27.04.2023 / Wort zum Tag

Unvergessen

Ich habe dich bereitet, dass du mein Knecht seist. Israel, ich vergesse dich nicht!

Jesaja 44,21

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„Sie sind unvergessen!“, sagte er zu mir, als ich ihn vor einiger Zeit anrief. Das hat mich ungemein gefreut. Denn „er“ war viele Jahre lang Bischof einer großen evangelischen Landeskirche in Deutschland und sogar eine Zeit lang Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Ich war nur für eine kurze Zeit bei ihm tätig, als sein Persönlicher Referent, und das ist Jahrzehnte her. Ich hatte nun Kontakt zu ihm gesucht, weil ich ihn um einen Beitrag für ein Buch bitten wollte. Als ich anrief und meinen Namen nannte, sagte er diesen einen Satz: „Sie sind unvergessen.“ Damit konnte ich nicht rechnen. Umso mehr tat es mir gut.

Eigentlich ist das heute ja ganz anders. Wir vergessen schnell und sind schnell vergessen. Ein Erlebnis vor ein paar Monaten hat mich ziemlich erschüttert. Gern wollte ich einmal wieder meine alte Arbeitsstelle in Berlin-Neukölln aufsuchen. Ich wusste, dass die Gemeinde nicht mehr bestand, dass sie integriert worden war in eine größere Gemeinde. Aber ich wollte gern sehen, was aus dem Gemeindezentrum geworden war. Alles war damals neu gebaut worden, die Gemeinde selbst war frisch entstanden, Aufbruchsstimmung war jederzeit zu spüren, wir fühlten uns als Pioniere. Was war wohl aus dem schönen Gebäude geworden? Als ich um die Ecke kam und den großen Platz vor dem Gemeindezentrum sah, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Aber auch gar nichts war mehr da von unserem Kirchengebäude. Ein großräumig gebautes vierstöckiges Wohnhaus war an der Stelle errichtet worden. Von allem vorher – nichts mehr da. Das hat weh getan. Alles wie vergessen.

Ja, das mit dem Vergessen ist das so eine Sache. Es kann auch heilsam sein. Wir können nicht alles behalten. Aber oft sind wir einfach gedankenlos und selbstverliebt vergesslich, im Kleinen wie im Großen. War da gerade noch das Erdbeben in der Türkei und in Syrien DAS Thema, so verschwindet es schnell aus den Nachrichten. Aber auch persönlich, im Umgang mit unseren Mitmenschen geht das schnell. „Der ist für mich vergessen“, denken oder sagen wir schnell, wenn der Ärger über jemanden riesengroß wird. Auch wenn wir Gutes empfangen haben, so ist das schnell vergessen, wenn andere Zeiten kommen. Das gilt auch uns Christen im Blick auf das, was wir an Gutem von Gott empfangen, Tag für Tag. Schnell ist das vergessen. Nicht umsonst heißt es in Psalm 103: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat.“

Und Gutes hat er wirklich getan, und er tut es immer noch. Wenn wir auch oft Menschen sind, die sogar vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben, - so stoßen wir bei Gott selbst auf eine andere Spur, eine, die uns ins Staunen bringen kann. Es gibt ein ungemein tröstliches Wort im Buch Jesaja. Da spricht Gott zu seinem Volk und verkündet ihm: „Ich habe dich bereitet, dass du mein Knecht seist.“ Mit „Knecht“ ist hier gemeint, dass Gott sich zu seinem Volk bekennt, dass er alles dafür tut, dass es ihm die Treue hält. Und dann kommt der große Satz: „Israel, ich vergesse dich nicht.“

Was für ein Satz! Das Volk Israel war verschleppt worden nach Babylon, war verbannt im fremden Land, und das schon seit 40 Jahren. Es hatte sein Leid selbst verschuldet und musste nun für seine Gottvergessenheit büßen. Viele dachten, dass es mit der Volksgeschichte nun aus ist, dass sie nie mehr heimkehren und Jerusalem nie wieder sehen würden. Und dann plötzlich Gott: „Ich vergesse dich nicht“, oder: „Du bist unvergessen.“ Ja, Gott hat sein Volk nicht vergessen, niemals, auch heute nicht. Er hat sich zu seinem Volk neu bekannt. War es nicht ein reines Wunder Gottes, dass Israel im 20. Jahrhundert, vor mehr als 75 Jahren in der alten Heimat wieder ein Zuhause gefunden hat? 

Aber: Gott hat auch uns persönlich nicht vergessen. So wie ich damals regelrecht gerührt war, dass mein damaliger Bischof mich offensichtlich nicht vergessen hatte, so, ja noch viel mehr kann uns die Rührung und das Staunen packen, wenn Gott uns zuspricht, dass er auch uns nicht vergisst, uns, die wir oft nur recht und schlecht an ihn glauben. Aber er ist unterwegs, um uns zu sich zurückzuholen. Er sehnt sich nach uns und spricht denen, die ihn in guten und in schweren Zeiten nicht vergessen, zu: „Ich vergesse dich nicht. Ich kenne dich mit Namen. Du bist mein!“ Was für ein Trost in vergesslichen Zeiten.

Autor/-in: Pfarrer i. R. Hartmut Bärend