20.06.2023 / Wort zum Tag

Verlassene werden gesehen und gehört!

Der HERR wendet sich zum Gebet der Verlassenen und verschmäht ihr Gebet nicht.

Psalm 102,18

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„Ich fühle mich wie von Gott und der Welt verlassen,“ klagen Menschen aller Zeiten. Der unbekannte Sänger von Psalm 102 hätte das auch sagen können. Denn er leidet unter Einsamkeit, gebrochenem Herzen, nachlassenden Kräften und vielen Schmerzen. Ja, er fürchtet in der Mitte seines Lebens zu sterben. Aber er fragt nicht: „HERR, warum?“ Er murrt nicht. Er klagt Gott nicht an. Er schaut von sich selbst weg auf sein Volk und Gottes Handeln an Israel. Und das macht ihn in seinem Elend gewiss: Der HERR wendet sich zum Gebet der Verlassenen und verschmäht ihr Gebet nicht.“

Sehr viel ist gewonnen, wenn ein leidender Mensch sich nicht ständig nur um sich selber dreht und fortgesetzt seine notvolle Situation beklagt. Natürlich dürfen und sollen wir alle unsere Klagen vor Gott bringen. Der Psalmbeter schleudert sein ganzes Netzwerk an Klagen, in dem er gefangen ist, auf Gott. Das dürfen und sollen Sie und ich tun. Denn wie befreiend: Wir brauchen vor Gott nicht den starken Mann oder die Powerfrau zu spielen. Ihm nicht vormachen, getrost oder geborgen zu sein, obwohl uns zum Heulen zumute ist. Wir können Gott gegenüber unsere Schwachheit zugeben, ihm auch unsere Ängste eingestehen.

Er ist ein Gott, der uns sieht, wenn uns geistige, körperliche oder seelische Kräfte verlassen; wenn uns geliebte Menschen verlassen; wenn uns Glück und Wohlergehen verlassen; auch wenn uns Glaube und Hoffnung verlassen. In jeder Verlassenheit sieht unser Vater im Himmel Sie und mich! In jeder Verlassenheit ist er ein Gott, der uns hört und sich uns zuwendet, wenn wir uns bittend an ihn wenden. Er verschmäht, verachtet und überhört unser Gebet nicht.

„Manchmal heule ich Gott einen ganzen Kübel voll“, sagte die Frau im Gespräch mit einer Pfarrerin. Als sie ihr dann ihre Lebensgeschichte erzählte, konnte die sie gut verstehen: Innerhalb weniger Monate hatte sie ihren Mann und ihre zwei Kinder verloren. Grund genug für viele Tränen. Aber dann redete sie weiter: „Gott-sei-Dank, dass ich ihn kenne und habe. Vor ihm darf ich meinen Kübel ausschütten. Er hält das aus. Ich weiß, dass er meine Schmerzen kennt. Ich lege sie ihm auf sein Herz. Und wenn ich ihm dann alles gesagt habe, wird mir leichter ums Herz. Und manchmal wird dann aus meinem Klagelied ein Danklied. Ich weiß doch, dass er es nur gut mit mir meint.“

„Dass Gott es nur gut mit mir meint?" Vielleicht protestieren Sie gegen diesen Satz. Ich kann das verstehen. Als ich mit 17 Jahren ein "Verlassener" wurde, weil innerhalb von 20 Tagen meine Eltern starben, konnte ich nichts Gutes an diesem Weg Gottes für mich erkennen. Erst als junger Vikar ging mir auf: Ich könnte verlassene Menschen in ihrem tiefen Schmerz nie verstehen, wenn ich nicht selber ein langes finsteres Tal kennengelernt hätte. Und ich könnte verlassene Menschen nie trösten, wenn ich nicht selber erfahren hätte, dass Gott ein Tröster und Helfer der Verlassenen ist – besonders der Waisen und Verwitweten, auch der Sozialwaisen und Geschiedenen. „Der HERR wendet sich zum Gebet der Verlassenen und verschmäht ihr Gebet nicht.“ Machen wir es daher so, wozu uns ein anderer Psalmbeter ermutigt: „Hoffet auf ihn allezeit, liebe Leute, schüttet euer Herz vor ihm aus; Gott ist unsre Zuversicht.“. Martin Luther schrieb zu diesem Satz aus Psalm 62,9: „Er ist unsere Zuflucht – und sonst niemand.“

Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass auch Sie das von Gott sagen können!

Autor/-in: Pfarrer i. R. Gerhard Weinreich