22.09.2022 / Wort zum Tag

Michael

HERR, wer ist wie du? Mächtig bist du, HERR, und deine Treue ist um dich her.

Psalm 89,9

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„Michael!“ - Nach wie vor ein beliebter Name in Deutschland. Wer ihn nennt, zitiert in etwa den ersten Teil der heutigen Losung der Herrnhuter Brüdergemeine: „Wer ist wie Gott!?“ Daraus höre ich Staunen, Dankbarkeit, Anbetung und ganz verstohlen vielleicht auch eine echte Frage oder sogar einen Anflug von Zweifel. „Herr, Gott Zebaoth, Herr der himmlischen Heerscharen, wer ist wie du?“ Doch von Zweifeln scheint der Psalmbeter zunächst nichts zu wissen. Er rühmt Gottes Macht und Treue. Er staunt über Gottes Gnade, er dankt für den ewigen Bund, den er mit König David schloss. Er betet den an, der Himmel und Erde erschaffen hat, Wolken und Meere beherrscht, mit Recht und Gerechtigkeit regiert.

„Michael!“ - Doch so selten, wie Menschen das meinen, wenn sie diesen Namen heute aussprechen, so selten kommt es vielen Zeitgenossen wohl überhaupt in den Sinn, Gottes Macht und Treue so zu rühmen. Davor schieben sich andere Gedanken: „Gott? Gibt es den überhaupt? Und wenn ja: Warum lässt er so viel Leid und Unrecht zu?“

Michael - den Namen mag man schön finden oder auch nicht. Aber das, was er aussagt, ist für viele Menschen nur noch ein Gedanke aus vergangenen Zeiten, ganz weit weg, ohne Bezug zu ihrem Leben hier und jetzt.

Ist das eigentlich angemessen? Es ist richtig, dem Psalmbeter war die Existenz Gottes ganz offensichtlich keine Frage. Aber das bedeutet nicht, dass er mit frommen Scheuklappen durch sein Leben lief. Der Psalm nimmt nämlich in seinen letzten Versen eine überraschende Wende. Nach einer langen Gottesrede, die die ewige Erwählung des Königs David bekräftigt, bricht plötzlich die bittere Erkenntnis durch: „Und doch hast du David fallen lassen und verstoßen! Du bist zornig geworden auf den König, den du doch selber eingesetzt hast.“ Aus dem Staunen über Gottes Gnade wird die bittere Frage, wie lange Gottes Zorn noch währen wird. Aus dem Dank für den Bund, den Gott doch für alle Zeit und Ewigkeit mit David schloss, wird die Anklage Gottes, dass er den Bund widerrufen und die Königskrone in den Schmutz geworfen hat. Aus der Anbetung der Macht des Schöpfers wird ein Klagelied über die Vergänglichkeit aller Menschen.

Ja, im allerletzten Vers kehrt der Beter zurück zum Lob Gottes: „Der Herr sei für alle Zeiten gepriesen! Amen, so soll es sein!“ Aber der tiefe Widerspruch zwischen der staunenden Frage: „Wer ist wie Gott?“ und den zweifelnden Fragen: „Herr, warum?“ und „Herr, wie lange noch?“, dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst. Beide Gedanken bleiben unverbunden nebeneinanderstehen. Das auszuhalten gehört wohl zu einem echten und ungeheuchelten Glauben. Für den Psalmbeter bleibt das Lob Gottes zuletzt nur ein Hoffnungsfunke, dass Gott in seiner Macht und Treue letztlich doch siegen wird.

Und gerade auf diese Weise wird dieser Psalm zu einem Hinweis auf den Sohn Davids, auf Jesus. Nun erhält der Bund Gottes mit den Menschen eine ganz neue Qualität. Jesus gibt auf die staunende, dankbare und anbetende Frage eine endgültige Antwort: Wer ist wie Gott? Jesus Christus! Durch Jesus kommt die Gnade ans Ziel. Durch Jesus schließt Gott einen ewigen Bund mit allen, die an ihn glauben. Durch Jesus werden Recht und Gerechtigkeit einmal für immer herrschen. „Amen, so soll es sein!“

Autor/-in: Pfarrer Jens Brakensiek