03.09.2024 / Buchrezension

Mehr als ein Zellhaufen

Sabina Scherer zeigt in ihrem Buch, wie wir konstruktiv über Abtreibung sprechen können.

Abtreibung ist ein heiß diskutiertes Thema. Es ist zutiefst intim und gleichzeitig hochpolitisch. Wer sich auf ein Gespräch über Abtreibung einlässt, muss sich entweder für „Pro Life“ oder „Pro Choice“ entscheiden. So scheint es zumindest.

Diese Entscheidung wurde mir abgenommen, als ich circa 12 Jahre alt war. Eine Freundin lud mich in eine Ausstellung ein, ohne mir zu verraten, was mich dort erwartete. Ich erinnere mich an einzelne Stationen, die eine Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählten.

Auf der Reise durch die Ausstellung wurde mir langsam klar, dass es sich um die Entwicklung eines Menschen vor seiner Geburt handelt. Ein ungeborenes Kind erzählte mir davon, wann sein Herz zum ersten Mal schlägt, wann die Organe sich bilden und die Gesichtszüge sich formen.

Mit jeder neuen Entwicklungsphase stieg in mir die Vorfreude. Ich war fasziniert, die Entwicklung im Mutterleib so detailliert und gut auserzählt verfolgen zu können. Endlich bemerkte auch die Mutter, dass sie schwanger geworden war. Doch anstatt sich zu freuen war diese Neuigkeit ein großer Schock für sie.

Gerade als die Organe und das Gehirn des Kindes funktionierten, es alle äußerlichen Merkmale eines Menschen hatte und im Mutterleib aktiv wurde, fiel die Entscheidung, dass diesem jungen Leben ein Ende gemacht werden soll.

Diese Ausstellung und ihre einseitige Behandlung der Thematik haben mich damals sehr beschäftigt und bis heute meinen Blick auf das Thema Abtreibung geprägt.

Nichtsdestotrotz darf es nicht bei einer einseitigen Annäherung an das Thema bleiben. In ihrem Buch „Mehr als ein Zellhaufen“ verspricht Sabina M. M. Scherer einen konstruktiven Blick auf das Thema Lebensschutz.

Wenn nicht ich, wer dann?

In ihrem persönlichen Vorwort schreibt Sabina Scherer, dass das Thema Lebensschutz bereits in ihrer Familie zentral war. Scherer war schon immer der festen Überzeugung, dass jedes Leben bedingungslos schützenswert ist.

Als sie selbst ihr erstes Kind erwartet, befasst sie sich intensiver mit dem ungeborenen Leben. Auf der Suche nach einem Podcast zum Thema Abtreibung wird sie nur in der englischsprachigen Welt fündig. Nach der Geburt ist sie neu vom Thema Lebensschutz berührt. Kurzerhand liest sie sich selbst in das Thema ein und beginnt im Januar 2021 ihren Podcast „Ein Zellhaufen spricht über Abtreibung“.

Dass sie damit in eine umstrittene Debatte einsteigt, ist Scherer bewusst. Ihr gefällt nicht, wie dieser Diskurs bislang in der Öffentlichkeit geführt wird. Vor allem mit den Repräsentanten der „Pro Life“-Bewegung, zu denen Scherer sich selbst zählt, konnte sie sich vielfach nicht identifizieren. Dennoch mischt sie sich jetzt ein.

Scherer sieht es als ihre Verantwortung, nicht nur über Lebensschutz zu sprechen, sondern diesen Diskurs auch konstruktiv, empathisch und mit Respekt zu führen. Das zeigt auch der Titel ihres Buches „Mehr als ein Zellhaufen – Wie wir konstruktiv über Abtreibung sprechen können“.

„Einladung zum Perspektivwechsel“

Dennoch hat das Buch „Mehr als ein Zellhaufen“ nicht den Anspruch neutral zu sein, das macht Scherer schon in der Einführung deutlich. Es ist allerdings eine „Einladung zum Perspektivwechsel, sowohl auf kognitiver als auch emotionaler Ebene“ (S.15).

Scherer wünscht sich, dass durch ihr Buch eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Abtreibungsthema stattfindet und eine reflektierte Meinung gebildet werden kann.

In 14 Kapiteln bespricht Scherer Argumente, die ihr von Seiten der Abtreibungsbefürworter am häufigsten begegnen. Jedes Kapitel enthält eine Analyse des jeweiligen Arguments, beleuchtet es aus verschiedenen Perspektiven und gibt am Ende Tipps für einen gelingenden Diskurs.

Auf den restlichen 42 Seiten wirft Scherer einen kritischen Blick auf Argumente, die aus ihren eigenen Reihen stammen. Zudem bespricht sie die aktuelle Entwicklung in der Abtreibungsdebatte und stellt sich der Frage „Wo wollen wir hin?“.

Anstöße für einen respektvollen Diskurs

Egal auf welcher Seite man in der Abtreibungsdebatte steht, vielen Menschen geht sicher ähnlich wie Sabina Scherer, bevor sie sich öffentlich gegen Abtreibung eingesetzt hat. Der Diskurs rund um Lebensschutz und Abtreibung ist so hitzig und unschön, dass eine Beteiligung daran sehr herausfordernd wirkt – und deshalb oft abgelehnt wird.

„Mehr als ein Zellhaufen“ schafft es, den oftmals unschönen Diskurs auf ein respektvolles Level zu bringen. Immer wieder betont Scherer, dass ihr das Wohl des Kindes gleichermaßen am Herzen liegt, wie das der Mutter.

Wem das Thema Lebensschutz am Herzen liegt, sich aber für die Debatte nicht gerüstet fühlt, dem kann ich Sabina Scherers Buch wärmstens empfehlen. „Mehr als ein Zellhaufen“ kann zu der eigenen Meinungsbildung entscheidende Anstöße geben.

Hervorragende Grundlage für weitere Recherchen

Sowohl an ihren Argumentationen als auch am üppigen Quellenverzeichnis wird deutlich, dass Scherer sich tief in die Materie eingelesen hat. Ihre Vorarbeit bietet eine hervorragende Grundlage für weitere eigene Recherchen und schafft Vertrauen in ihre Arbeit und Argumente.

Das Thema Abtreibung war mir nicht fremd, bevor ich das Buch gelesen habe. Trotz meines Vorwissens habe ich viel Neues und Bereicherndes gelernt. Scherer hat mich nicht nur auf intellektueller, sondern auch auf empathischer Ebene inspiriert.

Besonders die Kapitel am Ende ihres Buches, in denen Scherer Selbstkritik beziehungsweise Kritik an der eigenen Bewegung übt, haben mich beeindruckt. Sie zeigen klar, dass Scherer für sich nicht den Absolutheitsanspruch erhebt, sondern vielmehr vorlebt, wie man offen, konstruktiv und diskutierfreudig bleibt.

Weder neutral noch subjektiv

Wer in „Mehr als ein Zellhaufen“ eine neutrale Betrachtung des Themas Abtreibung erwartet, wird hier nicht fündig. Diesen Anspruch erhebt Scherer aber auch nicht und gibt sich schon auf den ersten Seiten als eine Abtreibungsgegnerin zu erkennen.

Gleichsam hat Sabina Scherer nie am eigenen Leib erlebt, wie es ist durch eine Schwangerschaft in Not zu geraten oder eine Abtreibung ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Ihre Argumente und Standpunkte stammen also aus einer Beobachterperspektive. Sie bleibt trotzdem in ihren Argumenten einfühlsam, sachlich, und respektvoll.

Einander verstehen und im Gespräch bleiben

„Mehr als ein Zellhaufen“ richtet sich an alle, die die „Pro Life“-Position besser verstehen möchte. Das Buch bespricht und beleuchtet sowohl die Pro- und Contra-Argumente in der Abtreibungsdebatte intensiv. All das geschieht auf niederschwellige Art und Weise. So bietet das Buch einen leichten Einstieg in ein schwieriges Thema.

Dabei ist es nicht nötig, denselben Standpunkt zu vertreten wie Scherer. Besonders Vertreter der „Pro Choice“-Bewegung, die sich ernsthaft mit den Standpunkten ihrer Kontrahenten befassen möchten, sind mit Sabina Scherers Buch gut beraten. Denn sie versucht Antworten auf schwierige und umkämpfte Fragen zu finden.

Hast du dich schon eingehender mit dem Thema Abtreibung befasst? Wie stehst du zu dem aktuellen Diskurs über Abtreibung? Lass es uns gerne wissen!

Quelle: 6. SSW: Ab dieser Woche schlägt das Herz deines Babys! (9monate.de)

Autor/-in: Maria Dietz

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