10.06.2020 / Kommentar

Keine staatlich verordnete Tracing-App

Kommentar zur Einführung einer App, die die Benutzer gegenseitig vor Corona-Infektionen warnen soll.

Eine sogenannte Tracing-App soll ihre Nutzer darüber aufklären, ob sie sich in der Nähe eines Corona-Infizierten aufgehalten haben, und somit die Verbreitung des Virus eindämmen – seit Wochen ist davon die Rede. Mitte Juni soll sie tatsächlich kommen, initiiert vom Bundesministerium für Gesundheit. Gesundheitsminister Jens Spahn hofft, dass die App von möglichst vielen Bundesbürgern heruntergeladen und angewendet wird. Zu der Verzögerung kam es, weil netzpolitische Organisationen schwere Sicherheitsbedenken wegen des Datenschutzes hatten. Diese Bedenken seien nun ausgeräumt. Andreas Odrich von der ERF Aktuell-Redaktion kommentiert.

Ich möchte keine Tracing-App. Schon gar nicht eine staatlich verordnete. Aber die soll auch gar nicht verordnet werden, denn dazu bräuchte es ein Gesetz, das erst den Bundestag passieren müsste. Jens Spahn setzt daher auf Freiwilligkeit, hofft aber, dass sich möglichst viele Bundesbürger dieser App bedienen und sie auf ihr Mobilfunkgerät herunterladen. Es wird abzuwarten sein, wie druckvoll die Werbung dafür ausfällt. Wird sie mich freundlich einladen, die App zu nutzen, oder wird sie mir suggestiv sehr, sehr nahelegen, dass ich die App doch gebrauchen sollte, um nicht schuldig an der Ausbreitung des Corona-Virus zu werden, und alle stigmatisieren, die die App nicht verwenden?

Proteste von Netzaktivisten hatten Erfolg

Um es klar zu stellen: Wir leben in einer Demokratie. Wir haben keine Verhältnisse wie in China oder Nordkorea. Von einem Überwachungsstaat dieser Couleur sind wir meilenweit entfernt. Trotzdem bin ich skeptisch gegenüber der Tracing-App. Denn nicht ohne Grund hatten netzpolitische Organisationen im Vorfeld gegen die App Alarm geschlagen. Ihre Kritik ist nachzulesen unter anderem auf der Homepage des Chaoscomputerclubs: Die Daten der App-Nutzer sollten zunächst allesamt zentral erfasst werden. Dazu gehörten das Bewegungsprofil eines jeden Nutzers und seine Corona-Infektionsdaten. Beides „hochsensible Daten“, wie die Netzaktivisten zu Recht kritisierten.

Ihre große Befürchtung: Dritte könnten sich dieser Daten bemächtigen und Schindluder damit betreiben. Die Politik reagierte. Bei der aktuellen App-Version werden die Daten nur noch dezentral auf den Handys der einzelnen Nutzer gespeichert. Dies wiederum hält der Chaoscomputerclub für „eine sehr gute Entscheidung“, wie es in einem Interview mit dem CCC auf tagesthemen.de dazu heißt.

Wie die Tracing-App funktioniert

Und so soll die App funktionieren: Ist sie aktiviert, dann verbindet sie sich per Bluetooth mit allen Geräten in meiner Nähe, die ebenfalls diese App installiert haben. Sollte jemand mit Corona infiziert sein und hat diese Information gespeichert, bekomme ich eine Nachricht, dass ich mich in Reichweite eines Corona-Infizierten aufgehalten habe. Über die Signalstärke wird dann auch noch erfasst, wie nahe ich demjenigen gekommen bin. Danach richtet sich dann die Corona-Warnstufe, die mir die App mitteilt. Das alles soll über sogenannte anonyme ID-Schlüssel gehen, Kurzzeit-Identifikationsnummern, die letztlich nichts über die Besitzer der Geräte preisgeben sollen.

Gibt es einen Gewöhnungseffekt durch die Hintertür?

Trotzdem bleibe ich skeptisch. Und deshalb werde ich mir sehr gut überlegen, ob ich die App nutze. Es geht mir um den Gewöhnungseffekt. Je mehr Menschen mitmachen, je größer werden die Begehrlichkeiten von anderer Seite. Und schon lägen Fragen wie diese nahe: Wenn wir doch schon eine Corona-App haben, wäre es dann nicht vernünftig, dies auf andere Krankheiten auszudehnen? Kommt nach der Corona- die Influenza-App? Und überhaupt - wäre es nicht vernünftig, auch noch andere Gesundheitsdaten zu speichern, selbstverständlich nur zu „unser aller Schutz“? Bis eines Tages eben doch auf Basis dieser Daten meine Krankenkassenbeiträge berechnet werden oder mein Gesundheitsprofil Bestandteil von Bewerbungsunterlagen bei der Berufswahl ist.

Alles Übertreibung? Wie gut, dass die Netzaktivisten reagiert haben und offenbar auch eine Programmierungs-Änderung an der App herbeiführen konnten. Ich frage mich, warum sie jetzt so zufrieden sind, und keine grundsätzliche Skepsis gegenüber der App bleibt.

Meine eigene Verantwortung zählt

Ich kann mich deshalb nicht selbst aus meiner eigenen Verantwortung entlassen. Und da erlebe ich unsere Smartphonegesellschaft und auch mich selbst als zwiegespalten. Jede Schrittzähler-App zeichnet meine Daten auf. Jede Fitness-App misst mir den Puls, und zurzeit ist es gerade en vogue, dass ich die genauen Verläufe meiner Fahrrad- und Joggingtouren „ganz privat“ in den sozialen Netzwerken online stelle. Diese Öffentlichkeit ist per se viel größer als die der jetzt konzipierten Tracing-App. Ich habe damit meine Daten allen möglichen Leuten und Institutionen frei Haus geliefert und ganz bestimmt nicht nur meinen ziemlich besten Freunden.

Was die Tracing-App bewirken soll

Gesundheitsminister Jens Spahn will niemanden dazu zwingen, die Tracing-App zu nutzen und setzt auf Freiwilligkeit – da muss man sicher genau hinschauen, ob das so bleibt. Denn Spahn ist eher ein Minister, der dazu neigt, Dinge per Gesetz festzuschreiben, z.B. mit seinem Gesetz zur doppelten Widerspruchspflicht bei der Organspende, das aber von der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten abgelehnt wurde. Zur App selbst, die schon in anderen Ländern existiert, gibt es eine Studie der Universität Oxford, die besagt, dass die Ausbreitung zu stoppen sei, wenn 60% der Bevölkerung die App benutzen, wie tagesthemen.de  im gleichen Beitrag berichtet. Ob das allerdings wirklich so sein wird, das wissen wir erst hinterher.

Jeder muss selbst entscheiden

Die christliche Ethik sagt, dass alles zum Wohle des einzelnen Menschen geschehen und jeder in Verantwortung vor Gott seinen Nächsten lieben soll, wie sich selbst. Ich habe die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob ich die Tracing-App verwende oder nicht. Viel wichtiger aber ist mir, dass ich mein Handeln nach der Frage ausrichte, welche Rücksicht für wen angebracht ist:

Hygieneregeln einhalten, auf Abstand zu bleiben, Maske tragen wo es angebracht ist, und nicht drängeln bei größeren Menschenmengen, in der U-Bahn und gar beim Fahrstuhlfahren; wenn ein Minister dabei ist, bitte zurücktreten. Rücksicht, Augenmaß und Gelassenheit sind dabei das höchste Gut. Nächste Woche soll die App veröffentlicht werden, und dann wird sich erweisen, wie druckvoll die Werbung dafür aufgebaut sein wird, und wie wir die App dann annehmen.

Autor/-in: Andreas Odrich

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