20.06.2012 / Wort zum Tag

Psalm 30,6

Sein Zorn währet einen Augenblick und lebenslang seine Gnade. Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude.

Psalm 30,6

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In zwei kurzen Sätzen wird Gottes einzigartige Haltung bezeugt: Sein Zorn dauert einen Augenblick; sein Wohlgefallen  ein Leben lang. Das Verhältnis des Menschen zur Zeit wird im Alten Testament entscheidend bestimmt durch die Nähe des Menschen zu Gott.

Bemerkenswert ist dabei, wie hier über Gott geredet wird. Einem kleinen Augenblick des Zorns steht lebenslängliche Gnade gegenüber. Auf den ersten Blick erscheint das als Widerspruch zu dem Bild vom „lieben Gott“, so wie er heute meistens gesehen wird. Aber wenn Gott wirklich liebt, dann heißt das auch, dass er enttäuscht und zornig werden kann, denn aus Gleichgültigkeit entsteht kein Zorn, wohl aber aus Liebe. Es gibt Leute, die pflegen ihren Zorn bis zum Schluss ihres Lebens. Bei Gott können wir sicher sein: Sein Zorn ist ganz gewiss nicht so stark wie seine Liebe. Schon beim Propheten Jesaja wird vom Verhältnis Gottes zu uns gesagt: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser“ (Jes 54,7+8).

Aber das Handeln Gottes wird in diesem Psalmwort nicht nur in den großen Perspektiven gesehen, sondern hier ist auch vom ganz normalen Alltag die Rede. Es heißt: „Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude.“
Weinen gehört zu unserem Leben. Manche unserer Tränen bekommen die anderen mit. Manche werden im Verborgenen geweint. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe.

Manche unserer Tränen können andere mitweinen. Bei manchen Problemen hilft menschlicher Trost. Aber es gibt auch Tiefen, aus denen einen kein Mensch mehr rausholen kann. Da kann nur noch Gott trösten. Wo uns menschliche Worte nicht mehr erreichen, da kann uns immer noch Gott mit seinem Wort erreichen.

Auf jeden Fall hat das Weinen seine Zeit, auch im Leben eines Christen. Aber auch die Freude hat ihre Zeit. Manchmal erwächst sogar aus den Tränen ein neues Verstehen der Freude. Dann scheint auf einmal durch das Dunkel das Licht. Das, was bis eben noch ganz weit weg schien, fängt wieder an, in unserem Leben Gestalt zu gewinnen, die Hoffnung, ja sogar die Freude.

Dazu kann jeder neue Tag Gelegenheit bieten. Es gibt den schönen Satz, dass der Morgen der „Kopf des Tages“ ist, d. h. dass er vieles von dem, was heute noch passiert, bestimmt. Der Morgen ist so wie ein großes weißes Blatt Papier, das noch beschrieben werden muss. Der Morgen ist die Chance. Dabei werden wir nicht gefragt, ob uns das gefällt, was uns begegnet. Aber wir Menschen sind gefragt, ob wir uns mit allem, was wir sind und haben, vertrauensvoll Gott zuwenden wollen. Wenn ich mich so auf Gott einlasse, kann ich dorthin geraten, wo Gottes Gnade das Übergewicht hat.

Dabei darf ich wissen, dass Gott besonders denen zugetan ist, die das Gefühl haben, das dunkle Gestern reiche mit seinen Nachtschatten bis in diesen Morgen hinein. Darum gehören in die ersten Augenblicke des neuen Tages nicht eigene Pläne und Sorgen, sondern das Bewusstsein der gnädigen Nähe Gottes.

Im Sprichwort heißt es dagegen: „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“ Der Beter des 30. Psalms lehrt eine andere Weisheit. Man soll den Abend nicht ohne den Morgen sehen. Mit anderen Worten: Dass ich das Leben auf dieser Erde ohne Tränen bestehe, ist mir nirgendwo in Aussicht gestellt, aber es ist mir verheißen, dass es irgendwann ein Ende des Schreckens gibt, das gibt, was Gott für mich zuletzt beschlossen hat. Der Bürgerrechtler Martin Luther King hat einmal gesagt: „Gott kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen. Er will das dunkle Gestern in einen hellen Morgen verwandeln, zuletzt in den leuchtenden Morgen der Ewigkeit.

Was schon in diesem Leben geschehen kann, gilt umso mehr für die neue Welt Gottes. Einmal werde ich nach allen Tränen und nach der letzten Todesnacht den Morgen der Ewigkeit anbrechen sehen. Vielleicht ist das dann das Allererste, was Gott in seiner neuen Welt macht, mir die Tränen abzuwischen von meinen Augen. Dann kann ich sicher sein, dass der Morgen der Ewigkeit angebrochen ist. Jetzt noch nicht auszudenken, aber heute schon ein Anlass zu großer Freude.

Autor/-in: Pastor Udo Vach