31.10.2009 / Wort zum Tag

Psalm 42,2

Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.

Psalm 42,2

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Vieles im Leben kann man überspielen. Nicht jedes freundliche Gesicht verrät echte Freude im Herzen. So begegnen wir oft einander, ohne wirklich wahrzunehmen, was unser Gegenüber bewegt. Wir lassen uns leicht abfertigen. Auf die Frage: „Wie geht es Ihnen?“ kommt schnell als Antwort zurück: „Ganz gut!“ Doch was sich hinter dem „ganz gut!“ verbirgt, erfassen wir weithin nicht. Manchmal sind wir auch ganz froh, weil wir uns dann nicht mit den Fragen und Nöten des anderen beschäftigen müssen. Oft wollen wir uns dafür auch keine Zeit nehmen, weil uns anderes bestimmt. So geht jeder seinen Weg und der andere bleibt mit seinen Anliegen und Ängsten, Sehnsüchten und Erwartungen allein. Er flüchtet z. B. zurück in die Zeiten der Kindheit. Die geliebte Heimat spielt sich ein. Die Freunde und Bekannten rücken ins Blickfeld. Gerne möchten er noch einmal in der Vergangenheit verweilen; denn Erinnerungen an große Erlebnisse, viel Schönes und manchmal auch Außergewöhnliches stellen sich ein. Die faszinierenden Zeiten der Jugend brechen auf. Die herzliche Verbundenheit mit lieben Menschen beginnt aufzuleuchten. Gemeinschaftserlebnisse mit entsprechender Atmosphäre kommen uns ins Gedächtnis. Die Welt von damals entreißt uns dann für kurze Augenblicke den Herausforderungen im Heute. Doch dem Heute kann keiner entfliehen. Das Vergangene mag uns wesentlich bereichern und geprägt haben, aber es kehrt nicht mehr zurück. Selbst ein Sich–zurück–Versetzen macht die Vergangenheit nicht mehr zur Gegenwart.

In dieser Situation ist auch jener Beter in Psalm 42, 2. Er hat jetzt in der Fremde sein Leben anzugehen und zu gestalten. Fern der Heimat und des Tempels ist er zum Leben als Einzelner herausgefordert. Die Gottesdienste mit all den frohen Zusammenkünften, mit den erlebnisreichen Gesängen, den Tora-Lesungen, den Opfern und Gebeten im Gottesdienst, das Aufgehoben-Sein in der Gemeinschaft des Volkes Gottes, ist jetzt in weite Ferne gerückt. Er lebt wie ein Ausländer unter anderen. Doch seine Gottzugehörigkeit hat er nicht verschwiegen. Er ist als Frommer Israels bekannt geworden. So lassen ihm die Menschen in seiner Umwelt keine Ruhe. Er wird bedrängt mit der Frage: „Wo ist nun dein Gott?“ (Ps. 42, 4). Die Feindschaft des Heidentums und die Schmähungen der anderen machen ihm zu schaffen. Er soll Antwort geben und ist zutiefst in seinem Gottesverhältnis erschüttert. Alles, was über sein Leben hereingebrochen ist, macht ihm zu schaffen. Fast wird ihm der Gottesglaube zum Stress, weil er Gott in der Ferne nicht als den liebenden und helfenden Gott erkennen kann.

Aber unabhängig, wie er sich im Augenblick auch fühlt und erfährt, auch wenn er keine vertrauten Menschen um sich weiß noch Zeichen der Gegenwart Gottes entdeckt, gibt er Bisheriges nicht auf. Er resigniert nicht angesichts der neuen Situation, er schreit zu Gott. Gott ist für ihn nur noch und gerade jetzt der einzige Adressat. Weder auf Menschen noch auf irgendwelche Beziehungen setzt er sein Vertrauen. Auch sich selbst traut er nichts zu. Er hat nur noch Gott in dieser Situation, wo alles ins Wanken zu geraten scheint – und an diesem Gott hält er unbeirrbar fest.

Auch wenn sein Schreien zu Gott von anderen nicht zu hören ist, so hat es doch die Intension eines Hirsches, der auf ausgetrockneter Fläche in Laute ausbricht oder in der Brunstzeit röhrt. Wie das Begehren oder auch die Begierde einen Hirsch erfasst und die Dunkelheit durchbrüllt, so schreit die Seele dieses Frommen zu Gott. Mit letzter Kraft und Inbrunst wendet er sich zu Gott und teilt sich ihm bis in die Einzelheiten seines Lebens mit. Dabei hält er nichts zurück, sondern schreit alles heraus, was sein Innerstes kränkt und bedroht. Er tut es, weil er fest mit diesem Gott rechnet, mit seiner Treue und seiner Hilfe, auch wenn im Jetzt sich davon noch nichts zeigt. Er vertraut seinem Gott über die gegenwärtige Erfahrung von Not und Leid in der Hoffnung: Gott wird sich meiner annehmen. So sagt er es am Schluss seines Gebetsschreis: „... ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist“ (Ps. 43, 5). Er erwartet: Gott wird mich in Augenschein nehmen und sein Antlitz wird noch über mir aufstrahlen. In dieser Hoffnung hält er seinen Glauben an Gott aus und durch: Gott sieht mich einst freundlich an. Das schafft Kraft und Mut zum Durchhalten.
 

Autor/-in: Pfarrer i. R. Siegward Busat