07.10.2014 / 25 Jahre Mauerfall

Vom Freund verraten

Die Stasi wandte jedes Mittel an, um Pfarrer Theo Lehmann zu bespitzeln

„Um aus dem Stasi-Gefängnis rauszukommen, da verkaufst Du auch deine Mutter.“ Diesen Satz hört Pfarrer Dr. Theo Lehmann von einem seiner Freunde, der wegen Besitzes von Jazz-Platten von der Stasi eingesperrt wurde. Was Theo Lehmann damals nicht weiß: Dieser Freund wird jemand ganz anderen verraten als seine Mutter, nämlich ihn selbst – Theo Lehmann. Denn der Pfarrer Theo Lehmann ist der Stasi schon lange ein Dorn im Auge.

Lehmann wird am 29. Mai 1933 als drittes Kinder des Indien-Missionars Arno Lehmann in Dresden geboren. Er studiert Theologie und ist begeisterter Musikfan. Seine Doktorarbeit handelt von der Geschichte und Theologie der Gospels und Negro Spirituals. Als Pfarrer kritisiert er in seinen Predigten den Unrechtsstaat DDR. Diese Haltung führt dazu, dass ihn das Ministerium für Staatssicherheit jahrzehntelang als feindlich negative Person im operativen Vorgang „Spinne“ bespitzelt. Inoffizielle Mitarbeiter werden dabei bis in die engsten Mitarbeiter- und Bekanntenkreise eingeschleust. Unter den Spitzeln befanden sich Pfarrer, Diakone und Kantoren.

„Ein Prediger muss bereit sein, für seine Predigt aufs Schafott zu gehen“

Jugendgottesdienst in der Schloßkirche 1972 (© Theo Lehmann)

Lehmann ist von 1964 bis 1976 als Pfarrer in Karl-Marx-Stadt tätig. Seine Gottesdienste sind besonders bei Jugendlichen beliebt. Tausende von jungen Menschen aus der ganzen DDR kommen, um ihn predigen zu hören. Immer wieder gerät er deshalb mit dem Staat aneinander. „Die Lehre des Sozialismus war ja: Die Kirche stirbt aus. Jetzt stellte sich auf einmal heraus, dass in Karl-Marx-Stadt ein Pfarrer wohnt, in dessen Gottesdienste die Leute zu Tausenden in die Kirche strömen. Es spielte sich in der Wirklichkeit das Gegenteil von dem ab, was der Staat proklamiert hat. Die Kirche starb nicht aus. Da musste es zu einer Konfrontation kommen“, beschreibt er seine Sicht der Dinge.

Theo Lehmann ist überzeugt, dass sich mit der Kirche und dem DDR-Sozialismus zwei totalitäre Ansprüche gegenüberstehen. „Auf der einen Seite war die Ideologie des Sozialismus, die den Menschen ganz wollte. Das Mitmachen alleine genügte ja nicht. Die wollten die Herzen der Menschen. Auf der anderen Seite trat ich vor die jungen Leute und sagte: ‚Gott will dich ganz.‘ Da musste es zum Krach kommen. Das war für mich logisch. Ich habe mit allem, was dann kam, auch gerechnet. Ich habe mal einen Satz gelesen: ‚Ein Prediger muss bereit sein, für das, was er gerade gesagt hat, sofort aufs Schafott zu gehen.‘ Das habe ich mir zu eigen gemacht“, so Lehmann.

In seinen Predigten bezieht er auch politisch Stellung – obwohl die Stasi Mitarbeiter in den Gottesdienst entsendet. Als er später seine Stasi-Akten einsieht, findet er heraus, dass jede Predigt aufgenommen und sogar katalogisiert wurde. Bei seinen Predigten wandelt er auf einem schmalen Grat. Er versucht, die Wahrheit zu sagen, ohne sich angreifbar zu machen.

Bespitzelt von einem der besten Freunde

Die Bespitzelung der Gottesdienste ist für Pfarrer Lehmann aber nur eines der Probleme. Viel gravierendere Auswirkungen auf das Gemeindeleben hatte die Ungewissheit, wer im persönlichen Bereich ein Spitzel sein könnte. Theo Lehmann schildert, wie er damit umgegangen ist: „Für uns war das Problem: Wie weit kann man sich in einer Gruppe noch öffnen, wenn man denkt, dass da Spitzel dabei sind? Die Stasi hat Leute in meinen Erwachsenenkonfirmationsunterricht geschickt, die so tun mussten, als ob sie sich konfirmieren lassen wollen. Nur um uns auszuhorchen. Das ist natürlich furchtbar unangenehm gewesen. Ich habe mich immer bemüht, den Menschen mit möglichst viel Vertrauen zu begegnen. Aber um überleben zu können, durfte man nicht ganz offen sein. Das war eine Gratwanderung“.

Theo Lehmann (Bild: privat)

Spitzel in den Gottesdienst oder die Jugendstunden zu schicken reicht der Stasi aber nicht. Sie ist am Privatleben des Pfarrers interessiert. Dazu sucht sie ganz gezielt Menschen aus seinem persönlichen Umfeld – und wird beispielsweise beim anfangs erwähnten Freund fündig. Es ist die Leidenschaft für die Jazz-Musik, die beide verbindet – und die seinen Freund schließlich ins Gefängnis bringt. „Wir waren Jazz-Sammler. Wenn ich einen politischen Witz gehört habe, war er der Erste, dem ich ihn erzählt habe. Und der war der Spitzel. Also ein Mensch, dem ich restlos vertraut habe. Wir haben zusammen Urlaub gemacht, Geburtstag gefeiert. Wir waren echte Freunde“, erzählt Lehmann. Zum Spitzel wird dieser Freund erst, als er wegen Besitzes von Jazz-Platten von der Stasi verhaftet wird und für 4 Jahre ins Gefängnis muss.

Bei seiner Entlassung holt Theo Lehmann ihn aus dem Gefängnis ab und bringt ihn zu seiner Familie. Mit der Aussage vom Verkauf der Mutter kann Pfarrer Lehmann zuerst nichts anfangen. Heute hat er eine Vermutung, was sein Freund damit gemeint haben könnte: „Wahrscheinlich wollte er mir signalisieren, dass er sich bereits verkauft hat“, erzählt er.

„Die Stasi hat Menschen schizophren gemacht“

In der Folge verfasst der Freund zahllose Berichte über den Theologen. Bis zu dessen Tod ahnt Theo Lehmann nichts davon, dass er von ihm bespitzelt wird. Er sitzt sogar an seinem Totenbett und betet mit dem überzeugten Atheisten das „Vater Unser“. Doch der behält das dunkle Geheimnis für sich. Es dauert Jahre, bis Theo Lehmann mit der Situation Frieden schließen kann: „Ich bin geradezu froh darüber, dass er gestorben ist und ich mich nicht mit ihm darüber auseinandersetzen muss. Das ist mit der Vergebung nicht so leicht. Gerade in solchen Dingen, wenn man derartig verletzt wird.“

© Theo Lehmanns Stasi-Akten (Bild: privat) - Stasi-Akten Theo Lehmann

© Theo Lehmanns Stasi-Akten (Bild: privat) - Stasi-Akten Theo Lehmann

© Theo Lehmanns Stasi-Akten (Bild: privat) - Stasi-Akten Theo Lehmann

© Theo Lehmanns Stasi-Akten (Bild: privat) - Stasi-Akten Theo Lehmann

© Theo Lehmanns Stasi-Akten (Bild: privat) - Stasi-Akten Theo Lehmann

© Theo Lehmanns Stasi-Akten (Bild: privat) - Stasi-Akten Theo Lehmann

Bis heute ist Lehmann geschockt davon, wie die Stasi so etwas zustande bringen konnte. „Das Teuflische an der ganzen Geschichte war, dass er nichts gegen mich gehabt hat. Der war ein guter Freund bis zuletzt. Dass Allergefährlichste an der Stasi war, dass sie es fertig gebracht hat, einen Menschen so zu zerteilen, richtig schizophren zu machen – denn obwohl er mein Freund war, wollte er mich andererseits genau in das Zuchthaus bringen, dem er entronnen war mit seinen blöden Berichten. Das ist nicht zusammen zu kriegen“, beschreibt er seine Gedanken.

„Ostalgie“ löst Verzweiflung und Wut aus

Es wird kaum verwundern, dass Theo Lehmann der DDR nicht nachweint. „Ich habe dem Staat nie etwas positives abgewinnen können. Gerade die Dinge, die ins Menschliche gehen, sind das allerdeutlichste Zeichen, dass das ein menschenverachtender Staat war“ – so sieht er das heute.

Für ihn ist es daher auch kaum nachzuvollziehen, dass es heute noch Menschen gibt, die sich die DDR zurückwünschen: „Das bringt mich in Verzweiflung und Wut, wenn ich so etwas höre. Es gibt Leute, die haben in der DDR friedlich gelebt, weil sie sich mit dem System nicht angelegt haben. Aber wenn man sich das System zurücksehnt, gehören auch das Zuchthauswesen oder die Verhaftung von Unschuldigen und all die Grausamkeiten und Morde an der Grenze dazu. Die paar Wohltaten des Sozialismus haben zu wollen und das Negative nicht – das geht nicht. Das ist eine sinnlose Träumerei. Ich hasse diese nostalgischen Vorstellungen. Ich vermisse nichts und bin froh, dass es vorbei ist.“

Theo Lehmann weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, im eigenen Land unfrei zu sein. Er ist bespitzelt, beschattet und von guten Freunden verraten worden. Im Rückblick auf sein Leben in zwei Systemen zieht er ein klares Fazit: „Ich bin froh, dass die Begrenzungen über Nacht weggefallen sind. Ich konnte telefonieren, mit wem ich wollte; ich konnte jedes Buch lesen, das ich wollte. Alle Begrenzungen waren weg. Wir haben jetzt Freiheit. Jeder kann sein Leben gestalten wie er will. Das ist ein unglaubliches Gut – was will ich mehr?“

Mehr Erfahrungen von Christen in der DDR auf unserer Projektseite "25 Jahre Mauerfall - Glaube, der frei macht".

Autor/-in: Claas Kaeseler