26.11.2019 / Porträt

Polizist hinter Gittern

Erst sperrt er sie ein, dann besucht Kriminalhauptkommissar Martin Kielbassa die Straftäter im Gefängnis.

Martin Kielbassa ist Kriminalhauptkommissar. Es gehört zu seinem Job, jugendliche Straftäter einzubuchten. Doch schon früh merkt er: Arrest kann nicht die einzige Lösung sein. „Menschen wegzusperren ist keine gesellschaftliche Wiedergutmachung. Auch für die Eingesperrten bedeutet es keine Verbesserung. Das Einsperren macht den Straffälligen nicht zu einem besseren Menschen. Im Zweifelsfall macht die verwahrte Person da weiter, wo sie aufgehört hat“, beschreibt er seine Gedanken.

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Martin Kielbassa berichtet über seine Knast-Besuche im ERF Pop-Radio

Als Polizist muss sich der gläubige Christ immer wieder mit dem Thema Schuld und Gnade auseinandersetzen. Kielbassa ist überzeugt, dass Regeln notwendig sind und der Bruch dieser Regeln Konsequenzen nach sich ziehen muss. Aber schon während seiner ersten fünf Dienstjahre als Streifenpolizist möchte er mit den Straftätern ins Gespräch kommen, ihr Handeln verstehen und sie „kennenlernen“. Doch sein Job bietet ihm dazu keine Möglichkeit. Obwohl er seinen Beruf liebt, empfindet er diese Spannung zunehmend als frustrierend.

Als Polizist ins Gefängnis gehen?

Nach acht Jahren im Beruf stellt Martin Kielbassa sich die Frage: „Wie können Herz und Beruf zusammenkommen?“ Auf einer Fortbildung sieht er einen Beitrag über die Gefährdetenhilfe Scheideweg, einen Verein zur Reintegration straffällig gewordener Menschen, der Gefangenenseelsorge und Zweckbetriebe zur beruflichen Integration anbietet.
 

Kriminalhauptkommissar Martin Kielbassa (Foto: privat)

Dieser Filmbeitrag wirft bei ihm eine Reihe von Fragen auf. „Ich musste mit Jesus darüber sprechen. Das war fast wie ein Streit. Das ist mir richtig tief ins Herz gegangen“, erzählt er heute. Verschiedene widerstreitende Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Da sind zum einen die Gefangenen: „Wie werden sie mich – einen Polizisten – behandeln? Werden sie mich ernst nehmen? Können die mir überhaupt vertrauen? Was, wenn ich jemandem begegne, den ich selbst verhaftet habe?“

Andererseits ist kaum jemand besser qualifiziert als Martin Kielbassa. Er kennt sich aus im Milieu. Teilweise kennt er Hintergrundgeschichten und Beweggründe der Gefangenen. Er weiß genau, wo die Insassen ansetzen müssen, um den Ausstieg aus dem Teufelskreis von Perspektivlosigkeit und Kriminalität zu schaffen. Und als Polizist ist er eine natürliche Autoritäts- und Respektsperson.

Herz und Beruf zusammenbringen

Die Gefangenen sind aber nur die eine Seite der Medaille. Was werden seine Kollegen sagen, wenn er nach Dienstschluss Gefangene besucht, die er und seine Kollegen verhaftet haben? Wird er dadurch Respekt und Achtung verlieren? Werden die Kollegen ihn belächeln oder sogar meiden? Bekommt er vielleicht sogar berufliche Probleme, wenn er sich in seiner Freizeit für die Resozialisierung von Straftätern einsetzt?

Je länger Martin Kielbassa darüber nachdenkt, desto klarer wird ihm, dass nicht die Meinung der anderen für seine Entscheidung maßgeblich ist. Straffällig gewordenen Menschen zu helfen entspricht seinem tiefsten Wunsch. Es ist ihm wichtiger, Herz und Beruf zusammenzubringen, als Zustimmung für seine Entscheidung zu erhalten.

Dennoch spricht er mit seiner Frau darüber. Sie ermutigt ihn, bei der Gefährdetenhilfe vorbeizuschauen. Doch vor dem geplanten Urlaub wird das nichts mehr. Während des Aufenthalts in der Bretagne gerät er auf dem Campingplatz mit einem Mann aneinander. Es kommt fast zu einem Streit. Später stellt sich heraus: Dieser Mann hat im Gefängnis Jesus und die Gefährdetenhilfe kennengelernt. „Das war für mich kein Zufall, sondern ein Geschenk Gottes. Mir war sofort klar: Gott hat mich auf ein Arbeitsfeld geschickt. Das war meine Berufung“, erzählt Martin Kielbassa.

„Ich gehe als Christ ins Gefängnis, nicht als Polizist“

Nach dem Urlaub besucht Martin Kielbassa zum ersten Mal die Gefährdetenhilfe Scheideweg. In den nächsten Monaten macht er dort  eine Fortbildung zum ehrenamtlichen Straffälligenhelfer. Als sich 1993 in der Jugendvollzugsanstalt (JVA) Bochum eine sogenannte Kontaktgruppe gründet, wird er gefragt, ob er nicht mitmachen will. Schnell zeigt sich, dass seine Ängste und Befürchtungen unbegründet sind. Auch wenn er in der JVA als „der Bulle aus Essen“ bezeichnet wird, vertrauen die Insassen dem Kriminalhauptkommissar. „Manche Gefangene reagieren zuerst unwirsch, aber durch ein Gespräch klärt sich das meistens“, erzählt er. Totale Ablehnung hat er bis heute nicht erlebt. Seiner Erfahrung nach ist sogar eher das Gegenteil der Fall.

Erst vor kurzem hatte er mit einem 25-jährigen Rechtsradikalen zu tun: „Der junge Mann hatte ein Tattoo mit dem Schriftzug ACAB (Abkürzung für ,All Cops are bastards‘, Übersetzung ,Alle Polizisten sind Bastarde‘) und eine Glatze. Da standen mir anfangs die Haare zu Berge, mittlerweile sind wir befreundet“, berichtet Martin Kielbassa.

Eins ist ihm wichtig:

Wenn ich ins Gefängnis gehe, dann als Christ und Mensch – nicht als Polizist. Ich will die Gefängnismauern überwinden, Mut machen und Perspektiven aus Gottes Wort aufzeigen. – Martin Kielbassa

© privat - Kontaktgruppe Bochum der Gefährdetenhilfe

© privat - Martin Kielbassa mit einem Häftling

© privat - Veranstaltung der Kontaktgruppe im Gefängnis

Mitgefühl mit Strafgefangenen entwickeln

Kriminalhauptkommissar Martin Kielbassa im Gespräch mit einem Strafgefangenen (Foto: privat)

Obwohl er es könnte, schaut Martin Kielbassa sich keine Kriminalakten der Insassen an. „Ich will zuerst einmal den Menschen vor mir sehen“, begründet er diese Entscheidung. Ehrenamt und Job sollen sich nicht vermischen. Trotzdem erfährt er von den Tätern häufig, was sie getan haben. Das ist manchmal eine große Herausforderung – gerade wenn es sich um Pädophilie-Fälle oder Sexualstraftäter handelt. Manche Täter und deren Taten lösen in ihm Abneigung aus. Trotzdem ist er fest überzeugt: „Gott liebt jeden Menschen. Das gilt natürlich nicht für ihre Taten.“

Während seiner Gefängnisarbeit macht er eine Erfahrung, die seinen Umgang mit manchen Straftätern verändert. „Viele Sexualstraftäter haben eine Fehlfunktion und leiden wie ein Hund darunter. Ich habe einmal einen Christen kennengelernt, der Exhibitionist ist. Dieser Mann leidet extrem darunter. Er weiß, dass er es wieder tun wird, und geht daran zugrunde, weil er es nicht abstellen kann. Für den habe ich richtig Mitgefühl entwickelt“, erzählt Martin Kielbassa. Manchmal weint er sogar mit den Insassen.

Die Erkenntnisse aus dem Ehrenamt fließen in die Polizeiarbeit mit ein

Mittlerweile ist der „Bulle aus Essen“ bei den Straftätern bekannt und beliebt. Sie schätzen an ihm besonders, dass er authentisch ist, fromme Grundsätze in Frage stellt und trotz der Ungerechtigkeiten ins Gefängnis geht. Nicht nur die Insassen schätzen das Angebot der Gefährdetenhilfe. Auch die JVA hat ihre Einstellung gegenüber dem Verein verändert: „Früher galt die Kontaktgruppe als lästiges Übel. Wir hatten oft das Gefühl unerwünscht zu sein. Heute sind die Mitarbeiter gern gesehene Gäste und unsere Arbeit wird als wertvoll erachtet. Das steht sogar in den Leitlinien für den Strafvollzug in NRW“, berichtet Martin Kielbassa .

Doch damit nicht genug. Seine Erfahrungen aus der Gefängnisarbeit kann er auch in den beruflichen Alltag einfließen lassen. Nach acht Jahren in der Abteilung für Brand- und Sprengstoffdelikte wechselte er für fünf Jahre in die Abteilung für Sexualdelikte. Als die Kriminalpolizei Essen 2008 eine Abteilung für jugendliche Intensiv- bzw. Mehrfachtäter ins Leben rufen will, ist Martin Kielbassa begeistert. Er meldet sich und wird auf Anhieb stellvertretender Leiter der „Ermittlungsgruppe Jugend“.

Bei der Arbeit kann er die in der Gefährdetenhilfe gesammelten Erfahrungen verwenden, um ein neues Konzept für die Bekämpfung von Jugendkriminalität zu erstellen. In der Ermittlungsgruppe werden gezielt Polizei- und Sozialarbeit verbunden. Besonders auffällige Jugendliche werden von Polizisten aufwändig „betreut“. Die Beamten nehmen mit den Jugendlichen regelmäßig Kontakt auf und sprechen über aktuelle Probleme. Zudem tauschen sie sich immer wieder mit den Lehrern der Jugendlichen aus.

„Das täterbezogene Arbeiten ist sehr erfolgreich“

„Die Idee hinter dem Konzept ist, die 12- bis 20-jährigen Wiederholungstäter aus ihrem kriminellen Umfeld zu holen, sie in die Schule zu schicken, zu beobachten und ihr soziales Umfeld zu kontrollieren“, so Martin Kielbassa. Er legt Wert darauf, dass die Jugendlichen Anerkennung erfahren.

Trotz der intensiven Betreuung gibt es aber immer wieder Rückschläge. „Manchmal ist die Arbeit sehr schmerzhaft. Gerade die Rückschläge mancher Jugendlicher tun sehr weh“, erzählt Martin Kielbassa. In den rund acht Jahren Dienstzeit in der „Ermittlungsgruppe Jugend“ sind zwei Jugendliche verstorben. „Das ist mir sehr nahe gegangen“, beschreibt der Kriminalhauptkommissar seine Gefühle.

Trotzdem ist Martin Kielbassa – mittlerweile Leiter der EG Jugend – von dieser Art der Polizeiarbeit überzeugt. Und das mit gutem Recht. Denn das aufwendige, täterbezogene Arbeiten ist sehr erfolgreich. Ein Drittel der Jugendlichen bleibt aufgrund der engen Betreuung komplett straffrei. Firat* ist dafür ein Beispiel.

Martin Kielbassa entschärft eine „tickende Zeitbombe“

Nach einer schwierigen Kindheit in Deutschland und Iran wird er schon mit vierzehn straffällig. Mit sechzehn verübt er innerhalb von zwei Wochen vier Raubüberfälle. Die Ermittlungsgruppe Jugend nimmt ihn fest. Es folgen ein halbes Jahr Untersuchungshaft, eine zweijährige Bewährungsstrafe und eine Auflage von 150 Arbeitsstunden.

Trotz eines Antiaggressionstrainings sticht er bei einer Party auf einen Menschen ein und verletzt diesen lebensgefährlich. Er wandert ins Gefängnis und gilt nach seiner Entlassung als „hoffnungsloser Fall“ und „tickende Zeitbombe“. Ab da kümmert sich Martin Kielbassa um den Jugendlichen. Trotz intensivem Bemühens gelingt es dem Beamten zunächst nicht, eine Vertrauensbasis oder näheren Bezug zu Firat herzustellen. Für Firat ist er „Polizist und Feind“.

Doch Martin Kielbassa gibt nicht auf. Erst nach Monaten und der Vermittlung eines Schulplatzes an der Volkshochschule wächst das Vertrauen: „Er hat mich immer mehr als Respektperson und Ratgeber geachtet.“ Firat geht regelmäßig zur Schule, seine schulischen Leistungen sind gut und er arbeitet aktiv an der Veränderung mit.

Aus der sachlichen „Zweckbeziehung“ wird eine echte zwischenmenschliche Beziehung. Immer häufiger bittet Firat Martin Kielbassa auch in persönlichen Angelegenheiten um Rat. Er nimmt sich vor, straffrei zu bleiben – und schafft es. Nach über einem Jahr wird er erfolgreich aus dem Programm der Ermittlungsgruppe Jugend entlassen und ist seither nicht mehr polizeilich auffällig geworden.

Martin Kielbassa blickt dankbar auf die letzten Jahre zurück. Das ehrenamtliche Engagement hat sich auf seinen beruflichen Weg ausgeweitet. Der Leitsatz seines ehemaligen Polizeipräsidenten Michael Dybowski hat sich ihm eingeprägt:

Wo der Polizist nur einen hoffnungslosen Fall sieht, wird der Christ noch ein Geschöpf Gottes und einen Mitmenschen erkennen. Wo Gesetz und Recht enden, werden vielleicht die christliche Liebe und Barmherzigkeit weiterführen.


 (*Name geändert)

Autor/-in: Claas Kaeseler

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