazu beitrugen, dass es mir bald besser ging.
 

ERF.de: Über Umwege konnten Sie dann doch noch studieren: Journalistik, Sozialwissenschaften und Politik. Sie wurden Professor in den USA und Unternehmensberater der Weltbank, wieso haben Sie eine solche Karriere aufgegeben?

Dr. Ole Ronkei: Meine Rückkehr nach Kenia hatte hauptsächlich drei Gründe. Der Hauptgrund war das Heimweh, zehn Jahre waren eindeutig genug. Zweitens hatte ich das Gefühl, das erreicht zu haben, warum ich in die USA gegangen war, nämlich zum Studieren. Und drittens wollte ich in Kenia das weitergeben, was ich gelernt hatte. Ich hatte das Gefühl, dass man mich in Kenia brauchte.
 

ERF.de: Lernen Ihre Kinder noch das Leben der Massai kennen oder wachsen Sie eher westlich geprägt auf?

Dr. Ole Ronkei: Meine Kinder sind ganz typische moderne Kinder Kenias. Sie besuchen eine englischsprachige Missionarsschule, die nach amerikanischem Lehrplan organisiert ist. Ihre ebenfalls englischsprachigen Freunde und das Schulsystem beeinflussen sie mehr, als ich sie beeinflussen könnte. Die Zeit mit ihnen ist zu gering. Deswegen versuche ich, ihnen die Massai-Kultur und die Sprache in den Ferien beizubringen. Meine Kinder wachsen also zwischen zwei Kulturen auf, die sie beide zu schätzen gelernt haben.
 

ERF.de: Sie arbeiten für Compassion International – was macht dieses internationale Kinderhilfswerk?

Dr. Ole Ronkei: Compassion ist ein Kinderhilfswerk, das mit Patenschaften arbeitet. Wir arbeiten mit Sponsoren aus 12 Industriestaaten zusammen, um hilfsbedürftigen Kindern aus 28 verschiedenen Entwicklungsländern zu helfen. Diese Hilfe geschieht vorrangig durch Bildungsangebote. Zum einen eröffnen wir den Kindern die Möglichkeit, zur Schule zu gehen und sorgen dafür, dass sie eine gute Umgebung zum Lernen haben. Zum anderen kümmern wir uns auch um das leibliche Wohl der Kinder und sorgen dafür, dass sie alle gesund sind.
 

ERF.de: Sie möchten kostenlose Bildung für benachteiligte Kinder. Wie kann Bildung aus der Armut helfen?

Dr. Ole Ronkei: Es ist absolut wichtig, kostenlose Bildung für alle Kinder zu gewähren. Es ist genau diese Bildung, die mich dazu befähigt hat, ein einflussreicher Bürger zu werden. Ich erinnere mich immer wieder daran, dass ich selbst eine Schule mit notleidenden Kindern besucht habe, die durch Patenschaft gesponsert wurden. Sie haben es alle geschafft, oder zumindest 99% von ihnen. Bildung öffnet die Türen für Entwicklung, für einen höheren Lebensstandard, für den Kampf gegen die Armut. Alles in allem verbessert es die Lebensumstände und macht den Menschen fähig, für sich selbst zu sorgen.
 

ERF.de: „Kibera“ in Nairobi ist der größte Slum Afrikas – was sind die größten Probleme und wie könnte wirksame Hilfe aussehen?

Dr. Ole Ronkei: Die Slums haben eine große Anziehungskraft auf Menschen aus den ländlichen Regionen Kenias. Sie kommen mit der Hoffnung in die Stadt, Arbeit zu finden und müssen dann feststellen, dass es dort keine gibt. Ein Ort wie Kibera wird dann zu einem Platz, an dem sie bleiben können, wenn sie kein Geld haben. Zur Frage, wie dieses Problem gelöst werden kann, gibt die neue Verfassung, die Kenia vor kurzem verabschiedete, meiner Meinung nach einen Teil der Antwort. Wir haben zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit ein dezentralisiertes Regierungssystem, sodass die Ressourcen erstmals von den örtlichen Regierungen verwaltet werden. Dadurch wird es die jungen Leute vom Land weniger in die Stadt ziehen und es wird einfacher werden, Arbeit in den ländlichen Gebieten zu finden.
 

ERF.de: Das Konzept von Compassion sieht vor, den hilfsbedürftigen Kindern innerhalb ihrer Familien zu helfen. Welche Vorteile hat das?

Dr. Ole Ronkei: Hinter diesem Konzept steckt die Idee, dass die Kinder innerhalb ihrer familiären Umgebung und nicht an einem sterilen Ort wie einem Waisenhaus aufwachsen. Wir sind davon überzeugt, dass die Familie eine große Rolle im Leben eines Kindes spielt. Wir reißen die Kinder also nicht aus ihren Familien, sondern betreuen sie während ihrer Schulzeit. Auf diese Weise profitiert die ganze Familie davon.
 

ERF.de: Haben Sie manchmal Zweifel oder hadern Sie mit Gott, wenn Sie das große Leid sehen?

Dr. Ole Ronkei: Wenn ich die Kinder sehe, die in diesen verarmten Umständen aufwachsen, werde ich leicht traurig oder ärgerlich. Aber ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass ich nur eine bestimmte Kapazität habe. Ich muss das nutzen, was ich habe. Denn wenn mich diese Gefühle überwältigen, hilft das der Situation nicht weiter. Im Gegenteil, es macht mich uneffektiv für meine Arbeit. Deswegen konzentriere ich mich auf das, was ich tun kann.
 

ERF.de: Vielen Dank für das Gespräch.