12.01.2022 / Zum Schwerpunktthema

Mut fühlt sich nicht mutig an

Ist es mutig, noch einmal ganz neu anzufangen? Sicher. Und doch hat Christiane Gabriel erlebt: Mutig finden das erst mal die anderen.

Ich würde mich nicht als mutigen Menschen bezeichnen. Spontan, ja. Flexibel, ja. Vielleicht ein bisschen verrückt. Aber mutig? Im letzten Jahr war es aber genau dieses Wort, das zu uns als Familie und mir persönlich oft gesagt wurde. Und ich frage mich immer wieder: Was hat mich und meine Familie wirklich an den Ort gebracht, wo wir heute sind? Waren wir mutig – oder waren wir gehorsam, gemischt mit einer Sehnsucht, neue Wege zu gehen?

Es ist der 17. Januar 2021. Ich sitze im Sessel im Wohnzimmer. Die Kinder schlafen endlich und ich schaue unter anderem in meine E-Mails. Eine Nachricht vom Freitag zuvor hatte ich noch nicht bemerkt: Es war die Anfrage, ob ich mir vorstellen könne, im Fundraising beim ERF einzusteigen.

Mein Kopf überschlug sich förmlich. Wir waren gerade vom Gottesdienst nach Hause gekommen. Gedanklich war ich zwischendurch abgeschweift und hatte mir Gedanken über meine berufliche Zukunft gemacht. Es war mein Wunsch, wieder in einer christlichen Organisation zu arbeiten. Aus irgendeinem Grund blieb ich in Richtung Marburg oder Gießen hängen. Doch ich schob die Gedanken beiseite. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt eine 450 Euro-Stelle, mein Mann Jona war in einer unbefristeten Anstellung.

Mutig – oder einfach offen für Neues?

Nach diesem Abend kam einiges ins Rollen. Die Pläne nahmen schnell an Fahrt auf, ich bewarb mich, hatte zwei Gespräche – und Anfang Februar war klar, dass ich ab Mai die Stelle beim ERF antreten würde. Vollzeit. Mit zwei kleinen Kindern. 160 Kilometer entfernt. Mit einem Ehemann, der bereit war, in Elternzeit zu gehen.

Einige Türen öffneten sich: Trotz des geringen Wohnungsangebots vor Ort hatten wir am Ende eine Auswahl von mindestens vier Wohnungen. Jona konnte unkompliziert seine Stelle kündigen und wir hielten uns an das, was wir zu Beginn unserer Ehe besprochen hatten: Der Mann muss nicht zwangsläufig für den Hauptverdienst der Familie zuständig sein. Wir wollten offen sein und die Rollen tauschen, wenn es sich ergab. Ob wir wirklich damit gerechnet hatten, weiß ich nicht genau. Doch als es so weit war, hat uns diese Absprache einiges erleichtert.

Zu Beginn haben wir nur wenige Menschen in unsere Überlegungen einbezogen. Wir wollten für uns und um Klarheit beten. Dann informierten wir unsere Familien und Freunde. Neben der Trauer, dass wir wegziehen würden, erlebten wir viele positive Reaktionen. Eine davon stach heraus und wiederholte sich oft: „Ihr seid echt mutig, dass ihr das macht. Dass ihr die Rollen tauscht, wegzieht und neu anfangt!“

Mutig – ohne davon zu wissen

Mutig. An diesem Wort blieb ich immer wieder hängen. Wir selbst fühlten uns nicht mutig. Wir gingen den Weg, der sich immer klarer vor uns abzeichnete. Im Vertrauen, dass Gott dabei ist. Wir machten uns aber auch Gedanken. Vor allem, ob dieser Weg gut war für unsere Kinder. Dieser Wechsel von Mama als Hauptbezugsperson, hin zu Papa. Die Entfernung zu den Großeltern, die sie bis dato wöchentlich sehen konnten. Das Entwurzeln aus dem Kindergarten für die Große. Manchmal zerbrach es mir bei dem Gedanken fast das Herz. Von Mut keine Spur. Aber wir gingen den Weg weiter – und merkten: Gott sieht diese Ängste und Bedürfnisse. Er schenkte uns die Gewissheit, dass er alle Familienmitglieder im Blick hat.

Nach dem Start beim ERF kam ich mit Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch. Auch dort hörte ich immer wieder Sätze wie „Ihr seid echt mutig!“ oder „Ich feiere dich dafür, dass du diesen Weg gehst.“ Etwas musste dran sein. Waren wir mutig und wussten es nicht?

Mutig – auch wenn es sich nicht so anfühlt

Es ist genau dieser Gedanke, den Caroline Krein auf ihrem Instagram-Profil (@caroline.krein) Anfang Mai 2021 auf den Punkt brachte. Sie sagte dort: „Ist dir schonmal aufgefallen, dass es das Gefühl von Mut nicht für einen selbst gibt? Man empfindet nur das, was ein anderer tut als mutig.“

Dieser Gedanke sprach in mein Herz. Sie schrieb weiter: „Du wirst immer das am Anderen mutig finden, was dir entweder selbst Angst machen würde oder was du selbst total gerne machen würdest. Oder beides.“ Caroline drückte genau das aus, was ich nicht greifen konnte: Ich selbst empfand uns nicht sonderlich als mutig. Trotzdem haben andere unser Handeln als mutig empfunden. Mut entsteht im Auge des Betrachters. Es gehört wohl zur Natur des Mutes, dass er sich von innen anders anfühlt als von außen.

Das heißt im Umkehrschluss: Ich kann mutig handeln, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Ich muss nicht warten, bis der Mut kommt oder bis es sich mutig anfühlt. Ich freue mich also seitdem über jedes „Das ist aber mutig“ das mir andere Menschen zusprechen. Meinen Weg gehe ich so oder so. Mit meiner Familie. Mit Gott. Und vielleicht ein wenig mutiger als zuvor.
 

Christiane Gabriel lebt mit ihrer Familie seit Mitte 2021 in Wetzlar. Sie ist Dipl. Betriebswirtin (BA), leitet den Bereich Spender-Betreuung und sieht das Leben gern von der positiven Seite. Andere halten das für mutig.
 

Autor/-in: Christiane Gabriel

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