24.04.2012 / Wort zum Tag

Psalm 71,9

Verwirf mich nicht in meinem Alter, verlass mich nicht, wenn ich schwach werde.

Psalm 71,9

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Seit ich denken kann, habe ich an Gott und an Jesus Christus geglaubt. Von klein auf habe ich Gott vertraut. Mit der Liebe meiner Eltern habe ich die Liebe Gottes erfahren. Ganz selbstverständlich bin ich darin aufgewachsen. Und solche Menschen finde ich auch in der Bibel: Der Beter von Psalm 71 etwa. Auch er berichtet davon, dass er von klein auf im Glauben aufwuchs. Er weiß, und ich stimme ihm darin zu: Schon, als ich im Leib meiner Mutter entstand, hat Gott mich geliebt. Und in diesem Vertrauen habe ich manches in meinem Leben überstanden.

Sicherlich hat mein Glaube sich im Laufe der Jahre verändert. Von einer Haltung, die ich selbstverständlich von Eltern und Gemeindemitarbeitern übernommen habe, ist der Glaube irgendwann mein eigener geworden. Dadurch, dass ich selber die Bibel gelesen habe, dass ich manches hinterfragt habe. Auch dadurch, dass im Leben nicht immer alles glatt lief, ich durch Tiefen hindurch musste und Krisen durchlebte. Zeiten, in denen Zweifel und Fragen groß wurden. Und aus denen ich mit meinem Glauben gestärkt und reifer hervorkam.
Der Psalmbeter freut sich sehr über solche Erfahrungen mit Gott und weiß: Sein Vertrauen ist für andere ein Vorbild. Aber jetzt? Jetzt scheint alles anders zu sein. Er fühlt sich allein. Die Gegenwart Gottes, die ihm immer so wichtig war, spürt er nicht mehr. Er fühlt sich verfolgt, alt, schwach und krank. Und so fleht er: "Verwirf mich nicht in meinem Alter, verlass mich nicht, wenn ich schwach werde." (Psalm 71,9)

In meiner Gemeinde begegne ich vielen sehr unterschiedlichen alten Menschen. Menschen, die ihr Leben lang auf Gott vertraut haben - und solchen, denen er eher fern ist. Menschen, die eher danken - und solchen, die hadern und zweifeln. Und wenn im Altenheimgottesdienst viele von ihnen so vor mir sitzen, denke ich manchmal: Darunter sind sicher auch viele, die als Jugendliche und in der Zeit, als sie gearbeitet haben, Kinder groß gezogen haben, mit Gott nicht viel anfangen konnten. Und daneben sitzen die, für die ihr Leben lang das Gottvertrauen die Grundlage ihres Lebens war. Da sind Menschen, die sich auch jetzt noch an jeder Kleinigkeit freuen können - und solche, die nur jammern. Menschen, die auf andere zugehen, sie freundlich anblicken - und solche, die sich fragen: Was soll ich überhaupt noch hier? Die Menschen haben mich vergessen, mich braucht keiner - auch Gott nicht.

Aber dennoch verbindet die allermeisten eine Hoffnung: dass dieser Gott, wie nah oder fern er ihnen auch scheinen mag, sie nicht verlässt, wenn sie krank sind. Wenn die Schwäche überhandnimmt. Ja, wenn es ans Sterben geht. Es gibt Menschen, die in ihrer Krankheit und in ihrem Sterben so leiden müssen, dass ich mit ihnen gemeinsam flehe: "Gott, wo bist du? Steh diesem Menschen bei, verlass ihn nicht in Alter und Krankheit!" Und die alten Sitten und Gebräuche gewinnen für mich neue Bedeutung: Mit einem Schwerkranken noch einmal das Abendmahl zu feiern. Am Bett eines Sterbenden ihm die Hand aufzulegen, ihm den Segen Gottes zuzusprechen. Das Vaterunser oder einen Psalm mit ihm zu beten. Vertraute Liedverse zu singen. So habe ich es manchmal erlebt, dass ein Mensch, der unruhig war, auch äußerlich zur Ruhe kam, und Angehörige mir sagten: Jetzt hat er seinen Frieden gefunden. Vielleicht hat er die Gewissheit gespürt: Gott verlässt ihn nicht im Alter, in der Schwachheit. Auch nicht im Sterben. Und wenn ein Mensch so stirbt, dann trauern zwar die Angehörigen - aber in die Trauer mischt sich die Dankbarkeit. Dankbarkeit für das Leben dieses Menschen. Für das Wirken Gottes in diesem Leben. Und Dankbarkeit dafür, dass Gott das Flehen gehört hat: Verlass mich nicht!
 

Autor/-in: Pfarrerin Marion Sieker-Greb