16.05.2012 / Wort zum Tag

Matthäus 18,12

Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und eins unter ihnen sich verirrte: lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, geht hin und sucht das verirrte?

Matthäus 18,12

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„Ja, gewiss!“ ist die Antwort auf die Frage, die Jesus in diesem kurzen Gleichnis vom verlorenen Schaf stellt. Ja, gewiss geht der Mann dem verirrten Schaf nach und kehrt nicht eher zurück, als bis er’s gefunden und wohlbehalten in seinem Arm nach Hause getragen hat. „So ist euer Vater im Himmel!“ fügt Jesus im nächsten Satz hinzu. Das macht mir dies Gleichnis zu einem Schatz: „Gott geht verirrten Menschen nach, bis er sie gefunden hat!“
Im Matthäus-Evangelium heißt es: „Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und eins unter ihnen sich verirrte: lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, geht hin und sucht das verirrte?“ Zwar möchte ich nicht gern mit einem Schaf verglichen werden, aber in diesem Fall ist es mir Recht, denn Jesu Wort gibt mir die Gewissheit, dass Gott mich nicht verloren gehen lässt. Wenn ich in die Irre gehe, wenn ich seinen Weg für mein Leben aus dem Blick verloren habe und mich – in Gedanken oder durch mein Reden und Tun – von der Herde, meinen Geschwistern in der Gemeinde Jesu, entfernt habe, dann geht er mir nach und bringt mich wieder zurück an den Platz, den er für mich ausgesucht hat. Das gibt mir Ruhe und Gelassenheit. Mit so einem guten Hirten kann ich ruhig leben.

Im Zusammenhang des Evangeliums betrachtet aber wird das Gleichnis auch zur Herausforderung. Da kommen die Jünger eines Tages zu Jesus und fragen ihn, wer wohl der Größte im Himmelreich sei. Im Stillen denkt jeder von ihnen: „Ich, natürlich, weil ich viel tiefere Einsichten habe als die anderen, oder einen viel größeren Glauben, oder weil ich viel mehr für Jesus tue als die anderen! Das muss Jesus doch wissen.“ Erwartungsvoll schauen sie Jesus an. Der antwortet ihnen: „Wer sich selbst klein macht und wie ein Kind wird, der ist der Größte!“ Dann warnt Jesus die Jünger davor, Menschen, die im Glauben an Gott so schwach und jung sind wie Kinder, dazu zu verleiten, sich von ihm abzuwenden und in die Irre zu gehen. Von sich selbst sagt Jesus: „Ich bin gekommen, das zu retten, was verloren ist.“ Das Gleichnis vom verlorenen Schaf schließt diesen Teil des Gesprächs ab. „Jesus rettet verlorene Menschen“, sagt es, „indem er, der Herr, seine ganze Aufmerksamkeit ihnen widmet und keine Mühe scheut, ihnen nachzugehen, bis sie in Sicherheit sind.“
Beim Lesen stolpere ich über die Frage: Was hat der Stolz der Jünger, die jeder der Größte im Himmelreich sein wollen, damit zu tun, dass die Kleinen und Schwachen im Glauben in die Irre gehen? Jesus warnt seine Jünger: Euer Streben nach Ansehen und Einfluss in Gottes Reich schadet denen, deren Glauben noch ganz schwach und klein ist. Vielleicht ärgern sie sich über euer stolzes Gerede und sie wenden sich ab von Gottes Reich. Vielleicht beneiden sie euch und eifern euch nach anstatt ihrem Herrn nachzufolgen. So oder so, euer Geltungsbedürfnis führt sie in die Irre.
Diese kleine Begebenheit mit Jesus damals hält uns heute den Spiegel vor, besonders denen, die wie ich Verantwortung für Gemeinde tragen. Wünschen wir uns nicht im Grunde unseres Herzens auch Ansehen und Einfluss in Gottes Reich, in der Gemeinde Jesu, genauso wie die Jünger damals? Wenn wir ehrlich sind zu Jesus und zu uns selbst, erkennen wir, dass derselbe Wunsch, der die Jünger umtrieb, auch in uns nagt, manchmal mehr, manchmal weniger. Jesus mahnt uns, unserem Geltungsbedürfnis keinen Raum in unserem Leben zu geben, damit niemand zu Schaden kommt. Manchmal fällt es uns ganz schön schwer, uns so klein zu machen und anderen Menschen so zu dienen, wie Jesus es uns vorgelebt hat und von uns erwartet. Wie gut, zu wissen, dass er mir auch dann nachgeht und mich zurückholt, wenn mein Stolz mich in die Irre führt.

Autor/-in: Professor Dr. Jürgen von Hagen