31.08.2011 / Gesellschaft

Mein Vater und ich: zwischen Krieg und Frieden

Wenn ein angespanntes Vater-Sohn-Verhältnis explodiert, geht nicht nur Geschirr zu Bruch. Vom langen Weg zur Vergebung.

„Klirr!“ Es war ein unvergessliches Geräusch – schräg, schrill und schmerzhaft. Der Teller, der eben noch zum Essen benutzt worden war, lag nun in Tausend Scherben zerbrochen auf den Fliesen des Esszimmers. Ein leidenschaftliches Bild der Zerstörung. Doch noch viel zerstörerischer war der Gesichtsausdruck meines Vaters, der mich mit wutverzerrter Fratze anschrie. Er sagte irgendetwas von Pflichten und Verantwortung. Er belehrte mich über Dinge, die ihm wichtig waren und die ich falsch gemacht hätte. Das meistbenutzte Wort seiner Rede: „Ich.“

Ich selbst, der Sohn, erinnere mich nicht mehr an viele Dinge dieses Abends. Nur das Klirren des Tellers hat sich tief in meine Seele eingebrannt. Denn in jenem Moment ist auch in mir etwas zerbrochen.

Kleiner Schnitt, große Wirkung

Nach seinem cholerischen Ausbruch floh mein Vater ins innere Exil vor den Fernseher. Es blieb an mir hängen, die Trümmer des Tellers aufzufegen. Ich tat es mit zwanghafter Akribie. Sie wanderten alle in die große Mülltonne. Doch beim Kehren war ich noch stark emotionsgeladen. Deshalb schnitt ich mir an einer scharfen Kante in den Finger: nicht tief, aber blutig.

Die von meinem Blut geweihte Scherbe des zerbrochenen Tellers sollte mein Andenken, mein Symbol, mein Heiligtum werden. Ich nahm sie mit in mein Zimmer und klebte sie an meine Pinnwand – genau vor meine Augen. Ich wollte sie immer vor mir haben, wollte nie vergessen, was passiert ist.

Niemals so werden, wie er

Vielleicht war das der Tag, an dem ich beschloss, nie so zu werden, wie mein Vater. Es gab für mich nur eine Lösung: Rebellion. Was mein Vater auch machte, was ihm auch immer wichtig war, ich lehnte es ab. Aus voller Überzeugung, von ganzem Herzen und aus Trotz. Ich bin nicht zur Bundeswehr gegangen, weil er es gerne so gehabt hätte. Ich habe kein naturwissenschaftliches Fach studiert, weil ihm das gefallen hätte. Ich habe mir zunächst keine Frau fürs Leben gesucht, weil er das von mir erwartet hätte.

Mein Vater hatte für mich versagt. Absolut. Er war seiner liebenden Vaterrolle nicht gerecht geworden, er hatte seine eigene Inkompetenz offenbart. Aber ich hasste ihn deswegen nicht. Mir tat er leid. Ich tat mir leid.

Choleriker und Workaholic

Aber ich konnte nicht vergeben. Ich konnte nur beschließen, es selbst besser zu machen. Also habe ich es versucht und versucht und wieder versucht. Doch nach einigen Jahren des Selbstbetrugs musste ich mir selbst eingestehen, dass ich kein moralisch besserer Mensch bin als mein Vater. Meine Abgründe sind nur nicht ganz dieselben. Ich bin kein Choleriker. Ich bin auch kein Workaholic. Aber ich kämpfe zuweilen ebenfalls mit mangelnder Empathie und unzureichender Selbstannahme – genauso wie mein Vater.

Erkenntnisse nach dem Auszug

Mein Plan mit der Scherbe ging nicht auf, denn ich zog aus. Die Scherbe hing immer noch an der Pinnwand, sie war aber aus meinem Sinn, weil ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich lernte viele andere junge Männer kennen, die Probleme mit ihren Vätern hatten. Die Geschichten waren unterschiedlich, die Moral ähnlich: Entweder war der Vater nicht da oder sie wurden von ihren Vätern zutiefst enttäuscht. Der eigene Vater als Vorbild? Das hat mir niemand erzählt.

Trotzdem habe ich erkannt, dass ich nicht alleine bin und dass meine Geschichte nicht einmal besonders dramatisch ist. Solche Dinge passieren in diesem Land tagtäglich. Wieso strengt es mich dann bis heute an, über meine Beziehung zu meinem Vater nachzudenken?

Ich schreibe weiter

Weil es meine Geschichte ist. Und deshalb kann ich sie auch weiterschreiben. Ich muss nicht an der Scherbenerinnerung hängen, kleben und deswegen blockiert bleiben. Das habe ich vor Jahren in einem besonders guten Gespräch mit meinem Bruder erkannt. Und das lag nicht am Alkohol, den wir dabei getrunken hatten. Es lag an der Erkenntnis der Gemeinsamkeit. Zwei Leidensgenossen, die dasselbe Ruder auf der Galeere bedienen, wissen irgendwann, dass sie sich helfen können.

Der Weg der Vergebung

Als ersten Schritt habe ich die Scherbe weggeworfen. Das war mein Symbol der Vergebung. Ich habe nichts vergessen, aber ich habe angefangen, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen.

Damit fängt die Vergebung an – mit dem Blick von sich weg.

Es ist nicht so gewesen, dass mein Vater seine Beziehung zu mir am Abend des jüngsten Geschirrs ein für alle Mal zerstören wollte. Es war nicht einmal so, dass er einen besonderen Hass auf mich gehabt hätte. Vielmehr war er gestresst, frustriert und wütend. Und er hat sein Ventil aufgemacht, den Druck abgelassen. Sein Opfer: Ich.

Ich will sein Verhalten nicht entschuldigen, ich will es auch nicht unbedingt relativieren, aber ich will versuchen, die Dinge objektiver zu beurteilen. Denn damit fängt die Vergebung an – mit dem Blick von sich weg.

Bruder, Freunde, Christen

Ergänzend zu meinen eigenen Gedanken über die gestörte Vaterbeziehung habe ich auch den Rat anderer eingeholt. Ich habe meine Geschichte erzählt. Nicht nur meinem Bruder, auch Freunden oder anderen Christen. Alle waren immer sehr nett. Alle haben mir Mut gemacht, weiter zu gehen. Alle haben mir empfohlen, die Sache an Jesus abzugeben. Seitdem rede ich mit Gott darüber. Ich muss gestehen, ich könnte es wohl öfter machen. Aber ich bleibe dran.

Langsam veränderte sich meine Grundhaltung. Wenn ich mit meinem Vater gesprochen habe, fiel die frühere Verkrampfung immer öfter von mir ab. Ich entspannte mich. Teilweise lachten wir sogar zusammen.

Wie der Vater, so der Sohn

Außerdem merkte ich, wie sehr ich meinem Vater ähnele. Ich mag die gleiche Musik, mich faszinieren dieselben Hobbys und ich teile seine Lebenseinstellungen. Wenn ich ein Video drehe, erinnere ich mich selbst dabei immer an meinen Vater, der von seinem Urlaub auf Teneriffa berichtet. Eigenartigerweise kann ich meinen Vater in vielen Situationen gut verstehen, denn er ist kein guter Schauspieler. Vielleicht bin ich ihm dabei etwas voraus.

Meine Analysen und Vergleiche haben mich anfangs verärgert, dann verwundert, schließlich erstaunt. Und eines wurde mir dabei immer klarer: Ich liebe meinen Vater.

Plumpe Fluchtversuche

Alle meine Versuche, zu rebellieren, waren letztlich nur plumpe Fluchtversuche. Ich wollte meinen eigenen Gefühlen entfliehen, damit sie nicht wieder verletzt werden. Doch auf lange Sicht hat das keinen Erfolg. Ich liebe also meinen Vater. Deswegen zeige ich es ihm jetzt auch wieder. Ich überlege, was ihn freuen könnte. Setze mich ein dafür, dass es ihm gut geht. Ich rufe ihn an und schreibe ihm Postkarten. Und ich höre die Musik, die wir beide so gerne mögen.

Das sind wichtige Entscheidungen, wichtige Schritte und meiner Meinung nach der richtige Weg.

Alle meine Versuche, zu rebellieren, waren letztlich nur plumpe Fluchtversuche. Ich wollte meinen eigenen Gefühlen entfliehen, damit sie nicht wieder verletzt werden. Doch auf lange Sicht hat das keinen Erfolg.

Happy End?

Doch ist der Weg damit zu Ende und hat die Geschichte ein Happy End? Die Scherbe ist schließlich entsorgt, die Vergebung nahe, die Liebe erkannt. Nein, es geht weiter, denn all das habe ich meinem Vater noch nie gesagt. Ich habe es vor. Irgendwann, irgendwo, irgendwie. Und ich bete, dass er vorher nicht stirbt.
 

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