27.06.2022 / Wort zum Tag

Realität

Dein Volk spricht: »Der HERR handelt nicht recht«, während doch sie nicht recht handeln.

Hesekiel 33,17

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Grauenhaft. Vom Mai 1940 bis Januar 1945 wurden 1,1 Millionen Menschen in Auschwitz umgebracht. Nach ihrer mörderischen Arbeit machten die Verantwortlichen Feierabend mit ihren Familien. Sie aßen mit ihnen zu Abend und hörten Schubert und Beethoven. Harmlos erscheinende Familienväter bei Brot und Bier. Später, als das ganze Ausmaß dieser Morde bekannt wurde, fragten Christen: „Wo war Gott in Auschwitz?“ Doch das führte sie zu einer weiteren Frage: „Wo war der Mensch in Auschwitz?“

Schon die Leute, die dem Propheten Hesekiel zuhörten, stellten die gleichen Fragen: Wo war Gott? Warum lässt Gott das zu? Gott ist ungerecht. – Und Hesekiel antwortet: Nein, ihr selber seid es, die ungerecht sind, die unfassbares Leid verursachen.

Das Böse ist eine Realität in unserer Welt. Es tötet, es zerstört. Von Anfang an ist das so, denn der Mensch will es wissen. Gott warnt davor: Esst nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Aber Eva und Adam hören nicht auf ihn. Eva beißt in den Apfel, reicht ihn weiter an Adam. Nun können sie unterscheiden. Aber sie haben ihre Unschuld verloren. Sie verlieren das Paradies und finden sich in der Realität wieder. Jenseits von Eden. Kain, der Landbesitzer, erschlägt seinen Bruder Abel. Der besitzt kein Land, sondern ist mit seinen Herden unterwegs. „Das Dichten und Trachten der Menschen ist böse von Grund auf“ erkennt Gott und schickt die Sintflut. Doch nach der Sintflut hat sich nichts geändert. Gott kämpft gegen das Böse, das der Mensch losgetreten hat. Doch er beseitigt es nicht. Der Mensch muss mit ansehen, was er angerichtet hat. Auschwitz, Aleppo, Mariupol – verwüstet durch die Bösen. Sie haben Gesicht und Namen.

Nein, der Mensch ist nicht von Natur aus nur gut. Das Böse steckt in uns, und es scheint unausrottbar. Martin Luther hat das selbstkritisch Gott geklagt. Er betet:

Siehe, mein Herr Christus, da hat mir mein Nächster Schaden zugefügt. Er hat mich in meiner Ehre gekränkt. Das kann ich nicht ertragen. Darum wünsche ich ihm den Tod. Ach mein Gott, lass dir das geklagt sein. Ich sollte ihm verzeihen, aber ich kann es leider nicht. Siehe, wie ich so ganz kalt, so ganz hart bin. – Ach Herr, ich kann mir nicht helfen. Da stehe ich nun. Machst du mich anders, so werde ich gut.“

Ein Hilfeschrei. Luther beschuldigt nicht Gott. Er beschuldigt sich selber. Er bittet Gott um Erbarmen. Setzt seine ganze Hoffnung auf Gott: Machst du mich anders, so werde ich gut.

In seinem Buch „Das Testament“ erzählt John Grisham von einem heruntergekommenen Anwalt. Wegen eines Testaments muss er eine Missionarin im Amazonasdschungel aufsuchen. Er fasst Vertrauen zu ihr und erzählt ihr von seinen Alkoholexzessen, seinen Frauengeschichten. Sein Leben, ein Scherbenhaufen. Von ihm selber verursacht. Die Missionarin fragt: „Haben Sie es je Gott gebeichtet? Er wird Ihnen vergeben, und Sie werden in den Kreis derer eintreten, die an Christus glauben.“ – „Und meine Schulden?“ – „Sie werden die Kraft haben, damit umzugehen. Das Gebet vermag alles zu überwinden.“ Sie nimmt seine Hand: „Sprechen Sie mir nach: Lieber Gott, vergib mir meine Schuld und hilf mir, dass ich denen vergebe, die an mir schuldig geworden sind.“ Murmelnd spricht der Anwalt ihr nach. „Amen“, sagt sie. Er hat das Gefühl, als werde eine Last von ihm genommen. Zu Hause lernt er einen skurrilen, liebenswerten Pastor kennen. Der hilft ihm seine Dämonen zu besiegen und sein Leben zu ordnen.

Mit Gottes Hilfe kann der Mensch sich ändern. Es gibt Hoffnung jenseits von Eden.

Autor/-in: Pastorin Luitgardis Parasie