12.05.2020 / Wort zum Tag

Man wird alt wie eine Kuh

Paulus schreibt: Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung, sodass ihr prüfen könnt, was das Beste sei.

Philipper 1,9-10

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Die Liebe ist das Wichtigste – das Herz aller Dinge. Paulus betet darum, dass unsere Liebe größer und tiefer wird. Dass sie eine Hilfe ist im Leben.

Die Liebe, nicht der Verstand! Eigentlich dachte ich, das sei der Verstand, der doch bitte reifen möge: zunehmen an Erkenntnis und Erfahrung. Sie kennen sicher den klugen Spruch: „Man wird alt wie eine Kuh und lernt immer noch dazu.“ Das bestätigen mir ältere Menschen: Ich sehe jetzt vieles anders, tiefsinniger, weniger oberflächlich - das ist schön! Je älter man wird, desto mehr denkt man an die klugen Sätze von der Großmutter; oft sind es Sprichwörter, Lebenserfahrungen: wie die Zeit im Alter immer schneller rennt; wie rätselhaft der Mensch ist; „kannsch immer nur dranluewe, net ninluewe“… Altersweisheit! So ist es!

„Altersweisheit“ - gibt es auch eine „Altersliebe“? Dass ältere Menschen auch barmherziger werden, liebevoller? Nun, ich kenne das auch anders: dass ältere Menschen im Gegenteil „schärfer“ urteilen, bitterer werden, schneller resignieren. Eben deswegen betet Paulus: Ich bete darum, dass eure Liebe reicher wird an Erkenntnis und Erfahrung – die Liebe wächst nicht automatisch mit den Jahren…

Sie kann aber wachsen, wenn ein Mensch sich von Jesus lieben lässt!

Ich mache Erfahrungen mit ihm – und das vertieft meine Liebe! Auch durch bittere Erkenntnisse wächst die Liebe. Ich denke daran, wie mich einmal die Erkenntnis durchfuhr: „Wenn ich auf der Kanzel stehe, dann müssen die anderen mir zuhören, endlich mal!“ Als jüngstes von neun Kindern haben mir die anderen eher nicht zugehört oder mich belächelt, weil ich ja nur „die Kleine“ war. O weh – sollte ich den Beruf der Pfarrerin gewählt haben, damit man mir zuhört? O weh – sind das geistliche Gründe???

Natürlich nicht, und ich möchte den Menschen ja die beste Botschaft der Welt weitergeben; aber ein bisschen mag das schon mitgespielt haben, dass ich die Jüngste war. Und zugleich durchfährt mich die Erkenntnis und lässt meine Augen feucht werden: und trotzdem gebraucht er mich?! Was für eine Liebe Jesu – dass er auch mit meinen Fehlern fertigwerden kann! Mit meinen „durchwachsenen Motiven“! Jesus macht ja die Hauptsache!

Früher wusste ich: Ja, ich soll missionarisch sein! Das ist die Aufgabe eines Christen! Jetzt wünsche ich mir mit dem Herzen, dass auch andere diesen Heiland Jesus kennenlernen, der so barmherzig ist! „Ich lag am Boden – du legtest dich zu mir“ heißt es in einem Lied; nicht nur: „Ich lag am Boden – du zogst mich heraus“, sondern: „du legtest dich zu mir, du kannst ganz tief verstehen, was ich fühle. Du urteilst nicht oberflächlich. Und du ziehst mich heraus…“

Ich denke an eine Frau, 65 Jahre verheiratet, ihr Mann ist dement und lebt im Pflegeheim 500 Meter weiter, es ging zuhause einfach nicht mehr; wie bitter! Und sie sagt: „Mein Herz hüpft noch immer, wenn ich ihn sehe.“

Eine Liebe, die alt und reif geworden ist. Das ist mehr als: „Ich liebe dich, weil du so hübsch bist und so gut Auto fahren kannst…“ Jesus ist mit uns doch nur belastet! –Wie oft mag er über mich schon die Augen gerollt haben, wenn ich mal wieder nicht kapiert habe, was jetzt gerade gut gewesen wäre – aus Eigensinn, oder mit meinem kleinen Horizont. Und trotzdem gibt er mich nicht auf! Was für eine tiefe, treue Liebe!

Ja, ich möchte prüfen, was das Beste sei… So tief möchte ich mit ihm verbunden sein, dass ich das erkenne und tue: das Beste für andere Menschen; das Beste für meinen Tag jetzt, das Beste für meine Gedanken…

Autor/-in: Pfarrerin Renate Schmidt