27.04.2015 / Wort zum Tag

Philipper 3,13-14

"Paulus schreibt: Ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus."

Philipper 3,13-14

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Im „Wort zum Tag“ räumt Paulus ein, dass er eine Sache noch nicht ergriffen hat. Wenn wir die vorhergehenden Verse lesen, sehen wir, was er mit „es“ meint: Er will zur Auferstehung der Toten gelangen und vollkommen sein. Das hat er zwar noch nicht ergriffen, aber er streckt sich eifrig danach aus.

Im Zusammenhang mit biblischen Aussagen dieser Art habe ich in meinem Theologiestudium ein schönes Fremdwort kennengelernt. Hier spricht man vom „eschatologischen Vorbehalt“. „τὰ ἔσχατα“ sind „die letzten Dinge“. In der Eschatologie geht es um den Anbruch einer neuen Welt. Der eschatologische Vorbehalt besagt, dass wir unterwegs sind und das Ziel noch nicht erreicht haben. Wir leben gleichzeitig im „Schon-Jetzt“ und im „Noch-Nicht“. Das Reich Gottes hat mit Jesus angefangen. Als Christen dürfen wir bei seiner Ausbreitung mitwirken. Die Vollendung seines Reiches ist aber Gott vorbehalten. Damit wird uns Menschen der Druck zur Perfektion und zur Vollendung abgenommen, denn daran würden wir verzweifeln.

Zum eschatologischen Vorbehalt gehört auch, dass wir uns unseres Glaubens gewiss sein dürfen. Wir müssen aber gleichzeitig bescheiden genug sein und zugeben, dass wir dafür keine Beweise haben.

Ich hatte schon oft Gespräche mit einem Physiker, der Atheist ist. Ich räume ihm gegenüber jeweils ein, dass seine atheistische Anschauung in sich geschlossen und konsequent ist. Es ist denkbar, dass er recht hat, und es tatsächlich keinen Gott gibt. Es ist möglich, dass all meine Gotteserfahrungen entweder Zufälle oder innerpsychische Ereignisse sind.

Er räumt auch mir gegenüber ein, dass ich möglicherweise recht habe, und es tatsächlich einen Gott gibt. Er ist bescheiden genug zuzugeben, dass es für seinen Atheismus keine Beweise gibt.

Schade, dass nicht alle Atheisten diese Bescheidenheit aufbringen und ihre Anschauung für nicht zwingend halten. Als es die DDR noch gab, wurde den Jugendlichen der sogenannte „wissenschaftliche Atheismus“ eingeimpft. Ein zehnjähriger Junge wurde bei einer Umfrage gefragt, ob er an Gott glaube. Die Antwort war: „Nö, ich bin doch nicht abergläubisch.“

Paulus ist feuriger Christ. Dennoch lebt er mit dem eschatologischen Vorbehalt: „Nicht dass ich es schon ergriffen hätte.“ Das ist bei ihm aber nicht etwa eine Ausflucht in die Passivität, im Gegenteil. Die Hoffnung auf die Vollendung durch Gott führt beim ihm zu einer aktiven Haltung: er arbeitet auf dieses Ziel hin. Wie ein Sportler sich lange zum Voraus auf die Olympischen Spiele vorbereitet, so richtet er sein ganzes Leben darauf aus, Menschen für die Nachfolge von Jesus Christus zu gewinnen. Den Korinthern schreibt Paulus: „Auf Hoffnung hin soll pflügen, wer pflügt, und wer drischt, tue es in der Hoffnung, teilzuhaben am Ertrag.“ Paulus lädt uns ein, fröhlich auf Hoffnung hin zu arbeiten, uns einzusetzen, auch wenn vieles unvollendet und unvollkommen bleiben wird.

Ich habe den Eindruck, dass manche theologische Auseinandersetzung an Schärfe verlieren würde, wenn uns der eschatologische Vorbehalt bewusster wäre. So manches wissen wir ganz einfach nicht. Und wir brauchen es auch nicht zu wissen. Die Mitte unseres Glaubens ist nicht das Wissen, sondern die Person Jesus Christus. Auf IHN hin leben wir.

Autor/-in: Pfarrer Alexander Nussbaumer